Isolation und Assimilierung
von Emmerich Nyikos
1.
„Bürger“? Was ist mit diesem Ausdruck gemeint? Zweierlei: Man kann darunter sowohl citoyen als auch bourgeois verstehen; zwei Begriffe, die sich eine Ausdrucksform teilen und so Gefahr laufen können, nicht fein säuberlich auseinandergehalten zu werden. Der Unterschied zwischen „Bürger“ und „Bürger“ springt indessen sofort in die Augen, wenn wir die Sache selbst in Augenschein nehmen, und er ist zudem trivial, ist doch der Wahlberechtigte in einem parlamentarischen Regime nicht unbedingt auch Hauptaktionär eines transnationalen Konzerns. Und in der Tat, das eine ist vom anderen klar unterschieden, was alleine schon dadurch sinnfällig wird, dass manche Sprachen, wie etwa das Französische, diese Begriffsmelange so wie im Deutschen nicht kennen. Indessen, was verschieden ist, kann sich aufeinander beziehen und es kann in mancher Hinsicht auch mit der Zeit konvergieren. Und dies ist tatsächlich der Fall, wie wir noch aufzeigen werden.
2.
Die bürgerliche Gesellschaft ist, wie jedes Kind weiß, eine Warengesellschaft: Man kauft und verkauft, das ist ihre Essenz. Ihr Zusammenhang wird, was ihren Begriff anbelangt – die platonische Idee, ihr reines Modell –, mithin exklusiv über den Austausch vermittelt.
Nun ist der Austausch von Waren jedoch ohne die Gleichheit der Warensubjekte nicht denkbar. Sie müssen sich im Austauschprozess und im Hinblick auf diesen als Gleiche gegenübertreten, als Besitzer von Waren sowie als wechselnder Ausgangs- und Endpunkt von Geld, deren übrige Qualitäten nicht zählen und daher, wenn es um den Austauschakt geht, als vernachlässigbar in den Hintergrund treten.
Je mehr demnach ausgetauscht wird, je mehr der Austausch die gesellschaftliche Sphäre beherrscht, desto mehr verlieren diese Qualitäten im Bereich des gesellschaftlichen Kontakts an Bedeutung, um schließlich ganz zu verschwinden oder nur als Karikatur ihrer selbst ein Schattendasein zu fristen (wie etwa das monarchisch-aristokratische Brimborium dort, wo es noch Fassaden dieser Art gibt). Was bleibt, ist die Ware oder ihr verwandeltes Dasein als Geld, das, weil es, völlig abstrakt, nur als Quantität existiert, die Gleichheit der Warensubjekte als solche begründet oder genauer: eine Gleichheit postuliert, die nur den quantitativen Unterschied kennt. Das Geld macht alle Transakteure miteinander kompatibel, wie groß die Differenz in ihrer Lebenssituation sonst immer auch sein mag. Der Hoflieferant steht mit dem König, der Zeitungsverkäufer mit dem Vorstandschef eines Konzerns, der das Wall Street Journal von ihm auf der Straße erwirbt, im Hinblick auf die Transaktion prinzipiell auf gleichem Fuße.
3.
Eine Warengesellschaft kann nur dann funktionieren, wenn sich die Waren-Subjekte im Austauschakt als Gleiche begegnen, was impliziert, dass sie voneinander nicht abhängig sind. Zwischen der Dorfgemeinde und dem Despoten, zwischen dem Sklaven und dem Latifundieneigner, zwischen dem Hörigen und dem Grundherrn kann es keinen Austausch geben, zumindest dann nicht, wenn man diesen Ausdruck nicht in einem verwaschenen ethnologischen Sinne verwendet. Wie auch soll ein Hintersasse sein Produkt an seinen feudalen Herrn verkaufen können, wenn dieser in der Lage ist, sich dieses Produkt tout court in der Form der Rente in natura anzueignen?
