Von den Tugenden der geleiteten Freiheit

von
Franz Schandl

Die
Routine wird gestört, und das ist durchaus erfrischend. Wichtig ist,
dass der Liberalismus in diesem Band nicht dekretiert wird, sondern
diskutiert. Nicht einfach übergestülpt, sondern umgestülpt. Der
Liberalismus wird als Problem begriffen und nicht nur als dessen
Lösung. An diesem Vorhaben versucht sich der katholische
US-amerikanische Politikwissenschafter Patrick J. Deneen.

Sich
als liberal zu bekennen, ist heute universell geworden; derlei reicht
inzwischen weit über den politischen Liberalismus im engeren Sinne
hinaus. Kaum ein Terminus schillert so wie dieser. Der Liberalismus
ist zu „einer alles durchdringenden unsichtbaren Ideologie“ (S.
247) geworden, so Deneen. Freiheit besteht aktuell darin, „keine
andere Wahl zu haben“, viele fühlen sich „ausweglos gefangen“
(29). „Das Versprechen der Freiheit läuft auf eine Knechtschaft
der Unumgänglichkeiten hinaus, der wir uns nur mehr fügen können.“
(36) Es geht darum „den Fortschritt zu überleben“ (52).
Tatsächlich ist der Liberalismus von „der Misere seiner Erfolge
belastet“ (23). „Der Liberalismus ist gescheitert, weil er
erfolgreich war.“ (247) Er siegte sich somit zu Tode. Zweifellos,
liberale Freiheit soll heute als Freiheit schlechthin gelten.
Liberalismus bedeutet aber nicht die Freiheit, sondern bloß
eine Freiheit. Eine sehr eigene noch dazu. Auch der
Liberalismus hat seine Grenzen, wo der Liberalismus seine Grenzen
hat. Für Deneen steht die „Befreiung vom Liberalismus selbst“
(38) an.

Anzumerken
ist jedoch, dass die Kategorie „liberal“ in den USA anders
konnotiert ist als hierzulande. Bei Deneen wird der Terminus schier
überdimensional ausgewuchtet. Keineswegs als staatsfeindlich sieht
Deneen den Liberalismus. Dezidiert merkt er etwa an, dass Markt und
Staat sich ergänzen, weniger widersprechen als zusammengehören
(36f.). „Im Zentrum der liberalen Theorie und Praxis steht die
herausragende Rolle des Staates als Erfüllungsgehilfe des
Individualismus“ (90), schreibt er. Diese Sichtung ist
ungewöhnlich, aber nicht ganz falsch. Liberal, das sind dem Autor
daher Marktradikale wie Staatsinterventionisten, aber auch
Postmodernisten und Poststrukturalisten. Von Jean-Jacques Rousseau
bis Karl Marx gehören da alle dazu. Der Kessel, in den sie geworfen
und verrührt werden, ist groß, die behaupteten Kompatibilitäten
gewagt. Auf jeden Fall gilt es aufzupassen, nicht terminologischen
Fehldeutungen aufzusitzen.

Als
die beiden Grundprinzipien des Liberalismus nennt der Autor den
„anthropologischen Individualismus und die voluntaristische
Konzeption der Wahlfreiheit“ (62). Doch warum soll man Letztere
nicht anstreben? Zur Ideologie wird sie doch erst, wenn man Freiheit
als verwirklicht betrachtet, gar ein System als „die Freiheit“
agiert, was bewusstlos wie bewusst in die Irre führt. Individuelle
Ausprägungen sind zu schätzen, gefährlich wird es erst, wenn sie
darauf reduziert werden, eine Ich-Marke für den Markt
herauszubilden. Das Ich wäre dann weniger eine individuelle
Herausforderung als ein kollektiver Zwang. Im Liberalismus hat das
Einzelwesen sich ja primär als konkurrenzfähiges Marktsubjekt zu
erweisen. Im pluralistischen Schein der Waren verflüchtigen sich die
Entscheidungen in Angebot und Nachfrage. Selbstverständlich ist der
Individualismus auch nicht anthropologisch, aber logisch in seiner
aufklärerischen Setzung ist er allemal. Diese Orientierung zu
verwerfen, wäre fatal.

Deneen
bezichtigt die Liberalen, „die Vergangenheit als ein Repositorium
von Unterdrückung“ (159) zu betrachten. Aber ist sie das nicht?
Falsch ist nur, dass Liberale gemeinhin annehmen, der Liberalismus
sei die Befreiung von Unterdrückung schlechthin und nicht deren
moderne Fortsetzung. Deneen wirft dem Liberalismus vor, dass er die
menschliche Natur negiere und auch für die „Idee einer natürlichen
Ordnung, der die Menschheit unterworfen ist“ (60) nichts übrighabe.
Auch hier wäre der Liberalismus zu verteidigen. Das Problem ist ja
nicht, dass er die traditionellen Verhältnisse umgestoßen hat, das
Problem ist, was er an ihre Stelle gesetzt hat.

