Karnevaleske Inversionen
von Emmerich Nyikos
1.
Res publica: der öffentliche Bereich oder genauer: das, was alle betrifft, d.h. dasjenige, worin man eingebunden ist, ob man will oder nicht. Demgegenüber steht der private Bereich, d.h. alles das, was niemanden sonst etwas angeht oder angehen soll: die res privata mithin. Es dürfte indessen klar genug sein, dass die normative Begrenzung der beiden Bereiche mit dem tatsächlichen Grenzverlauf, wie er sich jeweils historisch ergibt, nicht übereinstimmt. Auch hier wie auch sonst ist es so, dass die profane Realität an das Niveau der „Idee“ nicht heranreicht.
2.
Jede Gesellschaft zerfällt analytisch in zwei klar voneinander geschiedene Sphären: einerseits in die Sphäre der Produktion, in welcher die Gebrauchswerte hergestellt werden, die, als Produktionsmittel, wieder in den Produktionsprozess eingehen können, als Konsumgegenstände jedoch die Grundlage abgeben für alle anderen Tätigkeiten in einer gegebenen Gesellschaft: für Verwaltung, Militär, Justiz, Kultur und natürlich auch und vor allem für die Konsumtion im engeren Sinn, sei es der Basiskonsum, der dazu dient, die gesellschaftliche Arbeitskraft zu reproduzieren, sei es der Luxuskonsum, dem die dominierenden Klassen gemäß der jeweiligen Gesellschaftsform frönen; und andererseits in die Sphäre dieses so definierten Konsums, d.h. in ein Betätigungsfeld, das die Superstruktur der Gesellschaft repräsentiert, deren Infrastruktur eben die Produktionssphäre ist. In dieser Sphäre der Konsumtion im weiteren Sinn nun ist der Privatbereich eingeschlossen, der Alltag (jenseits der Produktion) in seinen verschiedensten Facetten: Nahrungsaufnahme, Prokreation, amouröse Relationen, Unterhaltung, sportliche Betätigung, Devotion und was es dergleichen noch mehr gibt.
3.
Nun ist es allerdings so, dass die Sphäre der Produktion, die im Prinzip zum öffentlichen Bereich, zur res publica, zählt, was auch gar nicht anders sein kann, da sie jede und jeden auf die eine oder andere Art, als Produzent oder als Konsument, involviert, seit dem Aufkommen der Klassengesellschaft als Privatangelegenheit gilt, d.h. privater Kontrolle unterliegt, ein Umstand, der als direkte Konsequenz aus dem Privateigentum an den Produktionsmitteln folgt. Dies trifft natürlich insbesondere auf das Kapitalsystem zu. Denn hier handelt es sich um Warenproduktion katexochen, um ein System, das an und für sich den allgemeinen Zusammenhang sowohl horizontal – synchron –, als auch vertikal – diachron – impliziert, wenngleich hinter dem Rücken der Akteure, dem oberflächlichen Blick völlig entzogen.
4.
Aus der Privatheit der Produktion, speziell aus dem bürgerlichen Privateigentum am Produktionsapparat, leitet sich logischerweise ab das Prinzip des Laissez-faire, d.h., dem Privateigentum korrespondiert idealerweise als Postulat die völlige Autonomie der produktiven Sphäre, auch wenn dieses Prinzip natürlich nie vollständig realisiert worden ist und so auch gar nicht realisiert werden kann. Dennoch, als Tendenz, als Herzenswunsch der Bourgeoisie, ist es immer gegeben. Der Staat soll nichts weiter sein als ein Kapital-Famulus, er soll lediglich als Rahmen der Profitmaximierung, als ein Vehikel der Subventionierung fungieren, als Instrument, das dem Privatkapital assistiert – eine ancilla capitalis.
Wichtiger noch aber ist, dass aus dem privaten Wesen des Kapitalsystems die Autozentriertheit und Autofixiertheit einer jeden gegebenen Kapitaleinheit folgt und damit als oberster Leitstern die Profitmaximierung, und zwar – und das ist der springende Punkt – losgelöst von allem, was nicht unmittelbaren Bezug darauf hat.
Schließlich folgt aus der Privatheit der Produktion unter kapitalistischem Signum, dass der Blickpunkt des Kapitalsubjekts nur der eines isolierten Partikels sein kann: der Horizont endet da, wo der Profit nicht mehr maximiert werden kann. Hier haben wir dann die Essenz der bürgerlichen Borniertheit.