Dort, wo sich die Warengesellschaft mit der Zeit etabliert – und sie etabliert sich da, wo das Geld aufgrund besonderer historischer Prämissen zum Angelpunkt werden kann, um den sich die Welt dreht –, wird also auch die formale Gleichheit de facto gesetzt. Das liegt in der Logik der Sache und ist unabhängig von jeglichem Gedankenprozess. Man wird sich dessen in der Tat historisch erst post factum bewusst. Auch hier beginnt die Eule der Minerva also erst ihren Flug, wenn die Dämmerung schon eingesetzt hat.
4.
Nun wissen wir, dass die Warengesellschaft sans phrase in den burgi der feudalen Epoche ihren Ausgangspunkt nahm: Ursprünglich war dieses im Grunde extra-feudale Gebilde, im Raum eng begrenzt, der Rahmen für eine Körperschaft (einen „Schwurverband“) von Handwerkern und vor allem von Händlern – den aktiven Demiurgen des Austauschs. Es überrascht daher nicht, dass der Name ihrer Siedlungsform auf ihre gesellschaftliche Funktion übertragen wurde: Bourgeois meinte somit den Warenagenten, im Speziellen den Händler, den Repräsentanten der proto-kapitalistischen Formel G-W-G‘, wobei das W zu dieser Zeit natürlich noch nicht den Produktionsprozess implizierte.
In dem Maße nun, in dem diese Bourgeoisie (oder, wenn man genauer sein will: diese Proto-Bourgeoisie) den Warenaustausch intensivierte – und sie tat dies am Anfang, ab dem Jahrtausend, in Abhängigkeit vom Bedarf der Kastellane oder seigneurs (den domini oder Chefs quasi unabhängiger „Staaten“ en miniature), die, in einer Situation der verschärften Konkurrenz untereinander, als Folge der staatlichen Zersplitterung am Ende der karolingischen Ära, die Kohäsion ihrer militärischen Gefolgschaft durch ostentative Verschwendung, Geschenke und Feste, zu sichern versuchten –, in dem Maße drang das Geld in die Poren der Feudalgesellschaft ein, um sie von innen her allmählich aufzulösen. Anstatt Vasallen engagierte der Fürst, der aus dem Konkurrenzkampf der seigneurs als Sieger hervorgehen sollte, nunmehr, weil dies viel effektiver war, Söldner – und zwar mit dem Geld, das er in der Form von Steuern aus der Gesellschaft absorbierte (die taille, dazu Marktgebühren und Zölle) –, und der Hufenbauer zahlte dem Grundherrn seine Rente in Geld, nachdem er sein Getreide, seine Schweine und sein Geflügel auf dem städtischen Marktplatz oder bei einem vorbeiziehenden Händler abgesetzt hatte.
So wird die Gesellschaft nach und nach zu einer Warengesellschaft, insbesondere im Anschluss an die koloniale Expansion seit Colón und Da Gama, die den Austausch von Waren enorm – und zwar eben auf globalem Niveau – vorantreiben sollte: Sie wird, was sie noch heute ist – bürgerlich in ihrer Substanz.
5.
Das Geld als das dominierende Mittel der gesellschaftlichen Prozesse löscht mit der Zeit dann auch alle Unterschiede aus, die sich jenseits der monetären Quantitäten (und der Produktionsverhältnisse) finden: Stand, Rang, Privilegien und was man dergleichen noch an formalen Distinktionen vorfinden konnte, versinken, zusammen mit der persönlichen Abhängigkeit, für immer im Nichts – sei es, dass sie von alleine entschlafen, sei es, dass durch Aktionen turbulenter Natur (Levellers in England und Sansculotten in Frankreich) ein wenig nachgeholfen wird, sei es, dass sie im Hegel’schen Sinne unwirklich werden, auch wenn sie, schon längst tot, als Schatten ihrer selbst noch weiterfortexistieren –, so dass im öffentlichen Bereich, in der res publica, am Ende alle nur mehr Bürger sind: citoyens, Mitglied einer civitas, also im Grunde des Staates, der von nun an direkt und nicht mehr durch Zwischengewalten vermittelt (durch Grundherrschaften und Stände) den Subjekten gegenübertritt, die eben dadurch sich zu „Staatsbürgern“ mausern.
