Gottfried August Bürger, Citoyen
von Hermann Engster
Zu erinnern ist an den weithin vergessenen Göttinger Dichter Gottfried August Bürger, einen Bürger nicht nur dem Namen nach, sondern auch im idealen Sinn: einen Citoyen. Er ist der Schöpfer der deutschen Kunstballade, der Lenore, einer mitreißenden Schauerballade, veröffentlicht im Göttinger Musenalmanach auf das Jahr 1774, zusammen mit Gedichten des jungen Goethe und anderen Dichtern, die sich mit dem Ziel einer Erneuerung der Dichtung im Göttinger Hainbund zusammengeschlossen haben, einem Freundschaftsbund, in dem soziale Rangunterschiede aufgehoben sind. Es sind Dichter wie Hölty, Boie, Voß (der Homer-Übersetzer), die adligen Brüder Stolberg. Vorläufer der Romantik, revoltieren sie gegen die Kälte des Rationalismus, schreiben in der Gefühlstradition des Pietismus Gedichte von zarter Empfindsamkeit, gefallen sich aber auch als „junge Wilde“ in den Gesten des heraufziehenden Sturm und Drang.
In Kürze Bürgers Lebensgeschichte: 1747 als Sohn eines Pfarrers in einem Dorf am Südharz geboren, besucht er die Schule in Aschersleben, wird jedoch von ihr verwiesen, angeblich wegen einer Schlägerei, wahrscheinlich jedoch wegen eines spöttischen Epigramms gegen Schulautoritäten; dann Studium der Theologie in Halle, das er hinwirft, ab 1768 Jura-Studium an der Universität Göttingen, die 1737 als Reformuniversität gegründet, rasch (aber nicht für lange Zeit) zu einem Zentrum der Aufklärung wird; ein Professor notiert, Bürger habe „ganz ungemeine Fähigkeiten und einen gleich großen Stolz“; Stellung als Amtmann in Gelliehausen bei Göttingen; ab 1780 Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs, Veröffentlichung eigener Gedichte, Shakespeare-Studien und Übersetzung des Macbeth; offizieller Redner in der Göttinger Freimaurerloge „Zum goldenen Zirkel“; radikaler Demokrat, Anhänger der Französischen Revolution; bestreitet seinen Lebensunterhalt nach Beendigung seiner Tätigkeit als Amtmann 1784 mühsam durch Übersetzungen; 1789 a.o. Professor an der Göttinger Universität (ohne festes Gehalt), Vorlesungen über Ästhetik und Philosophie; er erkrankt an Tuberkulose, muss seine Vorlesungstätigkeit aufgeben, erhält vom schäbigen Universitätskuratorium eine einmalige Zuwendung von 50 Talern; 1794 stirbt er in Göttingen, liegt begraben auf dem hiesigen Bartholomäus-Friedhof; ein Teil einer Ringstraße ist nach ihm benannt, dort ist ihm ein Denkmal errichtet.
Nehmt eure Sprache ernst! (Nietzsche)
Fundament aller Dichtung ist für Bürger die Sprache selbst: „Die Muttersprache kann zu allem übrigen sagen: Ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer mich verachtet, der wird wieder verachtet von seinem Zeitalter und schnell vergessen von der Nachwelt.“ Er, der fünf Sprachen beherrscht, betrachtet „Sprachstudium als Studium der Weisheit selbst“. Deshalb mahnt er zur Besinnung auf den Wert der eigenen Sprache: „Deutsche sind wir! Deutsche, die nicht griechische, nicht römische, nicht Allerweltsgedichte in deutscher Zunge, sondern in deutscher Zunge deutsche Gedichte, verdaulich und nährend für’s ganze Volk machen sollen.“ Das klingt heute verdächtig, doch ist Bürger durchaus kein Nationalist und schon gar kein Franzosenhasser wie einige im Göttinger Hainbund.
