Die Wut dreht sich im Kreis
von Götz Eisenberg
Am Montag, dem 24. Januar 2022, ist in Heidelberg ein junger Mann in einen Hörsaal der Universität eingedrungen und hat dort auf Studierende geschossen. Eine junge Frau erlag wenig später ihren Verletzungen, drei Studierende wurden verletzt, befanden sich aber wohl nicht in Lebensgefahr. Anschließend suizidierte sich der mutmaßliche Täter vor dem Gebäude. Der 18-jährige junge Mann, der selbst Student gewesen sein soll, war polizeilich noch nie in Erscheinung getreten. Die beiden von ihm mitgeführten Waffen soll er kurz vor der Tat im Ausland erworben haben. Die Ermittler tappen auf der Suche nach den Motiven im Dunkeln.
Das ist bei Amokläufen fast immer der Fall. Obwohl fast jeder schon mal davon geträumt hat, Amok zu laufen, tun nach einer solchen Tat alle so, als stamme der Täter von einem fremden Stern. Beim Durchforsten der Biographie des Toten entdeckten die Ermittler Hinweise, dass er als Jugendlicher mit der Neonazipartei Der Dritte Weg in Verbindungen gestanden hat. Aber hilft das bei der Motivsuche wirklich weiter? Können wir uns im Sessel zurücklehnen und ausrufen: „Aha, das ist es also!“ Zwischen diesen jugendlichen Sympathien und den Schüssen im Hörsaal besteht kein kausaler Zusammenhang. Wahrscheinlich wird man auch diese Tat schließlich als die eines „psychisch gestörten Einzeltäters“ zu den Akten nehmen. Die landläufige Annahme, der Amokläufer bringe sich nach seiner Tat aus Schuldgefühlen darüber um, was er angerichtet habe, scheint falsch zu sein. Seine Morde sind nicht die Ursache für seinen Suizid, sondern seine Suizidabsichten sind die Ursache für seine Morde. Der Suizidant schafft es nicht, still und leise auf den Speicher zu gehen und sich aufzuhängen, sondern muss sich durch Morde in eine Lage bringen, die ihm keinen anderen Ausweg mehr lässt, als sich zu töten oder sich töten zu lassen. Erst jetzt – hinter sich verbrannte Erde und Leichen, vor sich die Polizei, in sich wachsende Panik – schafft er es, sich umzubringen.
Im Zentrum des Phänomens, für das sich der Begriff Amok eingebürgert hat, stoßen wir auf frei flottierenden, ungebundenen Hass. Amok und Terror werden die kriminelle Physiognomie des Zeitalters des globalen Kapitalismus prägen. Immer mehr Menschen haben „einen Hass“, ohne zu wissen, woher er kommt und worauf er sich richtet. Herrschaft ist abstrakt und anonym geworden und tarnt sich als Sachzwang. Der Klassenkampf wird nicht mehr geführt und scheint stillgestellt, das Proletariat, das designierte Subjekt der sozialen Revolution, ist verschwunden. Wem sollten wir heute die Schuld geben? Die fiesen, fetten Repräsentanten der herrschenden Klasse, die bei Brecht und Grosz noch auftauchten, sind weitgehend verschwunden oder an die Peripherie abgewandert, wo die Diktatoren hausen. Wir leben in einem Kapitalismus ohne Bourgeoisie; die Kapitalisten verschwinden, während die kapitalistische Produktionsweise fortexistiert. Diese wird von smarten Managern und Börsenmagnaten repräsentiert, die von Nachhaltigkeit reden, Yoga betreiben, blendend weiße Zähne haben und unentwegt lächeln. Aber das allgemeine Unglück existiert fort. Psychische und psychosomatische Erkrankungen schießen ins Kraut, Drogen- und Alkoholkonsum nehmen stetig zu, immer mehr Menschen greifen regelmäßig zu psychoaktiven Substanzen und regulieren ihre Gefühlszustände pharmakologisch. Die Einsamkeit ist endemisch, die Suizidrate hoch. Sie ist nach Emile Durkheim ein Seismograph für den Grad an Anomie, der in einer Gesellschaft herrscht. An einem Übermaß an Anomie, das heißt Normunsicherheit und Orientierungsverlust, können Menschen verzweifeln. Das rasante Tempo gesellschaftlicher Veränderungen bringt immer mehr Menschen in die Position von Hebbels Meister Anton, der „die Welt nicht mehr versteht“.
