„Europa“ als aktuelles Grundproblem (1)

von Lorenz Glatz

Zunächst einmal zu, ich möchte sagen: „Klein-Europa“. Nach einer Union schaut die Europäische nicht mehr so wirklich aus. Streit ist in allen geschäftlichen und politischen Zusammenhängen sowieso normal, aber derzeit streitet sich die nach Deutschland größte Wirtschaftsmacht Großbritannien in einem so peinlichen wie peinsamen Prozess aus der EU heraus. Das ist umso bemerkenswerter, als es doch ziemliche Bemühung brauchte, um das United Kingdom gegen den Widerstand Frankreichs überhaupt hineinzubringen in die „europäische Einigung“. Diese hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ab 1951 als Sechsergemeinschaft (Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten) per Montanunion, Euratom und EWG als Wirtschaftsunion zunächst recht schwungvoll entwickelt. Kapital, Ware (einschließlich Arbeitskraft) und Dienstleistung wurden frei beweglich, unbehindert und weitgehend unkontrolliert von den weiter getrennten Staatsapparaten.

Wachstum im Abstieg

Als aber das (bis heute noch) Vereinigte Königreich 1973 der damaligen „Europäischen Gemeinschaft“ (EG) (zusammen mit Irland und Dänemark) beitrat, war die Hoch-Zeit schon vorbei. Die „lange Welle“ der Kapitalverwertung mittels des fordistischen „technologischen Paradigmas“ näherte sich ihren Grenzen. Sie beruhte auf erdölbasierter Massenproduktion, vor allem der Profitabilität der Automobilisierung und der Industrialisierung kleinteiliger Herstellung samt der dazugehörigen Infrastruktur. Das durchschnittliche BIP-Wachstum je Einwohner in Westeuropa hatte von 1950 bis 1973 jährlich fünf Prozent betragen. Der Schnitt der Folgejahre bis 1994 ergab nur noch ein Drittel davon. Das hatte im europäisch-amerikanischen Zentrum des Weltsystems (ich nenne es hier einmal „Groß-Europa“) und so auch in der EU gravierende Folgen.

Die Konflikte zwischen Arbeit (dem „variablen Kapital“) und (dem „konstanten“) Kapital verschärften sich. Die Positionen der Gewerkschaften der alten Industrien mit ihren großen Belegschaften wurden unhaltbar. Die Zentralisation des Kapitals durch Aufkäufe und zunehmend transnationale Fusionen, durch die Privatisierung von öffentlichen Infrastrukturen, Dienstleistungen und Produktionsbetrieben stieg seit den 1980er Jahren steil an. Auf der Suche nach Kosteneinsparungen wurden Produktionen und Dienstleistungen in allen Bereichen ausgelagert und zersplittert. Die Verantwortung für die Profitabilität der Arbeit wurde zu einem wachsenden Teil von den Arbeitenden selbst übernommen, deren Zusammenhalt oft bis zur „Ich-AG“ abschmilzt.

Zugleich werden seitdem durch die sich sprunghaft entwickelnde neue Informations- und Kommunikationstechnik massiv Abläufe automatisiert und der Preis der Ware Arbeitskraft gedrückt. Erstmals in der kapitalistischen Entwicklung dürfte hier dauerhaft mehr Arbeit eingespart als neue geschaffen werden – was nicht nur auf die Löhne (das variable Kapital) starken Druck ausübt, sondern durch das steigende konstante (nicht wie die Löhne variable) Kapital die Profite insgesamt belastet. Die Konkurrenz auf allen Märkten, der politische Machtkampf der Staaten und Blöcke bis hin zum Ruin, ja der Zerstörung ganzer Regionen und der Auflösung von Staaten verschärft sich.

Die Deregulierung der Finanzmärkte erlaubte die Schaffung neuer IT-basierter Finanzinstrumente zur Geldvermehrung durch schrankenlose Spekulation auf Gewinne, die in immer fernerer Zukunft zu erhoffen sind. Diese Art von Geldvermehrung schafft zwar ungeheure monetäre Ansprüche, diese drohen jedoch über kurz oder lang als „Blasen“ zu platzen, d.h. entwertet zu werden, wenn sie nicht rechtzeitig „realisiert“ werden. Diese spekulativen Geldmassen in Produktion und Verkauf umzusetzen, ist angesichts der Krise der Arbeit schwierig geworden, die Geldanlage in „Realien“ wie Land und Immobilien ein vergleichsweise „sicherer Hafen“. Dadurch wachsen zwar die Vermögen einiger weniger ins Unglaubliche, es entstehen aber durch die zwanghaft weitergehende Geldvermehrung erst recht wieder platzende Blasen, die in neuen Schüben Verarmung und Bereicherung fortsetzen. Und Zug um Zug wird monopolisiert, was für die Menschen unabdingbar ist. Land für ihre Nahrung und Behausung mutiert zu einem Anlagewert erster Güte, von dem ausgesperrt eins nicht mehr leben kann. Diesbezüglich sind die meisten Bewohner „reicher Länder“ heute abhängiger als viele Menschen in „armen Regionen“.