Es geht ihm um die Kultivierung der deutschen Sprache. Er schlägt eine Reform der Rechtschreibung vor, um „dem Gräuel unserer allgemeinen Schreibverwüstung“ abzuhelfen, allerdings ohne Erfolg. Insbesondere aber setzt er sich für eine grundlegende Erneuerung der von unzähligen (notabene: überflüssigen!) lateinischen und französischen Fremdwörtern durchsetzten deutschen Sprache ein. Er setzt damit ein Reformwerk fort, das hundert Jahre zuvor bereits Martin Opitz und andere Sprachreformer eingeleitet haben. Viele Neuschöpfungen von ihm sind in den deutschen Sprachschatz eingegangen wie:
einherstolzieren, Ackerflur, Adelsbrut, allnächtlich, Blätterfall, Friedensbund, Gemeingut, Haremswächter, Lausejunge, querfeldein, sattelfest, Volksgewimmel, Wagemut, Wolkendecke, wonnetrunken.
Ein kreativer Kopf! Wie kreativ, zeigt seine Edition der Wunderbaren Reisen zu Wasser und zu Lande des Freiherrn von Münchhausen, jenes „Lügenbarons“ aus Bodenwerder an der Weser. Dessen Geschichten hat er in eine Fassung gekleidet, die heute noch gelesen wird. (Gutmütig hat er sie seinem Verleger geschenkt, und dieser hat ein Vermögen damit gemacht.) Und nicht nur bearbeitet hat er sie, sondern eigene Episoden dazu erfunden wie die, wo der reitende Münchhausen bis zum Hals im Morast versinkt und erzählt: „Hier hätte ich unfehlbar umkommen müssen, wenn nicht die Stärke meines eigenen Arms mich an meinem eigenen Haarzopf, samt dem Pferde, welches ich fest zwischen meine Knie umschloss, wieder herausgezogen hätte“. Kaum einer weiß, dass dieses so absurde wie unsterbliche Bild von Bürger selbst stammt.
Die Sprachen sind die Scheiden, darindie Schwerter des Geistes verborgen stecken. (Martin Luther)
Das Engagement für die Sprache ist ihm nicht nur ein ästhetisches Anliegen, sondern durchaus ein politisches. In einem Brief von 1786 schreibt er an einen Freund:
„Es ist nicht wahr, dass Kanonen mehr vermögen als Gedanken und Worte, wie bisweilen gespaßt wird. Wenn wir Sklaven sind, so sind wir’s wahrlich nicht durch jene Stein-, Eisen-, Blei-, und Fleischmassen der Tyrannen, denen wir nicht ähnliche Massen entgegenzustellen haben: sondern darum sind wir’s, weil wir die kraft-, tat- und siegreichen Künste des Geistes, die Künste zu reden und zu schreiben, vernachlässigen.“
Das gilt insonderheit für die Poesie: „Gedichte, verdaulich und nährend für’s ganze Volk“ – darum geht es ihm. „Alle Poesie soll volkstümlich sein, denn das ist das Siegel ihrer Vollkommenheit.“ Das richtet sich gegen die artifizielle und gelehrte Dichtung der poetae docti, der gelehrten Poeten. Gedichte, so fordert er, sollen kollektiv rezipiert, das heißt im Kreis von Zuhörern laut gelesen werden, dies zumal, weil viele Menschen nur eingeschränkt lesefähig und Bücher für sie unerschwinglich seien. Poesie soll, so schreibt er in seinem Herzensausguss über Volkspoesie von 1776 und beruft sich aufs universale Naturrecht:
„… sowohl in Palästen als Hütten ein und ausgehen … den verfeinerten Weisen ebenso sehr als den rohen Bewohner des Waldes, die Dame am Putztisch wie die Tochter der Natur hinter dem Spinnrocken und auf der Bleiche entzücken. … Ha! Als ob nicht alle Menschen – Menschen wären.“
Seine frühen Gedichte zeichnen sich aus durch sinnliche Leidenschaft in einem anmutigen Sprachgewand. Doch das Galante streift er bald ab, die kraftvolle Sinnlichkeit bleibt. Über Bürgers Bedeutung für die deutsche Literaturgeschichte schreibt Peter von Matt 1998 in einem Essay mit dem treffenden Titel Ein armer Teufel großen Stils: Gottfried August Bürger:
„Bürger hat das deutsche Gedicht zu einem Ereignis aller fünf Sinne gemacht. Wie das deutsche Theater vom sozialen Scharfblick Lenz’, lebt der deutsche Vers bis heute von Bürgers melodischem Sensualismus – ob das die Dichterinnen und Dichter nun selber wissen oder nicht. Seine Balladen bliesen das literarische Rokoko mit einem einzigen Stoß ins Museum.“
Die Sprache soll dem Gedanken nicht angemessen, sondern angegossen sein. (Karl Kraus)
Das verwirklicht Bürger vor allem in den Balladen. Er ist bis weit ins 19, Jahrhundert hinein in allen Bevölkerungsschichten einer der populärsten Dichter in Deutschland. Die bis heute berühmteste unter seinen Balladen ist die Lenore, die erste deutsche Kunstballade, die gleich einem Donnerschlag die literarische Bühne betritt. (Eigentlich heißt das Mädchen Leonore, aber um des dynamischen jambischen Versmaßes willen verkürzt er den Namen, also statt ᴗ ᴗ ̶ ̶ ᴗ nun ᴗ ̶ ᴗ.)