5.
Die politeia, das politische Spektrum, teilt sich in der bürgerlichen Gesellschaft seit jeher in ein „linkes“ und ein „rechtes“ Segment, wobei allerdings nie ein für alle Mal festgelegt ist, was das auf konkrete Weise bedeutet: Die Definitionen sind fließend, flexibel, abhängig vom Zustand, in dem sich die Gesellschaft gerade befindet. So definierte sich einst das linke Segment als transformatorisch, in dem präzisen Sinn der Überwindung des Privateigentums und der Konstituierung einer Gesellschaft, in welcher die Produktionsmittel Gemeineigentum und die Produktionsprozesse geplant sind, das rechte dagegen als konservativ mit Bezug auf die Struktur der Gesellschaft. Heute dagegen hat sich dies gründlich geändert, wobei man zwei Phasen der Metamorphose ausmachen kann, durch die das linke Segment bis zur Unkenntlichkeit verformt worden ist.
6.
Die erste Phase der nouvelle vague nun, die das alte Konzept des linken Segments hinweggespült hat, fällt in die Zeit um das Jahr 68, in die Zeit der „Revolte“. Wir haben gesehen, dass sich das fundamentale Prinzip der Bourgeoisie im laissez-faire, laissez passer inkarniert: Der Staat hat sich aus allem rauszuhalten, was zur Privatproduktion des Kapitals gezählt werden kann. Dieses „liberale“ Prinzip wurde nun kurzerhand von den Aktivisten der ersten Phase der Konversion des linken Segments aus dem Bereich der Produktion in das Alltagsleben jenseits der Produktion übertragen: in die Sphäre der privaten Konsumtion transponiert, wo es als „Befreiung“ der verschiedensten Art unter dem Label „libertär“ reinkarniert worden ist. Es genügt hier, an die „sexuelle Revolution“ zu erinnern.
Unter der Hand ergab sich so nichts weiter als die Abrundung der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Uniformierung in allen Aspekten, die Eliminierung von ihr im Prinzip fremden Momenten, einer Inkongruenz, einer „Verunreinigung“, die der Profitmaximierung im Grunde nur hinderlich war, kurz: die „Befreiung“ der Privatsphäre als Stimulus des Konsums und damit ganz neuer Absatzfelder, die man insofern auffüllen konnte, als der New Deal nach 45, die unorthodoxe Staatstätigkeit – die Absorption von Surplus über Steuern und seine Verwandlung in staatsbasierten Konsum, sei es direkt (welfare-state), sei es indirekt (Jobs im Staatsapparat) – die finanzielle Basis dafür zwanglos schuf.
Auch hier, in der Sphäre des Privaten, hat sich also das bürgerliche Prinzip festgesetzt: Der Staat soll sich nicht einmischen, er soll sich auf seine Rolle als ancilla consumationis beschränken; das Subjekt aber soll konsumieren, so viel, wie es nur immer vermag. Für das Wie sorgt dann schon die Reklame.
7.
Das war allerdings noch nicht der Abschluss der Metamorphose des linken Segments: Die Sphäre, die eigentlich öffentlich ist und daher öffentlich kontrolliert und organisiert werden sollte, und eben mitnichten privat, wird privat kontrolliert und organisiert. Es fehlt hier also nur noch, dass man die privaten Belange – res privata – aus der Sphäre mithin, die dafür zuständig ist, in den Bereich der res publica zerrt. Das Private soll den öffentlichen Raum invadieren, was das auch immer dann mit sich bringen mag: political correctness, identity politics, Gender-Orthographie, Quoten, MeToo, sexuelle Orientierung, Geschlechtsidentität, Opfer-Getue, moralisches Sich-Überheben – und als Highlights unübertroffen: safer space und trigger warnings. – Man weiß schon nicht mehr, was blöder ist: das oder der völkische Schwachsinn, den das rechte Segment zelebriert.
8.