Die weitere Ausdehnung Klein-Europas, der „Europäischen Gemeinschaft“, folgte jedoch vor allem den Notwendigkeiten jener forciert „fiktiven“ Geldvermehrung auf der Suche nach für die Spekulation glaubwürdigen „Anlagefeldern“. In der Süderweiterung der Achtzigerjahre entzog die EG zunächst das militärstrategisch wichtige, aber wirtschaftlich doch recht unergiebige Griechenland per Beitritt den sowjetischen Avancen zu intensiveren Wirtschaftsbeziehungen. Und es gelang ihr auch der Anschluss der (wie auch Griechenland) bis zur Mitte der Siebzigerjahre von Diktatorenklüngeln herabgewirtschafteten Länder Spanien und Portugal. Besser als Unterläufel dabei sein als durch die Niederlage in der Konkurrenz ganz abgestuft zu werden, war die durchaus rationale Überlegung der in diesen Ländern an die Staatsführung gelangten demokratischen oder zur Demokratie bekehrten Politiker und Wirtschaftsbosse.

Der Ostblock unter dem Kommando der UdSSR war das Schattenzentrum des „Weltsystems“, das sich siebzig Jahre lang als Kampf der Systeme, allerdings auf derselben Grundlage von Staat, Geld und Arbeit, verstanden hatte. Sein Niedergang und Zerfall 1989 ermöglichte zunächst den Beitritt der zwischen den Machtblöcken navigierenden neutralen Länder Finnland, Schweden und Österreich. Letzteres war wirtschaftlich seit der Privatisierung der bis dahin dominanten verstaatlichten Industrie im Zuge der erwähnten Globalisierung zu einem Zulieferer der deutschen Industrie geworden. Seit dem sowjetischen Bankrott hatte es sich zugleich als ein sachkundiger Standort der westlichen Übernahme der osteuropäischen Wirtschaft etabliert. Jedenfalls schwenkten hier nach den Wirtschaftsverbänden und der Regierung auch der Gewerkschaftsbund zur „Sicherung der Arbeitsplätze“ auf die Beitrittslinie ein.

Im neuen Jahrhundert kamen die durch EU-Programme vom gescheiterten „Staats-“ zum überlebenden Anlagen suchenden „Privatkapitalismus“ umgestellten Länder zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer hinzu, sowie Slowenien, die Mittelmeerinseln Zypern und Malta und zuletzt noch das wie Slowenien aus dem Jugoslawienkrieg hervorgegangene Kroatien. Damit scheint nun eher Schluss zu sein. Nicht einmal der Beitritt der Westbalkanländer ist mehr sicher, die Türkei ist abgeschmettert oder will vielleicht auch gar nicht mehr, die Kaukasus-Staaten und auch die Ukraine sind von der Tagesordnung abgesetzt. Wer sich’s noch leisten kann, bleibt „Europa“ fern, wie die Schweiz, Island und zweimal schon Norwegen, wer nicht, den will und kann sich „Europa“ schon eher nicht mehr leisten. Die Grenzen „Klein-Europas“ sind nicht einfach geographisch, sie bestimmen sich nach dem, was sich nach dem Kalkül des Kapitals und seiner streitenden Funktionäre an den Börsen, in den Banken, in den Konzernetagen und in den Regierungen rentieren könnte, wenn es zum selben Tisch zugelassen wird.

Drin bleiben ?!

Die soziale Situation in ganz „Groß-Europa“ hat eine ähnliche Form angenommen. Arm und reich driften auseinander. Das zeigt sich nicht nur im Straßenbild der großen Städte, selbst an den offiziellen Statistiken ist es abzulesen. Um unseren Kirchturm hierzulande sind demnach beispielsweise 40,5 Prozent des Vermögens in der Hand des obersten Prozents der Bewohner, während sich die untere Hälfte der Bevölkerung mit 2,5 Prozent bescheidet. Das sagt über den Konsum weniger aus als über die Machtverteilung, wie das Wort Vermögen ja schon klar macht. Bei den Einkommen ist die Entwicklung Österreichs in der EU (seit 1995) einigermaßen abgebildet: Von der obersten Spitze lässt sich nichts Genaues lesen. An der Grenze zum oberen Viertel stiegen die Einkommen inflationsbereinigt von 1997 bis 2017 noch um etwa 4 Prozent, das Medianeinkommen hielt sich mit 0,4 Prozent minus in etwa konstant, am oberen Ende des unteren Viertel hingegen hatte eins ein Sechstel seiner Kaufkraft schon verloren (Statistik Austria, AK Oberösterreich).

