Lockdown, Lockerung, Verlockung
von Franz Schandl
Hoffart war gestern, Verlockung ist heute. Zumindest versucht er es. Sebastian Kurz hat seine Taktik modifiziert, erstmals geht er auf die Opposition, insbesondere die SPÖ zu. Die Kurzsche ÖVP sitzt auch deswegen so fest im Sattel, weil gegen sie nicht regiert werden kann, und (allen Dementi zum Trotz) alle mit ihr regieren wollen. In der Asylfrage spielt sie etwa die FPÖ gegen die Grünen aus, insbesondere umgarnt sie in den letzten Wochen aber zunehmend die Sozialdemokraten, deren Großkoalitionäre wohl auch gegen einen fliegenden Regierungswechsel nichts einzuwenden hätten. Und dann sind da noch die Liberalen, eine Art ÖVP-light, die ebenfalls ihre Chancen wittern. Der Kanzler ist Optionsweltmeister, der notfalls die Partner wie die Unterhose wechselt. Kurz ist da ganz offen, er nimmt alle. Nur eine Alleinregierung wäre ihm noch lieber.
Die Grünen geraten dadurch zusehends unter Druck. Ausgelöst durch die brutale Abschiebung zweier Schülerinnen samt ihren Familien nach Georgien und Armenien, haben sich die Differenzen zu einer veritablen Koalitionskrise zugespitzt. Puncto humanes Bleiberecht wird es aber kaum je einen Konsens geben. Vizekanzler Kogler und die Seinen mögen protestieren, auszurichten vermögen sie nichts. Einerseits können sie nicht immer nur zuschauen und nachgeben, andererseits wollen sie die Koalition auf keinen Fall verlassen. So zappeln sie im Bündnis. Letzte Woche wurden sie von der ÖVP als auch der Opposition regelrecht vorgeführt. Zusätzlich gab es kiloweise Hohn und Häme aus diversen Medien.
In Sachen Pandemie sind Sebastian Kurz und sein grüner Gesundheitsminister Rudi Anschober Getriebene. Anschober ist das auch anzumerken, Kurz hingegen simuliert den Macher, und das weiterhin erfolgreich. Sie wissen zwar nicht so recht, was sie tun, aber dass sie was tun müssen, das wissen sie. So tun sie und verkaufen das unmittelbar Verkündete stets als der Weisheit letzten Schluss, mögen sie gestern auch noch ganz andres geredet haben.
Seit Montag wird der Lockdown nun gelockert, Geschäfte dürfen wieder öffnen, und auch zum Friseur, ins Nagelstudio und ins Museum darf man gehen. Restaurants bleiben aber weiterhin geschlossen, ebenso wird es keine Kultur- und Sportveranstaltungen mit Publikum geben. Schon vorher wurde eine FFP2-Maskenpflicht eingeführt, auch wenn die EU-Agentur ECDC (Europäisches Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten) FFP2-Masken im Vergleich zu anderem Mundschutz für wenig sinnvoll hält und auf Kosten und Nachteile verweist. Man kann wiederum aber auch nicht sagen, dass es sich hier um klassische Fehlentscheidungen handelt. Die Bedingungen, fundierte Beschlüsse zu fassen, sind begrenzter, als man meint.