Das darf uns nicht wundern: Da die reale Macht jetzt nämlich beim Geld und nirgendwo sonst liegt – es lässt sich alles kaufen, selbst das Adelsprädikat –, erweisen sich die formalen Unterschiede (für die Klasse der Bourgeoisie) als nicht mehr akzeptabel. Ganz zu schweigen davon, dass sie jetzt auch unbrauchbar sind: Sie sind unsinnig geworden, ja im Grunde kontraproduktiv. Man kann sie getrost auf dem Misthaufen der Geschichte entsorgen. Es genügt für alles das Geld, so dass es nichts brächte, die formelle Ungleichheit im öffentlichen Raum weiterhin beizubehalten. Sie geht daher den Weg allen Fleisches.
Das Geld befördert somit in letzter Konsequenz den Untertanen zum „Bürger“, es mach ihn zum citoyen. Die logische Konsequenz all dessen ist dann, dass schlussendlich auch alle, die über Staatsbürgerschaften verfügen, auf gleichem Fuße an Wahlen teilnehmen und gewählt werden dürfen. Dies macht für alle sinnfällig und sichtbar, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die „Gleichheit der Bürger“ durchgesetzt ist. Zudem ist es die Basis der Illusion, dass der demos regiert.
6.
Es ist indes klar oder sollte es sein, dass die Gleichheit bürgerlicher Provenienz rein formaler Natur ist und dass sie, als eine formale, die ebendeswegen allen einsichtig ist, den Unterschied zwischen den „Bürgern“ im Hinblick auf die fundamentale Spaltung der Gesellschaft in Klassen (und damit ihren Modus operandi) verdeckt: Die einen sind Kapitaleigentümer, während die anderen nur die Besitzer ihrer Arbeitskraft sind, die sie den Kapitalagenten verkaufen. Das Geld vermag zwar die formale Ungleichheit der Akteure auszulöschen, die reale der Klassenstruktur bleibt hingegen bestehen – wenn auch in verwandelter Form, insofern das Geld die Metamorphose zum Kapital als einer die Produktion beherrschenden Macht durchgemacht und so neue Klassenverhältnisse hervorgebracht hat.
Die „Gleichheit“ der citoyens fungiert dabei als eine Fassade in der Form der „Nation“, hinter der sich die Spaltung in Klassen verbirgt: Sie verdunkelt die Sache und vermag so etwas wie eine Gemeinschaft vorzugaukeln, die dann, wenn es nötig sein sollte, ganz leicht „völkisch“ interpretiert werden kann.
7.
Jenseits der Sphäre des Austauschs indes, und ebendeshalb, weil das Kapital die Produktion sich nach und nach einverleibt hat, wobei die Formel G-W-G‘ sich direkt dieser Sphäre bemächtigt, findet sich in der klassischen Ära des bürgerlichen Gesellschaftssystems ein anderer Modus des Zusammenhangs der Subjekte: die Kooperation auf großer Stufenleiter in der Großen Fabrik. Aus ihr ist der Austausch verbannt, res non grata, das Zusammenwirken erfolgt vielmehr auf der Basis gebrauchswertmäßiger, rationaler Berechnung, und kann auch gar nicht anders erfolgen.
Die Kooperation nun der Arbeitermassen in der Großen Fabrik, ihre disziplinierte Zusammenarbeit, erzwungen zudem durch die Maschinerie, formt aus ihnen ganz natürlich einen interagierenden „Körper“, ein produktives Kollektiv, dessen Agieren als ein gebrauchswertbedingtes die Basis dafür ist, dass sich dieses Kollektiv seiner selbst (als eines solchen jenseits des Tauschwerts) bewusst werden kann und dann auch abseits der produktiven Prozesse als ein solches, als ein bewusstes, agiert. Die Kooperation setzt sich fort, wird transponiert auf die Ebene organisatorischer Strukturen, innerhalb und dann auch außerhalb der Fabriketablissements. Die „Klasse an sich“ verwandelt sich in eine „Klasse für sich“ – oder kann zu einer solchen wenigstens werden, sofern und sobald sie sich mit theoretischem Denken verbindet: mit der Kritik des Systems des Kapitals, d.h. der bürgerlichen Gesellschaft, die selbst wiederum nur die Reflexion der Kritik des Systems an sich selbst ist. Diese Verbindung kann aber insofern leicht hergestellt werden, als durch das spontane Bewusstsein, ein nicht in Tauschwertform konstituiertes Ensemble zu sein, schon die Grundlagen dafür gelegt worden sind.