Bürger platziert die Ballade in die Wirklichkeit der jüngsten Vergangenheit: Es ist die große Schlacht um Prag im Jahr 1757 im Raubkrieg des preußischen König Friedrichs II. gegen Österreich. Und er macht eine einfache junge Frau zur Hauptfigur. Ihr Verlobter hat in den Krieg ziehen müssen, und ein Angsttraum lässt sie hochschrecken. Furios hebt die Ballade an:
Lenore fuhr ums Morgenrot
Empor aus schlimmen Träumen:
„Bist untreu, Wilhelm, oder tot,
Wie lange willst du säumen?“
Lenore ist verzweifelt, hadert mit Gott bis zur Blasphemie, und in der Nacht erscheint der tote Geliebte, ergreift sie, schwingt sie zu sich aufs Pferd, reitet in wildem Ritt durch die Nacht, stürzt sich mit ihr hinein ins Grab. Das schildert Bürger so expressiv, dass es heute noch mitreißt. Aber die eigentliche, tiefere Wirkung auf die Zeitgenossen ist für uns Heutige kaum noch nachvollziehbar. Denn seine ungeheure Energie bezieht das Gedicht vermittelst einer raffinierten Montagetechnik, indem Bürger Worte und Verse aus der Lutherbibel und dem protestantischen Kirchenlied in die Reden der Personen einbaut. Schon eine kleine Auswahl aus dem Vokabular erhellt, wie aus der Sprachkraft von Lutherbibel und Kirchenlied das Gedicht seine besondere Energie bezieht:
Wahn, Meineid, Herz, ich Arme, Sünde, Nacht, Graus, Leid, Jammer, Verzweiflung, Gericht, Hölle, Feuerfunken, Gewinsel, Geheul, Tod, Gruft, Vorsehung, Erbarmen, Gott, Kind, Vaterunser, Beten, Geduld, Sakrament, Glauben, Licht, Bräutigam, Himmel, Seligkeit.
Das Vokabular ist die eine Kraftquelle, die andere sind die Verse aus Lutherbibel und evangelischem Gesangbuch. Dazu einige Beispiele:
Die Mutter ist entsetzt über Lenores lästerliches Hadern mit Gott und fleht:
Hilf Gott, hilf! geh nicht ins Gericht
Mit deinem armen Kinde!
Sie weiß nicht, was die Zunge spricht.
Behalt ihr nicht die Sünde!
Das sind die letzten Worte des Märtyrers Stephanus bei seiner Steinigung: „Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht!“ (Apostelgeschichte 7,59)
Die Mutter, überzeugt von des Verlobten Untreue, beschwichtigt ihre Tochter:
Lass fahren, Kind, sein Herz dahin!
Er hat es nimmermehr Gewinn!