John Steinbeck hat in seinem im Jahr 1939 erschienenen Roman Früchte des Zorns das Schicksal der aggressiven Regungen angesichts der Unsichtbarkeit des Gegners bereits beschrieben. Das Land eines kleinen Pächters ist verkauft worden, sein Haus soll niedergerissen werden. Er greift zu seinem Gewehr und will den Mann erschießen, der sich seinem Haus mit einer Planierraupe nähert. Dieser verwickelt ihn in ein Gespräch, in dessen Verlauf er ihm klarmacht, dass er lediglich Befehle ausführt, dass, wenn er ihnen nicht Folge leistet, ein anderer an seiner Stelle das Zerstörungswerk fortsetzen wird. „Nun gut, dann sag mir, wer dir die Befehle gegeben hat, dann werde ich den erschießen.“ So einfach sei das nicht: Sein Boss habe den Befehl von der Bank, die Bank sei aber nur eine Filiale eines riesigen Imperiums, das seinen Hauptsitz im Osten habe. Schließlich sagt der Pächter: „Aber wo hört das denn auf? Wen können wir denn erschießen? Ich habe keine Lust zu verhungern, eh‘ ich den Mann umgebracht habe, der wo mich aushungert.“ – „Ich weiß es nicht. Vielleicht ist da überhaupt niemand zu erschießen. Vielleicht ist das Ganze überhaupt nicht von Menschen gemacht. Vielleicht ist wirklich, wie du sagst, die Besitzung selbst dran schuld. Jedenfalls habe ich dir gesagt, was für Befehle ich habe“, erwidert der Angestellte des neuen Landeigentümers. „Ich muss mir‘s überlegen“, sagt der Pächter.
Die Wut des Pächters angesichts seiner Enteignung und Vertreibung dreht sich im Kreis, er bleibt auf seinen Aggressionen sitzen. Man muss befürchten, dass sie sich gegen Frau und Kinder oder gegen die eigene Person richten werden. Heute hat sich die Situation des Pächters verallgemeinert, Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit sind universell verbreitet.
Das große „Arbeiterlegen“
Im Grunde ahnen oder spüren die Menschen heute, dass sie überflüssig sind oder es demnächst werden. Das, was man Digitalisierung nennt, wird sich als gigantisches „Arbeiterlegen“ (Helmut Reinicke) erweisen, die Wiederholung dessen, was Marx im Kontext der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ als „Bauernlegen“ beschrieben hat. Aus Bauern sollten damals Lohnarbeiter werden, heute werden diese zu Dienstleistern und Datenproduzenten – oder zu nichts. Das Kapital hat sich von der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft weitgehend emanzipiert und nullt, ohne den Umweg über die Produktion realer Dinge zu gehen, tautologisch vor sich hin. Geldströme zischen um die Erde. Das Finanzkapital ist der automatische Fetisch, die vor sich hin nullende Null, die Marx als logischen Endpunkt der Verselbständigung des Wertes begriffen hat. Die Menschen sind gehalten, das ihnen zur Verfügung stehende Geld auszugeben, Serien zu gucken, über ihre Smartphones zu wischen und dabei Daten zu hinterlassen, das ist alles. Das vage Gefühl der Überflüssigkeit ist der Kern der um sich greifenden Indifferenz. Die aus dieser Indifferenz rührende Leidenschaft ist der Hass, ein Hass, der ohne Gegenstand und ohne Bindung an ein Objekt ist. Bindungslosigkeit ist die sozialpsychologische Signatur des Zeitalters. „Wenn die Gewalt aus der Unterdrückung aufsteigt, dann der Hass aus der Entleerung“, sagte Jean Baudrillard.
Vandalismus und Wahnsinn
Die historische oder leidenschaftliche Gewalt hatte einen Gegenstand, einen Feind, einen Zweck. Der Hass hat keinen. Selbst der Klassenhass erscheint im Rückblick beinahe als eine bürgerlich-kleinbürgerliche Leidenschaft. In der glitzernden Welt des Konsums und der Netflix-Serien scheint Widerstand nur noch in Form des Vandalismus oder Wahnsinns möglich zu sein. Gegenwärtig kristallisiert sich der Hass an der und um die Impfung aus, die auch als Metapher für all das verstanden werden kann, was den Menschen von außen und oben angetan und zugefügt wird. Karl Lauterbach und eine Regierung, die im Nebel der Pandemie herumstochert, müssen für all das herhalten, worüber die Leute sich ärgern. Wenn eine staatliche Ordnung, die wir als Bedingung unseres Lebens vorfinden, Überleben und geschichtliche Errungenschaften nicht mehr zu sichern vermag und von keiner gemeinsamen Idee oder ideellem Interesse getragen und verbunden ist, büßt sie ihre Legitimität ein und wird verfallen. Angesichts des Mangels an emanzipatorischen Alternativen steht zu befürchten, dass es die Rechtsradikalen sein werden, die von der Selbstzerstörung der bürgerlichen Ordnung profitieren. Das hatten wir schon einmal.
aus: der Freitag, Nr. 5, 3. Februar 2022