Die neue Rücksichtslosigkeit I.
von Peter Klein
Der Gedanke, dass eine neue Art der Rücksichtslosigkeit auf der historischen Tagesordnung steht und in ersten Ansätzen auch schon wahrzunehmen ist, verlangt natürlich, damit er deutlich hervortreten und plausibel werden kann, dass wir zunächst einen Blick auf die alte Rücksichtslosigkeit werfen. Diese gehörte, wie man sich denken kann, zur Durchsetzung der modernen bürgerlichen Produktionsverhältnisse (machte sich bemerkbar), und sie wendete sich gegen jene Sitten und Gewohnheiten, in denen die Menschen der Vormoderne lebten. Obwohl es sich bei diesen Menschen gewiss nicht um Personen im Sinne des modernen Individuums mit seiner ebenso beweglichen wie labilen Psyche handelte, hat es sich doch eingebürgert, die seinerzeitigen Beziehungen zwischen den Menschen als „persönliche Abhängigkeitsverhältnisse“ zu bezeichnen. Wobei ich das Wort „eingebürgert“ mit Bedacht verwende. Ich verstehe es als Hinweis darauf, dass es in der Tat die Sichtweise der bürgerlichen Gesellschaft ist, die sich in den „persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen“ bemerkbar macht.
Es ist nämlich typisch für die bürgerliche Sicht auf die Vormoderne, dass dabei die seinerzeitige Metaphysik, in der Gott das Leben und die sozialen Beziehungen regierte – weniger verbindlich natürlich, als es das Geld heute tut, und in den höchst unterschiedlichen Formen des lokalen Brauchtums –, nicht sonderlich ernstgenommen wird. An die Stelle des ewigen Gottes pflegt der Bürger in der gleichen unhistorischen Manier seine eigene Metaphysik zu setzen: die ewigen Prinzipien des Menschenrechts, in denen alle Menschen gleichermaßen frei sind, ihrem eigenen Willen zu folgen und ihr Leben in eigener Verantwortung zu gestalten. Diesen freien, von allgemein geltenden Gesetzen regierten Menschen sucht der Bürger in den vormodernen Zeiten vergeblich. In dem bunten Flickenteppich von Herrschaftsbezirken, in denen die Menschen je nach Stand und Gewohnheit höchst unterschiedlich mit Berechtigungen und Pflichten ausgestattet waren, fehlt es an der Form des allgemeinen Gesetzes, dem laut Kant obersten Prinzip aller Moral und allen Rechts. Somit ergibt es sich für den bürgerlichen Standpunkt von selbst, dass jene Zeiten „schlecht“ waren und moralisch zu verurteilen sind. Lebensverhältnisse, die sich über Jahrhunderte kaum veränderten, erhalten den Stempel der „Willkürherrschaft“ aufgedrückt, und Gott erscheint als eine einzige Lüge, als ein Betrugsmanöver, das sich die herrschenden Klassen ausgedacht haben, um das „Volk“ dumm, demütig und dienstbar zu halten.
Die Durchsetzung der neuen, auf den von allen natürlichen und sozialen Attributen entblößten „Menschen“ zugeschnittenen Organisationsprinzipien war für ihre Protagonisten also ein moralisches Unternehmen. Entsprechend leicht fiel es ihnen, rücksichtslos und unbarmherzig zu sein. Man hatte es ja mit Verbrechern und Schurken zu tun. „Das Königtum“, so Saint-Just in seinem Plädoyer für die Verurteilung Ludwigs XVI., „ist ein ewiges Verbrechen, gegen welches jeder Mensch sich zu erheben und zu waffnen das Recht hat …“ (Rede vom 13. Nov. 1792, in: Reden der Französischen Revolution, hrsg. von Peter Fischer, München 1974, S. 221). Der Übergang vom moralischen Knüppel, den man im ideologischen Gepäck hatte, zur Anwendung von allerlei handgreiflichen Knüppeln war schnell gemacht. Wer in Marats Ami du Peuple als Verräter oder als Feind der Freiheit bezeichnet wurde, oft mit Namen und Adresse, befand sich in Todesgefahr. „Wer morgens von ihm (Marat) genannt wurde, konnte abends erschlagen sein“ (J. Michelet, Geschichte der Französischen Revolution, Bd. 2, S. 17). Nicht nur die „gnädigen Herrschaften“ hatten den Volkszorn zu fürchten, sondern auch diejenigen, die ihnen in alter Anhänglichkeit dienten und im Namen der gottgewollten Ordnung die Treue hielten. Der royalistische Aufstand in der Vendée, getragen von einer weitgehend analphabetischen Landbevölkerung, forderte bei seiner Niederschlagung an die 300.000 Menschenleben, und es gibt Historiker, die das Wüten der Revolutionstruppen mit dem Ausdruck „Völkermord“ belegen.