Das ist vom Standpunkt dieser Gesellschaft natürlich ein wahrer Skandal, der nicht zu dulden ist. Das Subjekt hat Warenagent und allenfalls „Bürger“ zu sein, was darüber hinausgeht, ist für die Gesellschaft (bürgerlichen Zuschnitts) von Übel. Man hat daher auch alles unternommen, nichts blieb unversucht, um dieses „Übel“ auszurotten, das freilich, dies sei zugestanden, sehr oft das Niveau seiner „Idee“ nicht erreicht hat. Gefruchtet allerdings haben diese „Maßnahmen“ nicht oder nur zeitweilig und keineswegs definitiv.
8.
Der „Skandal“ verschwand hingegen ganz von alleine. Denn einerseits wurde die Klasse, konstituiert als „Klasse für sich“, während der langen Prosperitäts- und Stabilitätsperiode des Kapitalsystems, die nach 1945 eingesetzt hatte, „moralisch“ korrumpiert oder genauer: die Umstände, die sich änderten – die relative Sicherheit der Lebenslage, das welfare-System,die Löhne, die einen bescheidenen „Luxus“ erlaubten, der Konsum als Kompensation für den Verlust an Lebenssubstanz im Arbeitsprozess, die Arbeitszeitverkürzung (mit Bezug auf den Tag, die Woche und das Jahr), die den Schwerpunkt der Lebenszeit von der Fabrik in die Freizeit verschob –, all das machte mit der Zeit organisiertes Handeln obsolet und unterminierte zugleich die Basis dieses Handelns: die Fabrik als Lebenszentrum, die als ein solches dem Privatraum nach und nach wich, so dass sich die „Klasse für sich“ in eine „Klasse an sich“ in einem quälend langen Prozess zurücktransformierte. Die Fragmentierung und Atomisierung der bürgerlichen Gesellschaft, die mit dem Austausch begann, finden hier definitiv ihren Abschluss – zurück bleibt ein Konglomerat von Subjekten, deren Zusammenhang sich völlig ihrer Kontrolle entzieht.
Andererseits aber, und dies kommt strafverschärfend hinzu, führt die Logik kapitalistischer Produktion ganz zwanglos dazu, dass diese Klasse nicht nur „moralisch“, sondern letzten Endes auch „physisch“ verdampft: Die Produktion eines Extramehrwerts, notwendige Bedingung für das Überleben als aparte Kapitalentität in der Konkurrenz der Kapitale gegeneinander, setzt voraus, dass das Produktivkraftniveau ständig steigt. Dies führt jedoch, sobald die Wissenschaft von der Produktion annektiert worden ist, unvermeidlich dazu, dass am Schluss die gesamte Produktion automatisiert worden sein wird. Digitalisierung und Robotisierung machen der Arbeitskraft als Faktor der Produktion (im Sinne des Stoffwechsels mit der Natur) unbarmherzig den Garaus. Auch die „Klasse an sich“ ist daher im Begriff zu verschwinden und mit ihr die objektive Basis eines Zusammenhangs, der seinen Ort jenseits des Austauschakts hat. Was bleibt, sind Tätigkeiten, die man am besten im Homeoffice erledigen kann, wie es uns vor kurzem erst vor Augen geführt worden ist. Die Fragmentierung und Atomisierung finden hier ihren augenfälligsten Ausdruck.