Sie spricht Verse aus Luthers Ein feste Burg ist unser Gott: „Lass fahren dahin, / sie habens kein Gewinn.“
Und wenn am Schluss der Reiter spricht Vollbracht, vollbracht ist unser Lauf!, die Hülle von ihm abfällt, Stundenglas und Hippe sichtbar werden und dem grauenhaft getäuschten Mädchen offenbar wird, dass der heimgekehrte Bräutigam der Tod selber ist, dann ist das zum einen eine makabre Anspielung auf Jesu letzte Worte am Kreuz „Es ist vollbracht“ (Johannes 19,30); zum andern ist es eine Perversion der Allegorie vom Seelenbräutigam Christus als dem wahren Bräutigam, auf den die Mutter der Tochter Blick lenkt:
Ach, Kind, vergiss dein irdisch Leid,
Und denk an Gott und Seligkeit!
So wird doch deiner Seelen
Der Bräutigam nicht fehlen.
– der Bräutigam, wie er in einem Lied des protestantischen Dichters und Komponisten Adam Drese von 1698 ersehnt wird: „Seelenbräutigam / Jesu, Gottes Lamm, / Habe Dank für deine Liebe.“
Es war lange umstritten, wie diese eingeflochtenen Verse zu deuten seien; das ging bis zum Vorwurf der Gotteslästerung gegen Bürger. Der Göttinger Germanist Albrecht Schöne hat die Tiefendimension des Gedichts aufgedeckt. Er hat gezeigt, wie die Verse aus Lutherbibel und evangelischem Gesangbuch mit ihrer tiefen Religiosität zur poetischen Energiequelle wurden: Die Säkularisation – hier die Umlenkung religiöser Gefühle in rein menschliche – wird zur „sprachbildenden Kraft“, wie auch der Titel seines Buches lautet. (Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne. Göttingen 1968) Wir Heutige vermögen das kaum noch nachzuvollziehen; denn Bibelzitate und Kirchenliedverse, sofern sie uns überhaupt noch als solche geläufig sind, stellen nur noch Lexikonwissen dar, vergleichbar Anspielungen aus der antiken Literatur. Für die Menschen zu Bürgers Zeit waren diese Verse jedoch lebendige Wahrheit – ein gewaltiger Unterschied! Und das machte die immense Wucht dieser Ballade aus.
Der Großen Hochmut
Bürger richtet den Blick auf die einfachen Menschen, das ist neu in der Literatur. Er tritt ein für die Schwachen und tritt auf gegen die Mächtigen. In der Ausgabe seiner Gedichte von 1789 veröffentlicht er ein Epigramm mit dem Titel Mittel gegen den Hochmut der Großen:
Viel Klagen hör ich oft erheben
Vom Hochmut, den der Große übt.
Der Großen Hochmut wird sich geben,
Wenn unsre Kriecherei sich gibt.
Der junge Goethe hat Bürger bewundert, ihm sogar ein Exemplar seines Götz geschickt. Bürger besucht 1789 Goethe in Weimar, auch in der Hoffnung, dieser könne ihm, dem von Schulden Bedrängten, eine Stelle vermitteln. Goethe, der seine Sturm und Drang-Hülle abgestreift hat und sich in der Verpuppung zum Klassiker befindet, behandelt ihn kühl und kehrt den Geheimrat und Minister heraus: Er lässt Bürger erst einmal lange warten, und als er ihn vorlässt, erkundigt er sich lediglich nach dem Wetter in Göttingen. Erbittert darüber schreibt Bürger ein Spottgedicht, in dem er den Künstler Goethe gegen den Minister ausspielt:
Mich drängt’ es in ein Haus zu gehen,
Drin wohnt ein Künstler und Minister.
Den edlen Künstler wollt’ ich sehn,
Und nicht das Alltagsstück Minister.
Doch steif und kalt blieb der Minister
Vor meinem trauten Künstler stehn,
Und vor dem hölzernen Minister
Kriegt’ ich den Künstler nicht zu sehn.
Hol’ ihn der Kuckuck und sein Küster!