Von Hegel stammt das Wort „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören“. Es bezieht sich auf diese stürmische Phase der Französischen Revolution, auf jenes Jahr der Terreur 1793/94, in dem es die Guillotine zur internationalen Berühmtheit brachte: „Der Fanatismus der Freiheit, dem Volke in die Hand gegeben, wurde fürchterlich“ (Hegel, Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 20, S. 331). Aber natürlich passt dieser Ausspruch auch auf viele andere der Gewaltexzesse, die im Verlaufe der Entwicklung zur modernen Gesellschaft aufgetreten sind. Wo und wann immer die bürgerlichen Allgemeinbegriffe zur ideologischen Munition empörter Massen wurden, gab es heftige Zusammenstöße mit jenen „zurückgebliebenen“ Bevölkerungsgruppen, die sich aus der ärmlichen, oft aber bequemen (auch geistig bequemen) Enge der gewohnten Lebensweise nicht fort bewegen mochten oder konnten. Die russische Revolution passt in dieses Schema ebenso wie etwa die chinesische Revolution oder der amerikanische Bürgerkrieg mit seinen 700.000 Toten. Überall waren die bürgerlichen Ideen der Rechtsgleichheit und der (meist als „Volk“ firmierenden) staatlichen Allgemeinheit im Spiel. Der „abstrakte Mensch“, der aufgerufen war, das Herrschen feudaler Cliquen sich nicht mehr gefallen zu lassen, und der auf das Wohl der gesamten Menschheit zielte, forderte Millionen von Opfern unter den konkreten Menschen – selbstverständlich auf beiden Seiten der Front, unter den Altgläubigen ebenso wie unter den opferbereiten Anhängern des neuen Glaubens. Auch die unter Namen wie Faschismus oder Nationalsozialismus firmierenden Modernisierungsdiktaturen konnten mit ihrer vermeintlich konkreten, nämlich rassisch-stammesmäßigen Auffassung des Volks-Begriffes den brutalen Sinn der Veranstaltung nicht lange verbergen.
Im Anschluss an die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, mit denen das Zeitalter der Massenideologien wohl seinen Höhepunkt und Abschluss gefunden hatte, legten sich die politischen Leidenschaften. Die Menschen waren jetzt hinlänglich domestiziert, um sich das Zaumzeug der bürgerlichen Abstraktionen rein als solches gefallen zu lassen – ohne die Droge der welthistorischen Mission, die ihnen als Mitglied einer Nation, Klasse oder Rasse von „blutrünstigen Gelehrten“ (Michail Prischwin in seinen Tagebüchern, SZ vom 17.1.2020) verabreicht worden war. Der expandierende Kapitalismus brachte den Übergang zum Massenkonsum mit sich (Stichwort: Fordismus), sodass sich die Lohnarbeit, flankiert von den Einrichtungen des Sozialstaats, endlich zu lohnen schien. Freiheit und Gleichheit zogen in den Alltag ein. Was sie in ihrem ökonomischen Kern bedeuten, wurde von den Bewohnern der westlichen Demokratien praktisch eingeübt: Sich als vereinzeltes Individuum auf den Markt begeben, in einer beliebigen Branche Geld verdienen und das gegen die Arbeitskraft eingetauschte Geld, frei wählend unter einer Fülle von Konsumartikeln, wieder ausgeben – das ist die Alltagspraxis, mit der sich das Bewusstsein der individuellen Freiheit verbreitete. Das bürgerliche Individuum, das die kritischen Begleiter des Massenzeitalters (Max Weber, Max Horkheimer/Theodor W. Adorno) zu ihrer Zeit hatten untergehen sehen, tauchte auf diese Weise – freilich in einer etwas reduzierten Version – wieder auf, und zwar massenhaft. Die weniger kritischen Beobachter unserer Zeit sehen darin den Beleg für die Wertschätzung, die das Individuum und seine Würde in den Zeiten des demokratischen Kapitalismus genießen.