Es überrascht im Übrigen nicht – denn der Mensch ist ein Herdenwesen, ob er will oder nicht –, dass man diese Fragmentierung seit geraumer Zeit durch „identitäre“ Fiktionen zu kompensieren versucht (Geschlecht, sexuelle Orientierung, „Ethnie“, „Rasse“, Glaube und Kult und was es dergleichen noch mehr geben mag) – durch eine imaginierte Gemeinschaft mithin, deren Zement vorzugsweise der „Opferstatus“ ist, völlig jenseits der Funktionsweise der gegebenen Ordnung, d.h. ihres zentralen organisatorischen Prinzips, das nach wie vor das des Kapitals, des Privateigentums an den Produktionsmitteln, ist, ganz ohne Bezug also zu diesem, was dann auch auf lange Sicht garantiert, dass die bürgerliche Gesellschaft mit all ihren Korollarien das bleibt, was sie ist.
9.
Durch all dies findet sich das Subjekt, das nicht zugleich bourgeois ist, in konsequenter Entsprechung zu seinem Status als Austauschakteur an der Basis des Alltags, im öffentlichen Raum auf sein Dasein als citoyen reduziert. Mehr ist es dort nicht, es ist nur mehr ein „Bürger“. Als solcher aber ist er oder sie nicht weniger isoliert und fragmentiert, als er oder sie es schon als Gesellschaftsatom, als ein Partikel ist, das keinen Zusammenhang mehr jenseits des Austauschakts kennt – isoliert und fragmentiert also auch in der Form des citoyen, da das Handeln als ein solcher sich im Wesentlichen auf die Stimmabgabe in einer Wahlkabine beschränkt. Isolierter als dort kann man nicht sein.
Das heißt aber auch: Beraubt allen Zusammenhangs ist der „Bürger“ (citoyen) in derselben Situation wie der „Bürger“ (bourgeois), der oder dessen Kapitalentität in der Konkurrenz mit dem Rest der Kapitale im Prinzip völlig alleinsteht. Und so agiert er dann auch. Isoliert und atomisiert, wie er ist, übernimmt er das Denk- und Verhaltensschema, das dem bourgeois wesenseigen ist. Und vor allem: Sein Denken und Handeln ist notwendigerweise so wie das der Kapitalakteure borniert – und aus denselben Gründen.
„Die einzelnen, Produktion und Austausch beherrschenden Kapitalisten“, schrieb Friedrich Engels, „können sich nur um den unmittelbarsten Nutzeffekt ihrer Handlungen kümmern. Ja selbst dieser Nutzeffekt – soweit es sich um den Nutzen des erzeugten oder ausgetauschten Artikels handelt – tritt vollständig in den Hintergrund; der beim Verkauf zu erzielende Profit wird die einzige Triebfeder. (…) Wo einzelne Kapitalisten um des unmittelbaren Profits willen produzieren und austauschen, können in erster Linie nur die nächsten, unmittelbarsten Resultate in Betracht kommen. Wenn der einzelne Fabrikant oder Kaufmann die fabrizierte oder eingekaufte Ware nur mit dem üblichen Profitchen verkauft, so ist er zufrieden, und es kümmert ihn nicht, was nachher aus der Ware und deren Käufer wird. Ebenso mit den natürlichen Wirkungen derselben Handlungen.“ (Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, MEW 20:456)
Diese Borniertheit erwächst ganz natürlich aus der Isolation der Kapitalentitäten, dem Privateigentum. Isoliert wie sie sind, ist es ihnen gar nicht möglich, anderes in Betracht zu ziehen als den unmittelbaren Profit – nicht einmal den Profit irgendwann in der Zukunft, sofern man nicht über eine monopolistische Stellung verfügt, von allem anderen einmal ganz abgesehen –, denn würden sie es tun, so stünde ihre Existenz als apartes Kapital auf dem Spiel. Was zählt, ist der Profit hier und jetzt, und wo dieser ausbleibt, gibt es kein Überleben. Das wäre so, als hörte man auf zu essen, um das Geld für später zu sparen, wo man statt Kartoffeln dann Kaviar serviert bekommt. Bis dahin ist man aber verhungert. Man ist demgemäß auf den Augenblick fixiert, auf den Punkt der Gegenwart, der, der Natur der Sache nach, immer ein wenig zeitversetzt ist. Diese Momente, die „Gegenwarten“, die eine nach der andern aufeinanderfolgen, kennen kein Vorher und Nachher, es sei denn, das der Rate des Profits – und nur im Hinblick darauf wird geplant, sobald man sich in der glücklichen Lage befindet, monopolistisch abgesichert zu sein. Und das sind nur ganz wenige Kapitalentitäten. Planung indessen mit Bezug auf das Ganze ist in einer Gesellschaft, die von aparten Kapitalen beherrscht wird, schlechterdings ausgeschlossen. Die bürgerliche Gesellschaft agiert daher auch spontan, d.h. „planlos“ – ein Vorgehen, das, wenn es um Personen geht, zu Recht als irrational und konfus bloßgestellt wird.
