Es kracht im Gebälk
von Lorenz Glatz
Seit den Siebziger Jahren sind die natürlichen und die gesellschaftlichen Fundamente der herrschenden Lebensweise im Kapitalismus dabei, sich aufzulösen. 1972 haben besorgte Wissenschaftler just in Europa, dem alten Zentrum und Ausgangspunkt dieser Wirtschafts- und Lebensweise, verkündet: „Die Menschheit hat die Ressourcen der Erde ausgereizt.“ Diese Feststellung des „Club of Rome“ hat einerseits eine lange Reihe von Konferenzen und Abkommen zum Umwelt- und Klimaschutz sowie zum sorgsamen Umgang mit den Ressourcen ausgelöst. Diese wurden bis heute nie eingehalten, ja wurden inzwischen z.T. aufgegeben und aufgekündigt. Andererseits hat die Verknappung der Ressourcen, wie zu erwarten, zugleich auch eine ungemeine Verschärfung und Steigerung der Konkurrenz um deren Ausbeutung zur Folge gehabt. Schließlich steht da mit den unübersehbar gewordenen „Grenzen des Wachstums“ ein kommender Herzstillstand des Kapitalismus und der ganzen auf ihm beruhenden und weithin akzeptierten Lebensweise durch das drohende Stocken der Verwertung und Geldvermehrung bevor. Im ersten Teil war die Rede von der massiven Verdrängung der Arbeit durch neue Technologien und dem daraus resultierenden sozialen Abstieg eines Großteils der Lohnempfänger. Damit verbunden vom explodierenden Reichtum der Spitzen der Gesellschaft sowie von der gleichzeitigen Fiktionalisierung der Verwertung und Geldvermehrung und den dadurch ausgelösten Krisen und Verwirrungen.
Dem sollen hier noch zwei Features dieser europäisch-globalen Lebenswelt angeschlossen werden. Zunächst darüber, wie aus diesen Verhältnissen für eine wachsende Millionenzahl von Menschen Vertreibung und Flucht entspringt. Und schließlich – in Tagesaktualität –, wie diese Verhältnisse sich unerwartet in der Covid-19-Pandemie zur möglicherweise schwersten Krise der kapitalistischen Ordnung zuspitzen.
Unmenschlichkeit
Das vergangene halbe Jahrhundert hat die Illusion einer „nachholenden Modernisierung“ für den Großteil der ehemaligen Kolonien und „unterentwickelten“ Länder platzen gesehen. Ein Abgrund klafft zwischen ihnen und den Gebieten, in denen die von Europa ausgehende kapitalistische Lebensweise durchgesetzt wurde und den größten Teil der dort lebenden Menschen integriert hat. Dieser Abgrund hat sich für die meisten Länder und Gegenden des „Trikonts“ in diesen Jahren noch immens geweitet. An den „Grenzen des Wachstums“ endet der „Wettbewerb“ noch nicht, sondern belebt weiterhin das Geschäft des „Starken“ auf Kosten des „Schwachen“. Als System frisst diese Ordnung sich selbst auf, bloß merkt der „Sieger“ das erst am Schluss.
Östlich und am Rande „Klein-Europas“, im Orient und in Afrika, sind spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Scheitern der US-Weltordnungskriege Gewalt und Krieg endemisch. Unlösbare Grenzkonflikte glosen und brennen, Lokalmächte geraten aneinander, Staaten zerfallen, werden aufgespalten, nicht wenige lösen sich auf in Reviere von religiös oder politisch drapierten Beutemachern oder einfach von Warlords mit ihren Banden.
Wo der staatlich-rechliche Rahmen für die Bereicherung auf Märkten bricht, schlägt diese um in offene Gewalt, und wenn an der Arbeit der meisten Menschen nichts mehr zu gewinnen ist, hat das Urbild des besoldeten Lohnknechts, der Soldat, immer noch Arbeit. Er ist jedoch nicht das Gegenbild der regulären Märkte, sondern in deren breite Ränder integriert. Für das Handwerkszeug und den Maschinenpark der Bereicherung in offener Gewalt und Krieg finden sich immer prompt „friedliche“ Lieferanten, solange in „westlichen Werten“, mit Euro und Dollar, bezahlt wird. Auch österreichische Firmen waren da in aktiver Neutralität des Landes in den Golf- und Jugoslawienkriegen der 1990 gut dokumentierte verlässliche Partner.
Die in diesem Geschäftszweig produzierte Kriegs- und Raubzugsbeute ist so wie die Erzeugnisse noch der schändlichsten Sklaven- und Zwangsarbeit an Märkten weltweit durchaus verkäuflich. Coltan z.B. steckt in jedem Handy, gut 80 Prozent davon findet aus Krieg, Gewalt und Vertreibung aus dem Herzen Afrikas seinen Weg auf reguläre Märkte, der IS lieferte sein erbeutetes Erdöl an die Türkei, deren Armee ihn (angeblich, zuweilen wirklich) bekämpfte und die letzten US-Soldaten in Syrien bewachen den Diebstahl von Erdöl durch ihren Staat. Am Ende steht ein Shakehands und eine Quittung: Geld stinkt nicht, wer bezahlt, hat seiner Verantwortung genügt, und Persilscheine sind wohlfeil zu haben. Allen scheinheiligen Reden zum Trotz: Auch das „friedliche“ Wirtschaften der Sieger in den Schlächtereien der letzten Jahrhunderte führt zuletzt zur fortschreitenden Zerstörung der Lebensmöglichkeiten der großen Mehrheit der Menschen.