Tatsächlich wurde damit aber nur ein höheres Niveau der abstrakten Vergesellschaftung erklommen, vermutlich das höchstmögliche überhaupt. Die Individuen werden von der staatlich verordneten bzw. gesicherten Freiheit auf den Standpunkt der vereinzelten oder privaten Rechtsperson festgelegt, die nur für sich selbst Verantwortung trägt und nur ihr eigenes Fortkommen zu besorgen hat. Auf diesem Standpunkt abstrahieren sie laufend vom Gesamtresultat ihres Tuns, wie es sich in der stofflichen Wirklichkeit darstellt. Hegels Ausspruch über die in der Wirklichkeit geltend gemachte Abstraktion gilt heute somit in einem viel umfassenderen Sinne als zu seiner Zeit. Das Verdikt trifft inzwischen die bürgerliche Gesellschaft als ganze, es trifft das kapitalistische Weltsystem, das seither entstanden ist. Man braucht sich nur die brennenden Wälder in Amazonien vor Augen zu halten, den Plastikmüll in den Ozeanen, die im Gang befindliche und bereits zu massiven Ernteausfällen führende Klimakatastrophe und überhaupt die Zerstörung und Vergiftung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, des Wassers, des Bodens, der Luft, um zu diesem Schluss zu gelangen. Denn es ist ja der abstrakte Geldreichtum, der die moderne Gesellschaft bewegt und der um seiner stetigen Vermehrung willen die industrielle Produktion über jedes menschliche Maß hinaus gesteigert hat – ohne Rücksicht auf die physiologischen Bedürfnisse lebendiger Wesen. Und es sind gerade die modernen Ware-Geld-Individuen, die, indem sie friedfertig im Rahmen von Freiheit und Gleichheit funktionieren, die kapitalistische Maschine am Laufen halten und dafür sorgen, dass sie ihre zerstörerisch wirkende „Produktivität“ immer noch weiter steigern kann.
Der Privatwille als allgemein geltendes Organisationsprinzip
Sie wollen es nicht, aber sie tun es. Und sie tun es, weil und indem sie von der Subjektform des freien Willens okkupiert sind. Denn diese Subjektform gehört unvermeidlich zur Warenform der Produktion, die ja erst der Kapitalismus verallgemeinert hat. Ebenso wie das Geld, die allgemeine Ware, die sich in ihrer Funktion als Kapital zum automatischen Subjekt der modernen Gesellschaft aufgeschwungen hat, ist der Wille, soweit er konstitutiv ist für das freie Individuum, eine Abstraktion mit der Tendenz zur Verselbständigung. Man kann sich dies leicht klar machen anhand der elementaren Figur des gleichen oder gerechten Tausches, der dem Kaufvertrag und letztlich wohl allen Arten von Verträgen zugrunde liegt. Nicht nur die Dinge, die getauscht werden sollen, werden dabei auf eine von ihrer stofflichen Gestalt verschiedene Substanz, nämlich ihren „Wert“, reduziert, die gleiche Reduktion erleidet der Wille, in dem die Tauschenden übereinkommen. Dieser gemeinsame Wille ist rein eine Sache der Transaktion als solcher. Er bezieht sich also nicht auf das jeweilige Bedürfnis, das die Kontrahenten dazu veranlasst, den jeweiligen Gegenstand zu „wollen“. Von dieser Wirklichkeitsebene der Motive und Bedürfnisse wird bei dem Vorgang des Tauschens oder Kaufens gerade abstrahiert. Wozu ich das soeben erworbene Brotmesser (oder – mit Blick auf die USA: die halbautomatische Waffe) zu verwenden beabsichtige, geht den Verkäufer, dem es nur um die Bezahlung zu tun war, nichts an. Und umgekehrt brauche ich, als sein Käufer, nicht zu wissen, wer alles und unter welchen Bedingungen bei der Herstellung des Produkts mitgewirkt hat.
Je dichter das Netz der Ware-Geld-Beziehungen geknüpft wurde, je weiter es sich ausspannte, desto mehr wuchs die Bedeutung dieses von jeder Bestimmtheit freien Willens, der über das Warum und Was, das er will, niemandem Rechenschaft abzulegen genötigt ist. Die Tendenz der Verselbständigung dieses Willens zu einem eigenen Wert, in dem sich die Menschen wechselseitig als frei voneinander anerkennen und einander gleichgestellt sind, wurde mit dem Werden der bürgerlichen Gesellschaft immer deutlicher. Die „Bestimmung des Menschen“, so verkündeten ihre ideologischen Protagonisten schließlich mit Emphase, sei die „Freiheit“. Freilich: die Grundlage dieser Entwicklung war die Alltagspraxis. Und in der haben die Menschen seit jeher „gewollt“, nämlich etwas: Dinge, die sie brauchten, nötig hatten, wünschten, begehrten, ersehnten, liebten etc., wie es sich aus der jeweiligen Situation und dem gegebenen Stand der Produktivkräfte eben ergab.