Bürger ist ein radikaler Demokrat, Anhänger der Französischen Revolution und befürwortet auch Gewalt beim Kampf um Menschenrechte. Persönlich riskiert er manches. In seinen Vorlesungen an der Göttinger Universität wählt er das Allerneueste zum Thema: Kants Philosophie. Der Dichter Boie schreibt 1787 seinem Freund Voß über Bürger: „Er mag nicht dichten und sitzt bis über den Hals in Kant vergraben, den er sehr liebgewonnen hat, und – eine Ketzerei in Göttingen – über ihn lesen will.“
Offizielle Lehrmeinung an der Göttinger Universität ist nämlich die frühaufklärerische Vernunftphilosophie Christian Wolffs, Bürger aber liest über Kants Kritik der reinen Vernunft (erschienen 1781) und die Kritik der Urteilskraft (1790). Vorlesungen über Kant, den „Alleszermalmer“, wie Moses Mendelssohn ihn nennt, sind freilich der Karriere alles andere als förderlich; denn Kant ist hier wie an anderen Universitäten wie Leipzig und Halle, ganz zu schweigen von den katholischen Universitäten in Süddeutschland (und wohl auch in Österreich), verpönt. Die Kollegen schneiden ihn, sehen in ihm nur den armen Poeten, mit seinen Vorschlägen zur Sprachreform verletzt er sie in ihrem Standesdünkel. Nur die Studenten wissen ihn zu schätzen, mit fünfzig Hörern ist sein Hörsaal voll besetzt.
Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen?
Ist fürstliche Freude, ist männlich Verlangen … (Jägerchoraus dem Freischütz)
Für die Aristokratie ist neben dem Krieg die Jagd ein Hauptvergnügen. Die Jagd, insonderheit die sog. Hohe Jagd auf Hirsch und Wildschwein, ist seit je Privileg der Könige und des Adels. Den Bauern ist sie verboten, obwohl das sich übermäßig vermehrende Wild ihnen die Feldfrüchte auffrisst. Schon in den Bauernkriegen war die Eindämmung der herrscherlichen Jagd eine zentrale Forderung der Bauern; selber dürfen sie nicht für Abhilfe sorgen, denn das gilt als Wilderei, die streng bestraft wird. Nicht weniger schlimm sind die Schäden durch die Treibjagden, bei denen die hochherrschaftlichen Jäger rücksichtslos durch die Felder reiten und die Saaten verwüsten. Wie zum Hohn müssen die Bauern dazu Frondienste als Treiber leisten.
Darüber erzürnt, schreibt Bürger 1773 ein Gedicht gegen die absolutistische Adelswillkür; es wird 1776 im Vossischen Musenalmanach veröffentlicht:
Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen
Wer bist du, Fürst, dass ohne Scheu
Zerrollen mich dein Wagenrad,
Zerschlagen darf dein Ross?
Wer bist du, Fürst, dass in mein Fleisch
Dein Freund, dein Jagdhund, ungebleut
Darf Klau’ und Rachen hau’n?
Wer bist du, dass durch Saat und Forst,
Das Hurra deiner Jagd mich treibt,
Entatmet, wie das Wild? –
Die Saat, so deine Jagd zertritt,
Was Ross und Hund und du verschlingst,
Das Brot, du Fürst, ist mein.
Du Fürst hast nicht, bei Egg’ und Pflug,
Hast nicht den Erntetag durchschwitzt.
Mein, mein ist Fleiß und Brot! –
Ha! du wärst Obrigkeit von Gott?
Gott spendet Segen aus; du raubst!
Du nicht von Gott, Tyrann!
In der Lyrik des Sturm und Drang gibt es nur wenige sozialkritische Gedichte; in Prosa und Drama ist solche Kritik häufiger, doch bleibt oft offen, ob sich die Kritik am Adel nur gegen den Missbrauch einer an sich richtigen, gottgewollten Ordnung richtet oder diese selbst infrage stellt.
Die Gesellschaft ist seit dem Mittelalter in drei Stände gegliedert: Den Ersten Stand nimmt der Klerus ein, den Zweiten die Aristokratie, dem Dritten der Bürger gehören an: Kaufleute, Juristen, Ärzte, Gelehrte, Handwerker, ferner Bauern, Künstler, Dienstleute, Tagelöhner.
Diese Ordnung stellt Bürger infrage. Sein Angriff auf den Adel ist für diesen und die Kirche, die seit jeher mit den Mächtigen paktiert, ungeheuerlich. Diese Leugnung des Gottesgnadentums ist eine Voraussetzung der bürgerlichen Revolution, die in Frankreich sogar zur Hinrichtung des Königs führen wird.