Die recht dramatischen Verschlechterungen im Pensionsrecht, sowohl der erforderlichen Beitrittsjahre als auch der Höhe der Bezüge, in der Krankenversicherung und sonstigen sozialen Absicherung, die spürbare Verschärfung der Arbeit und ihrer Bedingungen und die resignative Erwartung bei den Jungen, dass für sie im Alter nicht viel übrig sein wird von Versorgung, sind dabei ein nicht quantifiziertes, betäubendes Hintergrundrauschen.

Das Fiasko der chinesischen „Kulturrevolution“ und das Verebben der Konsum- und Arbeitskritik der 1968er im Westen und das Versiegen ihres Antiautoritarismus im Neoliberalismus hält bis heute die Fantasie, das Denken und die Experimentierlust jenseits der erlernten Wirtschafts- und Lebensweise klein. (Das gilt wohl auch jenseits Groß-Europas.) Die Kapitaleigenschaft, die den lebenden und „toten“ Dingen dadurch noch weit gesteigert aufgezwungen bleibt, steht nirgendwo ernsthaft in Frage. Alles auf, in und über unserem Planeten ist dem Zugriff der Geldvermehrung zugänglich zu machen, in Geld zu beziffern und hat für dessen Wachstum in irgendeiner Weise nützlich zu sein. Wer dazu beizutragen nicht gewillt oder in der Lage ist, wird überflüssig, steht am Rand von „draußen“, wo „da wird sein Heulen und Zähneknirschen“, wie die Bibel sagt.

Solche Angst gibt es jedoch nicht nur in den Unterschichten, sie durchzieht die Gesellschaft bis hinauf zu ihren Spitzen, verkürzt die Perspektiven selbst des Denkens, des Planens sowieso. Dem prekären Zustand des Systems entsprechend sind die einigermaßen nüchternen Agenten eher vorsichtig, skeptisch, oft schon zynisch. Führungsqualitäten bescheinigt einem so wohl kaum wer. In all der Ungewissheit und Labilität des Morgens entsteht daher in Politik und Wirtschaft viel Raum für Leute mit kurzem Horizont, waghalsige Spielertypen, gepflegte Rowdies, auch ungepflegte, Leute des Heute-so-und-morgen-Anders, wie es sich grad ergibt, ehrgeizige Abenteurer des Status quo oder Quereinsteiger, die „alles neu und anders“ machen werden.

Die Lösungsillusionen Union und Nation gehen durcheinander in Klein-Europa, je nachdem, was einem gerade zum eigenen Vorteil zu gereichen scheint. Schottland soll raus aus dem UK, um in der EU zu bleiben, in Nordirland viel Ja zu UK und EU, UK aber ist auf dem Weg raus aus der EU, Katalonien weg von Spanien, aber pro EU mit dem Rest von jenem. Eine „europäische Republik“ wird propagiert als „Friedensprojekt“ und Rezept gegen Engstirnigkeit und Nationalismus – weil Großmächte so friedlich und antinational sind? Andere trommeln, die Mitgliedsländer müssten ihre Selbstbestimmung stärken – und mehr Rosinen aus dem Unionskuchen picken dürfen. In jedem Teich quakt und strampelt eins jeweils für das eine und das Gegenteil.

Alle aber wollen „drin“ bleiben in der Welt, die das Groß-Europa des weißen Manns für sich geschaffen hat mit seiner Weltherrschaft dank Kanonen und dem Kapital (und jeder Menge Kriege untereinander). Ob mit der Union von Klein-Europa, wie immer es auch aussehen mag, ohne oder gegen sie: Eins will seinen Anteil an der Welt, so wie er ist, natürlich, wie nötig und versprochen, ökologisch angepasst, aber jedenfalls nicht (noch) kleiner. Und für eine nicht geringe Mehrheit hierzulande und in Klein- wie Groß-Europa gilt, dass sie von einer halbwegs gleichen Teilung der zu konsumierenden Ressourcen unter alle Menschen weniger von all dem Zeug zu erwarten hätten, als die heutige, auch sehr ungleiche Verteilung ihnen zugesteht.


(Fortsetzung folgt)