Was privat ist, soll öffentlich werden. Warum das so ist? Das linke Segment definierte sich einstmals dadurch, dass es den Blick auf das Gemeineigentum am Produktionsapparat und auf die Planung der Produktion konzentrierte, ein Projekt, dessen Realisierung sich im Übrigen heute als notwendiger denn je präsentiert, angesichts des ökologischen Desasters, das die Planlosigkeit und das „Wachstum“ (direkte Konsequenz der kapitalistischen Profitmaximierungstendenz) zu verantworten hat – von allem anderen einmal ganz abgesehen, das uns das Kapitalsystem gratis beschert hat: die Beherrschung etwa durch „sachliche Mächte“, die sich als „Freiheit“ drapiert.
Dieses Programm nun wurde nicht von ungefähr adoptiert. Es war Ausdruck zweier Tendenzen: des gewaltigen Steigens des Produktivkraftniveaus, das es überhaupt erst realisierbar und dann unumgänglich gemacht hat, auf der einen und der Großen Fabrik auf der anderen Seite, die durch die Zusammenballung von Arbeitermassen, durch die Kooperation und das Diktat der Maschinerie eine Klasse geformt hat – vereint, geschult und diszipliniert –, die eine „Klasse für sich“ werden konnte – organisiert und klassenbewusst –, befähigt also, wie es schien, Demiurg der Geschichte zu werden.
Man darf sich also nicht wundern: Die Metamorphose des linken Segments ist nichts als der Ausdruck der Dissolution der Arbeiterklasse, des Subjekts, das als fähig erschien, „die Welt aus den Angeln zu heben“. Diese Neutralisierung indessen sollte sich in zwei Tempi ereignen: zunächst nur „moralisch“, als Kooptierung und Assimilierung infolge der Stabilitäts- und Prosperitätsperiode des Kapitalsystems nach 45; zum Schluss dann aber auch „physisch“ – und dieser Prozess ist heute voll im Gange – durch Automatisierung, Digitalisierung und Robotisierung der Produktionsprozesse. Kurz: Das Subjekt der Transformation ist verschwunden und damit auch die subjektive Basis, die agency, des Projekts einer anderen Welt.
9.
Dem Verfall der Kollektivität, eines Zusammenhangs, der seinen Ausdruck und seine Fortführung auf historischem Niveau in der transformatorischen Praxis und – als Vorbedingung dafür – im theoretischen Denken des linken Segments finden sollte, entspricht die Egozentrierung: Die reale Fragmentierung und Atomisierung in der bürgerlichen Gesellschaft – die Realisierung ihres Ideals, das in der Reduktion von allem zu einer Ware besteht – bringt eine Mentalität und ein Verhalten hervor, in dem das Persönliche das Um und Auf, der Angelpunkt alles anderen ist: die persönliche Befindlichkeit wird zum Kriterium katexochen, zum Dreh- und Bezugspunkt der äußeren Welt, sie wird absolut. Die Welt wird also auch hier aus der Perspektive eines Partikels, von allem anderen isoliert, wahrgenommen, alles ist autozentriert und autofixiert, so wie im Fall der Kapitalentität, deren oberstes Prinzip, von dem alles andere abhängt, sich, wie wir sahen, als Profitmaximierung, die auf nichts sonst Rücksicht nimmt, präsentiert: abgehoben, absolut – societate solutus.
10.
Wenn es demnach, wie wir sahen, keine gesellschaftliche (oder genauer: historische) Perspektive mehr gibt, so bleibt eben nur das Private, das an und für sich schon durch die Subjektzentrierung dafür prädestiniert ist – wenn denn Engagement wirklich sein muss. Für Aktivisten also, sobald die reale historische Praxis blockiert ist, bleibt nur, Privates zum Objekt ihrer Aktivitäten zu machen. Die öffentliche Sphäre wird so konsequenterweise zur Spielwiese von Privatangelegenheiten umfunktioniert, um die gähnende Leere zu füllen. – Es verwundert im Übrigen nicht, dass die „Avantgarde“, der wir all diese „Innovationen“ verdanken, wie so vieles, sich zuerst in den Vereinigten Staaten breitgemacht hat.
11.
Im Grunde handelt es sich hier um „ideologische Praxis“ schlechthin: die Manipulierung der Oberfläche der Realität gemäß dem „Bild, das man sich von der Welt macht“, ein „Bild“, das der Forderung genügt (und dieser allein), dass es der Alltagspraxis nicht ins Gesicht schlägt. Manipulation also der Oberfläche, der Welt der Erscheinung: in diesem Fall die Behübschung der Fassade der bürgerlichen Gesellschaft, da deren Substanz sich als unangreifbar erweist. Oder mit anderen Worten: Wenn man schon den Stall nicht ausmisten kann, so soll er zumindest nicht stinken – Aktivistentum, das glücklich auf dem Niveau der Desodorisierung angelangt ist.