Hoch im Kurs stehen zur Zeit die berufenen Experten, d.h. eine vorselektierte Sorte von Virologen und Epidemiologen, Mathematikern und Statistikern. Sie beherrschen das öffentliche Bild. Dabei handelt es sich um Personen, die von den Einschränkungen kaum betroffen sind, aber manch anderen Auflagen zumuten, die diese auf Dauer weder aushalten noch durchhalten. Am Rechner werden quasi im Großversuch Maßnahmen entworfen, die der Alltagsroutine vielfach widersprechen. Ihre Praktikabilität hat soziale Grenzen. Die Aufhebung des letzten Lockdowns vollzog sich daher auch schon vorab ohne politische Genehmigung, man brauchte nur durch Wien zu laufen (was man bislang eigentlich nur sehr begrenzt durfte), um das festzustellen. Die Verriegelung des öffentlichen Raums ist porös. Die Regierung hat wohl nachgeben müssen, wollte sie von der Macht der Wirklichkeit nicht blamiert werden. Nach den propagierten Kriterien hätte man Anfang dieser Woche aufgrund der Häufung der südafrikanischen Coronavirus-Mutation Tirol in Quarantäne schicken müssen. Man traute sich nicht. In der ersten Runde siegten die regionalen Fürsten. Ischgl zum Trotz. Erst mühsam konnten Maßnahmen gesetzt werden, zur Zeit gilt eine Reisewarnung für Tirol.
Die praktizierte Skepsis in der Bevölkerung ist insgesamt recht hoch, daher muss sie auch mit allen Mitteln der Reklame traktiert werden. Besonders sieht man das an den flächendeckenden Impfkampagnen. Die Erzeugung von Angst ist ein probates Mittel der Seuchenpolitik. Die Debatte ist durch das Dekret ersetzt worden: gemeinhin verständigt man sich auf die Anrufung von Fakten. Zahlen, Daten, Fakten sind indes nicht einfach gesetzt, sondern werden geschaffen, sie sind keine objektiven Tatsachen, sondern werden prozessual ermittelt. Dass gänzlich unterschiedliche Fälle summiert unter sinnwidrigen Kategorien wie Infizierte oder Genesene firmieren, spricht Bände – Märchenbände. Dass es die Fakten nicht gibt und ebenso wenig die Wissenschaft, ist in Vergessenheit geraten oder wird inzwischen unter Verschwörungstheorie gelistet.
Dem gängigen Vorurteil zum Trotz: Fakten sprechen nicht für sich, Fakten werden gesprochen. Die Faktenhuberei, das ledige Starren auf Statistiken, Tabellen und Diagramme, hat inhaltliches Denken und Argumentieren weitgehend abgelöst. Es geht um Zahlen, nicht um Menschen, um Auslastungen, nicht um Belastungen. Auch Pamela Rendi-Wagner, die SPÖ-Vorsitzende, eine gelernte Epidemiologin, macht in den letzten Tagen die Scharfmacherin. „Das geben die Zahlen nicht her“, lautet (nicht nur) ihr Standardsatz, um die aktuellen Lockerungen der schwarz-grünen Regierung prophylaktisch zu kritisieren.
Augenblicklich ist man so fixiert auf das Virus, dass man die überbordenden Kollateralschäden gar nicht adäquat wahrnimmt. Es herrscht Verdrängung. Wir sitzen plattgewalzt vor der Mattscheibe und lassen Daten in uns reinprasseln. Die Grippe ist aus Verärgerung fast ausgestorben. Corona, es sagt schon der Name, ist zur Königskrankheit geworden. Alles andere ist von mäßiger Bedeutung. Die Gefahr an Covid 19 zu versterben ist allerdings um vieles geringer als anderweitig letalen Schaden zu nehmen. Mortalität ist keine Frage der Infektion, sondern eine der Konstitution.
Corona – Ja oder nein?, das ist hier die exklusive und exkludierende Frage. Dass die meisten anderen Krankheiten im Lockdown schlechter versorgt werden, geht trotz zahlreicher Beschwerden in diesem realen Ausnahmeszenario unter. Jetzt krank zu werden, ist doppelt unlustig. Ausbaden müssen das jene, deren Operationstermine verschoben, die von Spitälern abgewiesen oder von Ärzten vertröstet werden. In Angst versetzte Patienten fürchten sich, entsprechende medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Psychische Belastungen und mentale Dilemmata nehmen überproportional zu. Manche geraten an ihr Limit. Nicht wegen Corona, sondern aufgrund der Maßnahmen gegen Corona. Noch größere Wirkungen als die Wirkungen entfalten die Nebenwirkungen.