Partiell oder generell?
von Franz Schandl
Der eigenen Logik gehorchend, waren restriktive Maßnahmen nur eine Frage der Zeit. Nun haben wir ihn also, den partiellen Lockdown für Ungeimpfte. Einmal mehr ist Österreich Avantgarde. Der eiass etwas geschehen musste, ist unbestritten. Doch die Spitäler sind weniger aufgrund von Corona überlastet als aufgrund der knapp gehaltenen Kapazitäten. Gerade einmal 100 Covid-Intensivpatienten in Wien lassen eigentlich keine apokalyptische Deutung zu. Und man hätte die Kliniken auch aufrüsten können, doch das hat man verabsäumt.
Für die Ungeimpften soll es „ungemütlich werden“, ließ Kanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) verlauten. Der Sündenbock ist gefunden und die eigentlich beklagte Polarisierung wird forsch vorangetrieben. Which side are you on? Der Ton wird rauer, selbst die Forderung nach Impflicht gewinnt an Schärfe und Brisanz. Was etwa an einer aktuell getesteten Ungeimpften gefährlicher sein sollte als an einem ungetesteten Geimpften, müsste man mal erklären. Außer schwarzer Pädagogik fällt den Regierenden wenig ein. Selbst für Geimpfte und Genesene gibt es eine Ablauffrist. Wenn sie sich nicht zeitgerecht boostern, werden sie in den Status der Ungeimpften zurückgereiht.
Wie wird der Teillockdown umgesetzt? Kann er überhaupt kontrolliert werden? Die Polizei möchte nicht so recht und spielt den Ball an die Gesundheitsbehörden zurück. Möglicherweise hat man etwas beschlossen, was gar nicht geht. Was dann? Am Montag und Dienstag dieser Woche waren im öffentlichen Raum jedenfalls kaum Änderungen wahrzunehmen. Kontaktbeschränkungen werden sich also in engeren Grenzen halten als projektiert. Erschwerend kommt hinzu, dass in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Verordnungen gelten, außerdem kollabierten diverse Teststationen. Die Inzidenzien werden vorerst kaum sinken. Die 3-G-Regel am Arbeitsplatz, d.h. die tägliche Testung für Ungeimpfte, wird noch mehr Infektionen aufdecken, ebenso die 2,5-G-Regel (geimpft oder genesen und zustätzlich PCR-getestet) für bestimmte Bereiche. Inzwischen werden Kinder von 5-11 Jahren schon geimpft, obwohl es noch keine Genehmigung dafür gibt. Weder in Europa noch in Österreich. Das wäre vor Monaten noch unvorstellbar gewesen. Man ist im Impffieber. Wer nicht an die Impfung glaubt, ist ein Staatsfeind.
Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) hatte weitere Verschärfungen (nächtliche Ausgangsbeschränkungen für alle) angedacht, scheiterte jedoch vorerst an seinem Koalitionspartner, der ÖVP, die vor allem auch die unmittelbaren Interessen der Wirtschaft im Auge hat. „Ich halte überhaupt nichts von den Wortmeldungen des Gesundheitsministers“, ließ Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger ihrem Kollegen ausrichten. Die Nerven liegen blank und das Koalitionsklima verschlechtert sich rasant. Trotzdem ist anzunehmen, dass es noch einmal zu einem strengen Lockdown kommen wird. Wenn Österreich die auf Zahlen fixierte europäische Öffentlichkeit nicht mit niedrigeren Werten beeindrucken kann, dann wird vor allem der immens wichtige Wintertourismus abermals unter die Räder kommen. Ein generelles Runterfahren des Betriebssystems ist wohl nur eine Frage von Tagen.
Politik ist jenseits aller Souveränität und Planung gelandet. Lavieren und Taktieren bestimmen das Geschäft. Regieren meint Reagieren. Die Frage, die sich stellt, ist weniger, was richtig oder falsch ist, sondern viel grundlegender: Kann man es überhaupt richtig machen? Das Virus bewegt sich völlig außerhalb aller Kriterien, die Politik tappt mit ihren Maßnahmen oft im Dunkeln. Auch die Wissenschaften (Plural!) liefern nur Hypothesen, deren Gehalt wir erst in mittlerer Zukunft erkennen werden. Die deutsche Ampelkoalition, die ähnliches plant, kann sich das österreichische Experiment anschauen, bevor sie genau dasselbe tut – oder doch etwas anderes.
P.S.: Gespannt darf man sein, ob der Terminus „Ungeimpfte“ nun zum Wort oder zum Unwort des Jahres 2021 avanciert.