Von der bürgerlichen Höflichkeit zur „political correctness“
von Ewgeniy Kasakow
Es gab eine Zeit, da waren die bürgerlichen Sekundärtugenden den Linken ein Gräuel. Wer 1968 im Westen rebellierte, dem galten die Etikette, die Regeln der Höflichkeit als Inbegriff des Verlogenen, des Repressiven, des Elitären der bürgerlichen Gesellschaft. Im provokanten Brechen der Regeln, im Übertreten der Grenzen sahen die Neuen Linken emanzipatorisches Potential und haben sich viel mehr als mit politischen Erfolgen mit skandalträchtigen Happenings in die Geschichte eingeschrieben. Den 68ern hängt der Ruf, der Totengräber der bürgerlichen Höflichkeit zu sein, bis heute nach. Es scheint manchmal jedoch, als hätten heute Linke und Rechte die Plätze getauscht. Die Ersten plädieren mit Berufung auf Achtsamkeit, Grenzen und Hierarchien (unter umgekehrten Vorzeichen) für mehr Sich-zurücknehmen. Die Zweiten klagen über Zensur und Übernormierung und pochen – oft in provokanter Form – auf individuelle Freiheit. Die Versuche, dieses scheinbare Paradox mit den inzwischen stattgefundenen Veränderungen in der Gesellschaft zu erklären, greifen zu kurz. Es ist nicht zu übersehen, dass die von den 68er-Rebellen propagierte Befreiung durch Abbau von Förmlichkeit Probleme mit sich brachte.
Ja, bürgerliche Höflichkeit ist unehrlich und repressiv. Aber es erwies sich, dass die Ehrlichkeit verletzend sein kann und Verzicht auf repressive Haltung zu den eigenen Bedürfnissen sich allzu schnell repressiv gegen die Bedürfnisse der anderen wendet. In denen war zumindest die symbolische Anerkennung des Subjektstatus ebendieser anderen angelegt. Über die traumatisierenden Versuche die antibürgerliche Unmittelbarkeit auszuleben ist schon so viel geschrieben worden, dass sich eine Wiederholung an dieser Stelle wie ein unnötiges Linken-Bashing anhören würde.
Bürgerliche Höflichkeit hatte jedoch ein ganz anderes Problem: Sie galt nicht für alle. Ihre schützende Wirkung erstreckte sich nicht auf alle Mitglieder der Gesellschaft. Bürgertum war ein Stand und die ständische Weltwahrnehmung war in den Benimmregeln von Anfang an angelegt. Anstandsregeln gegenüber feinen Damen galten nicht gegenüber Kellnerinnen im Bierzelt.
Wenn heute aber die Linken mit Neologismen wie „Lookism“ oder „Bodyshaming“ auf die Gesellschaft losgehen und meinen, ganz neue Themen entdeckt zu haben, so fordern sie häufig faktisch, die Normen des guten Tons auf alle anzuwenden. Dass es sich nicht gehört, das Aussehen anderer Leute öffentlich zu kommentieren, war auch ohne Aufkleber „Hör auf meinen Körper zu kommentieren“ oder ausgefeilten „intersectionalism“-Theorien den Trägern der bürgerlichen Verhaltensnormen klar, aber es galt eben nur für Personen auf den gleichen oder höheren sozialen Stufen.
Diese Linke baut die mit eigenen Händen abgerissenen „Schutzmauern“ wieder auf. Ihre Gegner könnten sich freuen, die Prinzipien der bürgerlichen Höflichkeit erwiesen sich, zumindest in der bürgerlichen Gesellschaft, als unverzichtbar und feiern ein Comeback. Doch die Nostalgiker sind unfähig, es zu erkennen.