Philosophisch wird diese Fixierung auf den Moment, by the way, durch den post-modernen Diskurs reflektiert, dessen Maxime, wie Heiner Müller sagt, der Spruch des Dr. Faustus ist: „Verweile doch, du bist so schön!“ Die Vermutung steht hier im Raum, dass das Hohe Denken wohl auch nur ein Reflex der profanen Dingwelt ist.
Aber nicht nur in prospektiver Hinsicht, entlang des Zeitpfeils mithin, sind die Kapitalagenten beschränkt; sie sind es auch kontextuell. Die Isolation, das Privateigentum, wirft sie zurück auf ihr Ego: Die Egozentrik ist daher ihr beherrschender Zug. Wo aber nur das Ego zählt, da verengt sich der Blick. Man verliert den Sinn für den Kontext. Man agiert, als ob es die Welt da draußen nicht gäbe. Was nicht unmittelbar auf den Profit bezogen ist, blendet man aus. So etwa produzieren Pharma-Firmen zur Zeit auf Teufel komm’ raus Impfstoffe für die gesamte Population des Planeten, unabhängig davon, ob das Virus, gegen das sich die Impfung richten soll, überhaupt irgendeinen Impact hat jenseits von Risikogruppen, sofern nur garantiert ist, dass man die Impfdosen dann auch mit schönen Profiten absetzen kann.
Das alles schlägt durch auf das Denken: Die Eindimensionalität bemächtigt sich des Räsonnements, Zusammenhänge werden ignoriert, desgleichen der Prozesscharakter, das Werden, das Denken wird linear und mechanisch. Das Absolute triumphiert über die Relationen. Über die Rate des Profits kommt man hier nicht hinaus.
10.
All das findet sich wieder im „Bürger communis“, ein Subjekt, dessen Lage als citoyen in der res publica der des Austauschatoms an der Basis des profanen Lebens entspricht. Und als ein solches Subjekt reproduziert es die Denk- und Verhaltensweisen, die für den bourgeois typisch sind (oder, wenn man so will: typisch für dessen Funktion im gesellschaftlichen Gefüge). Denn seine conditio humana ist nunmehr dieselbe: die Isolation, die Fragmentierung und Atomisierung in allen Dimensionen. Bourgeois und citoyen konvergieren, was den Umstand freilich nicht aufheben kann, dass der Modus operandi des Systems des Kapitals nach wie vor impliziert, dass sich diese Gesellschaft als Klassengesellschaft geriert (in Bastardform allerdings, da die „produzierende Klasse“ allmählich, wie wir sahen, verschwindet). Es petrifiziert diese vielmehr.
Das heißt mit anderen Worten: Insofern als die Gleichheit der Bürger im Staat notwendigerweise die Ungleichheit in der „bürgerlichen Gesellschaft“ (im Sinne von Hegel) zur Voraussetzung hat – den Umstand, dass der Produktionsapparat sich in der Hand einer Klasse privater Akteure befindet –, ist der citoyen, der nicht zugleich bourgeois ist, im Grunde ein Nichts. Ohne die Vorteile zu teilen, teilt man nur die Bedingungen dafür, dass sich der Gesichtskreis verengt – bis zu dem Punkt, wo sich dieser mit dem Schatten, den die Sonne wirft, deckt, die hoch im Zenit steht.