Millionen von Menschen werden vertrieben (37.000 fliehen derzeit im Durchschnitt pro Tag aufgrund von Konflikten und Verfolgung, berichtet das UNHCR). Sie irren umher, manche versuchen in die Metropolen zu gelangen, die meisten scheitern an deren dicht gemachten Grenzen. Nach den UN-Zahlen waren Ende 2018 mehr als 70 Millionen auf der Flucht, um 5 Millionen mehr noch als im Jahr davor. Mehr als die Hälfte der Geflüchteten waren weniger als 18 Jahre alt. 40 der 70 Millionen sind jedoch nicht über die Grenzen „ihrer“ Länder hinausgekommen, und 80 Prozent derer, die das noch schafften, leben in einem Nachbarland. So haben etwa die afrikanischen Länder Sudan und Uganda zusammen 2,3 Millionen Menschen aufgenommen. Bis nach Deutschland, das so viele Einwohner hat wie jene beiden Länder gemeinsam, sind weniger als halb so viele Flüchtlinge gelangt. Uganda und Sudan aber haben laut IWF gerade einmal 1,5 Prozent von Deutschlands wirtschaftlichem Reichtum (BIP).
Die maßgeblichen Politiker im christlichen oder humanistischen Werten verpflichteten Europa reden angesichts all dieser Vorgänge und ihrer Verwicklung in sie (von Mitwissen bis aktiver Beteiligung) derzeit fast unisono von der „Abwehr“ „illegaler Migration“, sie „parken“ vier Millionen Geflüchtete in der Türkei, lassen andere im Mittelmeer ersaufen, auf griechischen Inseln in überfüllten Lagern zusammenpferchen oder in der libyschen Wüste aussetzen. Der hiesige christlich-soziale Regierungschef rühmt sich des „Schließens der Balkanroute“ und die brutalen Angriffe der griechischen Polizei auf Flüchtende werden als „Verteidigung der Grenzen Europas“ gepriesen. Ja, selbst nach dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie lehnt er es strikt ab, dass sich Österreich an der Evakuierung der griechischen Flüchtlingslager oder auch nur von dort festgehaltenen Kindern beteiligt.
Infektion
Dieses Europa und die anderen sich „zivilisiert“ nennenden Gegenden sehen sich nunmehr der Covid-19-Pandemie gegenüber. Sie überzieht unsere Gegenden in einer Intensität, die hier bisher nur aus Fernsehberichten über „die Welt da draußen“ bekannt war. Dieses Virus ist allerdings nicht bloß ein Naturding, sondern durchaus ein Kulturprodukt. US-Forscher warnen seit den Nullerjahren vor einer derartigen Pandemie. Die internationale Agrarindustrie praktiziert weltweit Massentierhaltung. Diese setzt die Tiere unter immensen Stress und schafft profitable, aber hoch gefährliche genetische Monokulturen. In denen sind die Viren nicht in immunologische Schutzwälle vielfältigen Lebens eingebettet, sondern vermehren sich, mutieren ungehemmt und springen auf andere Arten und auch Menschen über. Auch das Eindringen in das „Wildlife“ ursprünglicher Wälder für Jagd, Schlägerung, Bergbau, Straßenbau und Urbanisierung hat diesen Effekt. Ebola, Zika, Coronaviren, Gelbfieber, Borreliose, verschiedenste Vogelgrippen und die afrikanische Schweinepest sind einige der vielen Erreger. Sie sind aus entlegenem Hinterland in Stadtrandgebiete, in die regionalen Hauptstädte und schließlich in das globale Reisenetz gelangt. In diesem sind heute doppelt so viele Menschen unterwegs wie noch zu Beginn des Jahrhunderts. Mit dem „neuartigen Coronavirus“ findet sich unter den Produkten dieser Wirtschaftsweise nunmehr eines, das die erwähnte Warnung auch in der Weltgegend sowohl der Warner als auch der Hersteller wahr macht. Letztere freilich legen großen Wert darauf, die Pandemie als eine unvermeidliche Naturkatastrophe zu behandeln, die mit ihrem Tun keinen Zusammenhang hat.
Die „zivilisierte Welt“ ist angesichts ihrer von Jahrzehnten neoliberaler Ausrichtung ausgedünnten Gesundheitssysteme nicht vorbereitet. Vorsorge ist nicht profitabel. Auch die pharmazeutische Industrie konnte an Herzmedikamenten, Tranquilizern und Potenzmitteln besser verdienen als an der Entwicklung von neuen Virostatika, Antibiotika oder auch Heilmitteln gegen gewöhnliche tödliche Tropenkrankheiten. Die EU-Staaten haben aus denselben Gründen massenhaft Produktion in Billiglohnländer ausgelagert. Sie sind jetzt für medizinische Geräte und Stoffe auf die industriellen und personellen Ressourcen von Ländern wie China, Kuba und Russland angewiesen.