Mit dem Erstarken des Bürgertums beginnt dieses sich als eigenen Stand zu begreifen und sich von der Plebs der Bauern, Kleinhändler, Dienstleute, Arbeiter abzugrenzen, die dadurch einen neuen, den Vierten Stand bilden. Aufschlussreich ist, dass dieser Dritte Stand sich als „Mittelstand“ zu definieren beginnt; unter diesem ist in der Ständepyramide der Vierte Stand platziert, (der beim Kampf des Bürgertums um die „universalen“ Menschenrechte freilich das Nachsehen haben wird, so wie auch Frauen und Schwarze.) Friedrich Schiller gebraucht den Begriff Mittelstand 1789 in seiner Rede zum Antritt seiner Professur an der Universität Jena mit dem Titel Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Dieser Mittelstand ist für Schiller das neue produktive Zentrum der Gesellschaft; dieses realisiert sich, so verkündet er selbstbewusst, „in dem wohltätigen Mittelstande, dem Schöpfer unsrer ganzen Kultur, (in dem) ein dauerhaftes Glück für die Menschheit heranreifen sollte“.
Von solchem Fortschrittsoptimismus ist Bürger noch weit entfernt. Seine Tätigkeit als Amtmann in Gelliehausen nahe Göttingen tritt er 1772 aber mit Selbstbewusstsein an. Euphorisch schreibt er an einen Freund (und zeichnet dabei ein bedrückendes Bild von den Repressionsverhältnissen dieser Zeit):
„Ich bin in meinem Gericht souveräner Herr über Leben und Tod, Galgen, Rad, Staupenschlag, Zuchthaus, Karrenschieben, Halseisen, Spanische Jungfer, Buckel voll Prügel, Hundeloch, kurz, was ich will, kann ich erkennen (i.e. verwirklichen) … Ich habe auch ein starkes Militär unter meinem Kommando. Eine Armee von 24 Mann Landmiliz, die auf meinen Wink marschfertig sein müssen, und wodurch ich meinen Staat in Zaume halte. Und wenn ein Fürst in meinen Grenzen ein Verbrechen begeht, so lass ich ihn durch meine dienstfertigen Geister ergreifen und hege mein hochnotpeinliches Halsgericht über ihn.“ (Anm.: „hochnotpeinlich“: strafrechtlich, lat. poena = Strafe, „Halsgericht“: Vollmacht zur Verhängung der Todesstrafe.)
Doch die Euphorie verfliegt bald. Göttingen gehört zum Kurfürstentum Hannover. Bürger wehrt sich gegen seinen Hannover’schen Dienstherrn, will von ihm nicht, wie er schreibt, zum „Hausbedienten“ gemacht werden, sondern will als Beamter seinen Gerichtsuntergebenen ein „guter Hausvater“ sein und sie vor der Willkür der Adligen schützen. Er ist aufgrund seines Umgangs mit der Dorfbevölkerung gut vertraut mit dem selbstherrlichen Treiben des Landadels und der Drangsalierung der Bauern durch Fronleistungen und Ausbeutung. Mit Geschick schützt er die Bauern seines Bezirks vor der Pressung zum Militärdienst; einen Knecht, der für das Gesinde das versprochene bessere Essen einfordert und der wegen „Widersetzlichkeit“ verklagt wird, belegt er zum Ärger des Klägers mit einer nur sehr milden Haftstrafe; die Pfändung von Juden kann er zwar nicht verhindern, aber lange hinauszögern; eine 23-jährige Magd, die ihr neu geborenes uneheliches Kind getötet hat, bewahrt er vor der Todesstrafe, indem er mit großem Geschick die Unwissenheit der jungen Frau über ihre Schwangerschaft nachweist. Der Göttinger Juraprofessor Justus Claproth veröffentlicht 1782 die Untersuchungsakte als Fallbeispiel für Vorlesungen und hebt hervor, Bürger habe sich hier „als einen fleißigen, geschickten, menschenfreundlichen Untersucher bewiesen“. (1783 wird in Weimar die ledige Dienstmagd Johanna Catharina Höhn wegen eines gleichen Delikts angeklagt. Herzog Carl August plant eine Strafrechtsreform und ist gegen die Todesstrafe, in der Beratung im Geheimen Consilium setzt die Mehrheit, in ihr auch Goethe, die Todesstrafe durch. Vier Jahre zuvor hat er das Humanitätsdrama Iphigenie geschrieben.)