12.
Der Fragmentierung und Atomisierung und damit der Perspektivlosigkeit entspricht darüber hinaus, en passant sei es gesagt, die Degradierung der Geschichte im Denken, verstanden als ein Prozess, an deren Stelle nun die Apotheose der Gegenwart tritt: die Welt als Aufeinanderfolge von isolierten Momenten, die keine Abfolge, keinen Prozess, keinen diachronen Zusammenhang bilden, kein Kontinuum, das ewige Präsens mithin – auch hier also Fragmentierung und Atomisierung, diesmal im „Geist“, im Universum dessen, was „Repräsentationsebene“ genannt worden ist. Dies genau ist die Essenz der Postmoderne als einer Epoche: „… verweile doch, du bist so schön …“, wie es Heiner Müller auf den Punkt gebracht hat. Die Überwindung des Bestehenden, des Kapitalsystems, ist damit völlig aus dem Blickfeld gerückt.
13.
So gesehen ist das postmoderne Denken – mit seinem Säulenheiligen Nietzsche, der all das schon vorgekaut hatte – oder genauer gesagt: das Denken in der Postmoderne nichts als der exakte Ausdruck des Zustands der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem Agonie-, in ihrem Sumpf-Stadium: die Fixierung auf die Gegenwart, die Denunzierung der Vernunft, an deren Stelle – und das ist entlarvend – das pensiero debole gesetzt worden ist (sofern dieses „schwache Denken“ dann überhaupt noch „Denken“ genannt werden kann), die Entsorgung der Theorie der Geschichte (die man als „große Erzählung“ verunglimpft), die „Konstruktion der Realität“ und was es dergleichen noch mehr an theoretischer Spintisiererei gibt – all das passt haargenau in eine Gesellschaft, die in jeder Hinsicht blockiert ist, weil sie im Sumpf des Kapitals versinkt und dort hoffnungslos feststeckt. Ein „Denken“, das unfähig, ja unwillig ist, sich über das, was ist, zu erheben, kann nicht anders als eben borniert sein.
14.
Der verborgene Sinn nun der Invasion des Öffentlichen durch das Private – und dieser Sinn verbirgt sich nicht zuletzt, ja zuallererst den Aktivisten des linken Segments – liegt ohne Zweifel darin, dass so garantiert ist, dass sich der Schwerpunkt des Diskurses nicht doch irgendwann in die falsche Richtung verschiebt. Indem man Privatangelegenheiten, die ohne weiteres auch privat zu meistern wären, würde man nur sich diesbezüglich bemühen, zum Angelpunkt macht, wird der Blick auf eine Sache fixiert, die vom Kern des Problems Welten entfernt ist: dem Privateigentum in der Sphäre der Produktion (und davon, dass es die unterirdische Ursache ist für die diversen Miseren, mit der die Welt-Gesellschaft gestraft ist). Das Wesentliche fällt so nicht nur glücklich aus dem Blickfeld heraus, die Aufmerksamkeit ist damit auch ganz woanders gebannt und gefangen. Und genau das ist der springende Punkt. So wie das rechte Segment in diesem Sinn unterwegs ist, indem es den Blick auf imaginäre Differenzen „völkischer“ oder „rassischer“ Machart fixiert, so auch das linke Segment: Das Thema, die Form sind verschieden – oder doch wenigstens ist es das Vorzeichen, das man dem Term voranzustellen beliebt –, der tiefere Sinn aber, die Wirkung ist gleich. Ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne es nur auch zu ahnen, fungiert das linke Segment, einst Kontrahent und Totengräber, als Hilfskraft der Bourgeoisie, als eine Marionette, zwar nicht dieser Klasse direkt, so doch der Umstände, die es, als Spielball, unbewusst gängeln. Deren Schwerkraft – der „gesellschaftlichen Gravitation“ sozusagen – entkommt man so leicht eben nicht.
15.
Was öffentlich kontrolliert werden sollte, wird privat kontrolliert; und was privat bleiben sollte, wird in den öffentlichen Raum reklamiert. Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, hier einem Schauspiel beizuwohnen, wo alles auf den Kopf gestellt ist. So wie im Fasching.