Sie brechen bedenkenlos ihre gemeinschaftlichen Regeln des freien Verkehrs, konkurrieren mangels Vorsorge um die plötzlich knappen Güter und sperren einander deren Ausfuhr. Statt dass in gemeinsamer Bemühung das Versäumte, so gut es noch geht, nachgeholt und alle Ressourcen in gegenseitiger Absprache aufgeboten werden, stehen im grenzenlosen Schengenraum Reisende wieder vor blank willkürlichen Schranken und die Binnen- wie die Außengrenzen sind zu, als ob das Virus erst käme und nicht schon im Land wäre. Nationalismus und Rassismus dienen als fadenscheinige Ablenkung von einem Systemversagen.
Die Regierungen verordnen der Bevölkerung Überwachung und martialische (und z.T. auch illegale) Umgangs-, Ausgangs und Verkehrsbeschränkungen. Diese haben freilich dramatisch verschiedene Auswirkungen, je nachdem, ob die Menschen in guter oder problematischer Gesellschaft oder überhaupt allein leben, ob in geräumigen Häusern und großen Apartments mit Gärten vor der Tür logieren oder in engen Kleinwohnungen, Altersheimen, Obdachlosenzelten und Flüchtlingslagern hausen.
Billionensummen werden für die „Stützung der Wirtschaft“, den „Erhalt der Arbeitsplätze“, ja schlicht schon fürs alltägliche Überleben zur Verfügung gestellt. Die globalisierte Geld- und Marktwirtschaft lahmt, ist an den Börsen abgestürzt und produziert in ihren Zentren vor allem Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit. Sie und die von ihr abhängige und nach ihr süchtige Gesellschaft sollen unter den immens verschärften Bedingungen funktions- und konkurrenzfähig gehalten werden – und das „gemeine Volk“ mit Versprechungen, dass „allen geholfen“ und „niemand zurückgelassen wird“, vor allem ruhig.
„Koste es, was es wolle“, ist nicht nur für Neoliberale eine verzweifelte Parole. Die Staatsschulden sind an den Finanzmärkten den Anlegern mit den Steuern abzustatten. „Die Wirtschaft“ jedenfalls „kann“ dafür kaum aufkommen, wenn sie in der zu erwartenden mörderischen Konkurrenz irgendwie bestehen will. Und sich das Geld bei den Massensteuern und durch Einsparungen zu holen, wird die Zahl der Menschen auch in den Metropolen anwachsen, wenn nicht explodieren lassen, die jenseits des Abgrunds stehen, der sie von den noch irgendwie in „die Wirtschaft“ Integrierten trennt. Die grassierende Fundamentalkrise unserer Lebensweise drängt ans Tageslicht.
Und welche Kur?
Macht, was ihr wollt, aber seid profitabel! Dieses einmal bei IBM ausgegebene Motto fasst zusammen, was Freiheit und Kreativität im Kapitalismus bedeutet. Alles, was in diesen Zeilen als für unser Leben schädlich angeführt wurde, kann unter dieser Parole hocheffizient angerichtet werden. Es macht wenig Sinn, ist aber der übliche Vorgang, dass Kritiker dann nach dem Staat und seiner Regulierung rufen. Der Staat hat in der Tat die Aufgabe, diese Freiheit und Kreativität so zu lenken, dass die Profitabilität des ganzen Getriebes und seine Dauer, heute meist „Nachhaltigkeit“ genannt, gefördert wird. Die Kriterien sind dabei nicht allzu streng, dafür sorgen die Funktionäre der Geldvermehrung mit allen ihren Mitteln. Anliegen, die durch dieses Nadelör passen, können aufgegriffen, andere müssen entsprechend verdünnt, unpassende abgewiesen werden. Dieser Umweg über das bzw. der Holzweg bis zum Gebot der Geldvermehrung macht eine friedliche Welt und ein gutes Leben für alle freilich unmöglich.
Andererseits ist es ermutigend zu erleben, wie viel spontane Hilfe etwa für alte Menschen in diesen Tagen der Ausgangssperre in nicht wenigen Häusern und Gemeinden organisiert wird. Auch gegen die Xenophobie rührt sich unverdrossen und ganz alltäglich einiges. Und es gibt, um nur bei den Beispielen dieses Texts zu bleiben, gegen die Agrarindustrie inzwischen weltweit eine zwar kleine, aber rührige Bewegung „solidarischer Landwirtschaft“, die das Anliegen „good food for all“ im gemeinsamen Tun der Gruppen dem Markt ein gutes Stück weit aus den Händen nimmt. Und es ist gut möglich und bitter nötig, in dem begonnenen Krisenschub auf diesem Weg voranzukommen.