Als Amtmann steht Bürger im Sold der adligen Grundbesitzer und ist, wie Pfarrer und Lehrer auch, letztlich diesen unterworfen. Man erwartet von ihm, die Untertanen untertänig zu halten. 1784 legt er, zermürbt von verleumderischen Unterstellungen, sein Amt nieder.
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
(Brecht, An die Nachgeborenen)
Trotz des obrigkeitlichen Drucks ergreift er noch in seiner Amtmannszeit als Dichter Partei für die Unterdrückten. Die polemische Intention in seinem Gedicht geht zurück auf einen Spruch aus dem Bauernaufstand von 1381, der sich auf die klassenlose Gesellschaft aus den Anfängen der biblischen Überlieferung beruft und der in den Bauernkriegen zu Anfang des 16. Jahrhunderts zur revolutionären Parole wird:
Eine vergleichbare Geste findet sich auch beim jungen Goethe in seinem zur selben Zeit gedichteten Dramenfragment Prometheus, wenn er den gegen die olympischen Götter rebellierenden Titanen trotzig ausrufen lässt:
Da Adam grub und Eva spann –
Wer war alsdann der Edelmann?
Und welch ein Recht
Ergeizen sich die stolzen Bewohner des Olympus
Auf meine Kräfte?
Sie sind mein, und mein ist ihr Gebrauch.
Aus diesen Versen ist die gewaltige Hymne Prometheus hervorgegangen. Goethe hat sie jedoch wegen ihrer blasphemischen Anstößigkeit nicht zu veröffentlichen gewagt; Friedrich Jacobi hat sie 1785 ohne des Autors Wissen im Zusammenhang einer Schrift über Spinoza gedruckt, und erst 1789 hat Goethe das gefährliche Gedicht in seine edierten Werke aufgenommen.
Bürger kneift nicht. Sein Held ist auch nicht ein Titan aus mythischer Vorzeit, sondern ein zeitgenössischer Bauer. Bürger spricht auch nicht in paternalistischer Attitüde stellvertretend für diesen, sondern gibt ihm selbst eine Stimme: Der Bedrängte bekommt ein Ich und klagt an. Schon die Überschrift Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen ist sarkastisch, schlägt eine Schneise für Spott, Zorn, Verachtung.
Das Gedicht lebt von drastischen Bildern: Der hilflose Bauer wird vom Wagen des Fürsten zerrollt (eine, wie entatmet, kühne Wortschöpfung!), vom Ross zerschlagen, vom Jagdhund zerfleischt, seine Saat verwüstet. In drei Strophen spricht er dem Fürsten, den er bar allen Respekts mit du anredet, das Recht auf dessen Willkür ab. Und klagt selbstbewusst seine eigenen Rechte ein: Das Brot, du Fürst, ist mein, und wiederholt das Possessivum: Mein, mein, ist Fleiß und Brot. Und als höchste Steigerung schließt er seine Anklage mit dem Kampfwort Tyrann:
Ha! du wärst Obrigkeit von Gott?
Gott spendet Segen aus; du raubst!
Du nicht von Gott, Tyrann!
Dem grimmigen Ton ist das Metrum angepasst. Metaphorik und Metrum sitzen dem Gedicht wie „angegossen“, wie Karl Kraus von der dichterischen Form verlangt. Der Jambus verleiht dem Gedicht eine drängende Dynamik. Diese wird noch gesteigert durch die Wiederholung des Fragepronomens Wer? in der Spitzenstellung der ersten drei Strophenanfänge. Es steht zwar in der Senkung, muss aber, wenn das Gedicht, wie Bürger verlangt, laut vorgetragen wird, gedehnt-drohend artikuliert werden, sodass das folgende, üblicherweise eher schwachtonige bist umso herausfordernder klingen muss: Denn mit dem Wer bist du? zweifelt der zornerfüllte Bauer die göttliche Herrschaftslegitimation des Fürsten an.