Laut
Deneen haben die klassischen Philosophen des Liberalismus, Hobbes und
Locke, einen besonderen Naturzustand erst erfunden (88). Dem ist zwar
zuzustimmen, doch das trifft nicht nur auf die beiden Philosophen zu,
vielmehr ist es so, dass jeder behauptete Naturzustand eine ideelle
Konstruktion darstellt. So nachvollziehbar der Autor das Natur-Gerede
der Liberalen zurückweist, so sehr bedient er es selbst. Freilich
könnte man auch bestreiten, dass es überhaupt so etwas wie eine
menschliche Natur gibt, vielmehr gibt es menschliche Kulturen, die je
nach ihrer Ausrichtung (welch Zufall!) ihre spezifische Kultur als
Natur begreifen. Das trifft für den Liberalismus nicht weniger zu
als auf den Konservativismus. Klar ist es Unsinn zu verkünden, dass
die Menschen von Natur aus „eigennützige Geschöpfe“ (61) sind.
Aber nicht weniger unsinnig ist es zu erklären, dass sie es partout
nicht sind. Vielmehr sind sie Geschöpfe ihrer jeweiligen sozialen
Bedingungen.

Der
katholische Gelehrte vertritt einen strikt antikosmopolitischen
Standpunkt. Der Liberalismus streiche das „Streben nach
Gemeinschaft“ (91) durch. „Sein Zustand ist also Heimatlosigkeit“
(115), heißt es. Deneen spricht sogar von „entwurzelten und
geschichtslosen Lebensformen“ (268). Das Vokabular von „gewachsenen
Verhältnissen“ (100), von „Tradition und Erbe“ (ebd.), lässt
schaudern. Abschnittsweise wird der Band zu einem antimodernistischen
Kassiber. Gemeinschaft heißt: heiraten, Familie gründen, Kinder
erziehen, in der Region bleiben. Das Credo wirbt für die Rückkehr
informeller Herrschaft klassischer Autoritäten. Das gipfelt dann
auch noch in einer entrückten Sexualmoral, die von „natürlichen
Gegebenheiten“ phantasiert und sich aus „biologischen Vorgaben“
(172) ableitet. „Die Natur stellt keinen Standard mehr dar“
(172), jammert er. Aber sollte sie? Und vor allem auch: Was ist
Natur? Ein unveränderliches Etwas? Eine unverrückbare Schablone?
„Das einzige, was man von der Natur des Menschen wirklich weiß,
ist, dass sie sich ändert“, schreibt Oscar Wilde.

„Der
Liberalismus untergräbt die humanistische Bildung“ (158),
konstatiert Deneen. Das ist kaum von der Hand zu weisen. Welche
Alternativen unserem Autor vorschweben, illustriert indes ein
texanisches Beispiel, das er wie folgt resümiert: „Ziel einer
solchen Ausbildung ist nicht das „kritische Denken“, sondern die
Erlangung einer von Tugend geleiteten Freiheit.“ (163) Zumindest
weiß man, an welchem Gängelband eine so projektierte Freiheit
hängen soll. Gott wird es schon richten. Ein upgedatetes
Benediktinertum lässt grüßen. Es ist auch ein Binnenkonflikt: Ein
katholisch motivierter Konservativismus macht gegen einen
protestantisch inspirierten Liberalismus mobil. Wenig erfrischend ist
also, woher dieser antiliberale Wind weht.

Die
Beherrschbarkeit der Welt ist eine gefährliche Mär, ebenso
allerdings die fatalistische Unterwerfung unter schicksalhafte
Vorgaben. Letztere schimmern beim religiös engagierten Autor immer
wieder deutlich durch. Hier tritt die gute alte Welt gegen die böse
neue Zeit an. Bei aller Kritik des Liberalismus scheint Deneen
nahezulegen, dass es vor ihm etwas wie ein in sich stimmiges Dasein
gegeben hat, und erst der Liberalismus das Zerstörungswerk in Gang
gesetzt habe. Auch wenn Dynamik und Dimension der Destruktion immens
gesteigert werden konnten, ist diese einseitige Diagnose eine
unhistorische und gefährliche Fehlannahme.

Unabhängig davon wie man Deneens Schlüsse beurteilt, bleibt das Buch in seiner Analyse einiges schuldig. Trotzdem ist es ein stringenter antiliberaler Katechismus, der zumindest glaubhaft versichert, dass nichts Besseres nachkommt. Alles Nachher, das bloß auf ein Vorher verweist, wirkt eigentlich absurd. Es geht nicht nur darum, den Fortschritt zu überleben, es geht auch darum, den Rückschritt zu überstehen.

Patrick J. Deneen, Warum der Liberalismus gescheitert ist. Aus dem Amerikanischen von Britta Schröder, Müry Salzmann Salzburg-Wien 2019