Ein weiterer rhetorischer Kniff kommt hinzu. Während die ersten drei Verse jeder Strophe vierhebig sind, fehlt in den jeweils letzten Versen die erwartete vierte Hebung, und diese unerfüllte Erwartung spitzt die Schlussverse rhetorisch effektvoll zu. Dazu verzichtet Bürger auf den Wohlklang des Endreims, alle Verse enden auf betonten Silben – hallen wie Hammerschläge.
Das ist mit großer sozialkritischer Courage und poetischer Meisterschaft gemacht. Es hat seine historische Folgerichtigkeit, dass sechzig Jahre später Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig ihre gegen Fürstenherrschaft verfasste Streitschrift Der Hessische Landbote – mit dem Fanal Friede den Hütten! Krieg den Palästen! – mit der letzten Strophe des Bürger’schen Gedichts Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen beschließen.
Ein neues Lied, ein bess’res Lied! (Heinrich Heine)
Als 1792 die europäischen Feudalmächte zum Krieg gegen die junge Französische Republik rüsten, um ein Übergreifen der revolutionären Ideen auf ihre Länder zu verhindern, schlägt Bürger sich, wie er trotzig bekundet, selbst gegen Hermanns Vaterland – gemeint ist das vom Cherusker Arminius (Hermann) „befreite“ Germanien (Deutschland) – auf die Seite der Franzosen. Diese müssen nun gegen eine Übermacht antreten, und ihre Siegesaussichten sind düster. Da schreibt Bürger gegen die womöglich zurückweichenden Franzosen ein Straflied beim schlechten Kriegsanfange der Gallier und ermahnt sie mit drastischen Versen:
Wer nicht für Freiheit sterben kann,
Der ist der Kette wert.
Ihn peitschte Pfaff’und Edelmann
Um seinen eignen Herd!
Das ist national rückgratlos, unpatriotisch! Und, Ironie der Geschichte, ein Vorschein der Habermas’schen Vision vom Verfassungspatriotismus, einer Vision, die hierzulande nie eine Chance hatte und haben wird. In der deutschen Nationalhymne, in der die zentralen Werte aufgezählt werden, steht zuvörderst die Einigkeit; und wenn diese gewährleistet ist, dann soll es auch mit Recht zugehen, ach ja, und Freiheit soll es dann auch geben. Die Reihenfolge der Franzosen ist eine andere: liberté, egalité, fraternité. (Einigkeit, concorde, hat für Franzosen nur minderen Wert – sie fechten ihre Konflikte aus.) Bürger schlägt sich auf die Seite dieses „neuen Liedes“, auch wenn es französisch ist.
Das treffende Schlusswort soll darum Heinrich Heine haben. Im Pariser Exil stellt er 1836 in seinem Essay Die romantische Schule in Deutschland den Franzosen die deutsche Literatur vor. Über Bürger schreibt er im II. Buch, kritisch gegen die Ästhetik August Wilhelm Schlegels gerichtet:
„(…) Bürgers Gedichte geben den Geist der unsrigen (Zeit). Diesen Geist begriff Herr Schlegel nicht; sonst würde er in dem Ungestüm, womit dieser Geist zuweilen aus den Bürger’schen Gedichten hervorbricht, keineswegs den rohen Schrei eines ungebildeten Magisters gehört haben, sondern vielmehr die gewaltigen Schmerzlaute eines Titanen, welchen eine Aristokratie von hannövrischen Junkern und Schulpedanten zu Tode quälte. Dieses war nämlich die Lage des Verfassers der Lenore und die Lage so mancher anderen genialen Menschen, die als arme Dozenten in Göttingen darbten, verkümmerten und in Elend starben. Wie konnte der vornehme, von vornehmen Gönnern beschützte, baronisierte, bebänderte Ritter August Wilhelm von Schlegel jene Verse begreifen, worin Bürger laut ausruft: dass ein Ehrenmann, ehe er die Gnade der Großen erbettle, sich lieber aus der Welt heraushungern solle!
Der Name Bürger ist im Deutschen gleichbedeutend mit dem Worte citoyen.“