Es war daher ein großer Gedanke von Kant, dem „Wollen überhaupt“ einen eigenen Stellenwert bei der Organisation der bürgerlichen Gesellschaft zuzuweisen. Ungeachtet der vielfältigen Unterschiede in den je konkreten Zwecken, die die Menschen verfolgen, stelle dieses „Wollen überhaupt“, und zwar um seiner selbst willen, den allgemeingültigen Rahmen dar, der ihnen als etwas, das in moralischer und rechtlicher Hinsicht objektiv und immerdar „richtig“ ist, zur Orientierung dienen sollte. Das Bewusstsein von einem eigenen Willen, gleichbedeutend mit der Fähigkeit, sich – abstrahierend von den realen Bedingungen, denen man in der empirisch-konkreten Welt immer schon unterworfen ist – als autonom wirkende Ursache (Causa noumenon) zu denken, als abstraktes „Ich will“, sei nämlich bei allen „vernünftigen Wesen“ das gleiche. Es führe von selbst zu der Idee des „allgemeinen Gesetzes“, das auf dem „Felde der Sitten“ als das oberste regulative Prinzip anzusehen sei, weil darin eben der freie Wille eines jeden Individuums gewissermaßen enthalten und als solcher anerkannt ist. Befehle oder Vergünstigungen der jeweiligen Obrigkeit, die sich lediglich an Einzelne wenden, seien dem Wesen dieser „praktischen Vernunft“ nicht angemessen.
Darin, wie sie erscheint, verschwindet die Abstraktion
Groß war dieser Gedanke, weil er in die Richtung weist, die die reale Entwicklung, nämlich zum modernen Rechtsstaat, tatsächlich genommen hat. Aber diese Entwicklung fand natürlich nicht um des Kant’schen Gedankens willen statt. Wer kann sich schon bewusst und ausdrücklich für die Herrschaft von Abstraktionen einsetzen? Kant selbst, der dieser Position noch am nächsten kommt, besteht darauf, dass das Wollen immer nur im Einzelnen betrieben und nur auf konkrete Gegenstände oder Projekte gerichtet werden kann. Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene gibt es nur das moralische Gebot der Allgemeinheit oder Allgemeinverträglichkeit, der die einzelne Willensentscheidung entsprechen soll, aber niemanden, der die Entwicklung des freien Willens zum bestimmenden Element der bürgerlichen Gesellschaft verordnen oder erzwingen könnte. Weder die Guillotine noch irgendwelche Bombergeschwader sind dabei hilfreich. Wie ein solcher Zustand herbeizuführen sei, in dem das Gebot der Allgemeinheit die gesellschaftliche Realität also faktisch bestimmt, der freie Wille also tatsächlich allgemein praktiziert wird, „das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend“ (Grundlegung, S. 99).
Es war, wie wir seit Marx wissen, der expandierende Kapitalismus und sein Bedarf an rechtlich freien Arbeitskräften, der dies bewirkt hat. Auf der einen Seite entstand ein immer weiter sich ausdifferenzierendes Rechtssystem, auf der anderen die daran angepasste Rechtsperson, deren Beziehungen zu anderen Menschen mehr und mehr zu freiwillig eingegangenen Vertragsbeziehungen wurden. Dieser Formgebungsprozess betrifft das Wesen der bürgerlichen Vergesellschaftung, verlief aber eher unauffällig. Er fand gleichsam hinter dem Rücken der politischen Haupt- und Staatsaktionen statt, die mit lautem Getöse den Vordergrund des historischen Geschehens ausfüllten. Eben weil das „Wollen überhaupt“ für sich genommen keinen Inhalt hat, macht es nicht viel von sich her. Es führt zum „eindimensionalen Menschen“ (Herbert Marcuse), nämlich zu einem Standpunkt der entsprechend geformten Individuen, der buchstäblich ein Punkt ist, ein immerwährender Ausgangspunkt. Und der weist natürlich von sich weg und zu allen Arten von Gegenständen hin, die irgend empirisch-handgreiflich sind (oder so gedacht werden) und also „gewollt“ werden können. Dass solche Gegenstände reichlich und in großer Vielfalt vorhanden sind, ist dieser Konstellation vorausgesetzt. Ein Lob also der kapitalistischen Warenproduktion, die sie gleichsam bedient bzw. ihre Voraussetzung und in ihr wirksam ist. Der Kapitalismus sorgt dafür, dass die „praktische Philosophie“, die nach Kants Eingeständnis ja nicht weiß, wo ihre Ideen herkommen, auch tatsächlich praktisch funktioniert.
Jedenfalls ist irgendwann der Zeitpunkt erreicht, da den Soziologen auffällt, dass es in der „freien“ oder „offenen Gesellschaft“ lebhaft, quirlig und bunt zugeht. Und dass hier jener Menschentyp verbreitet ist, der perspektivisch denkt, der Pläne schmiedet und Konzepte entwickelt, der ehrgeizig ist und zielstrebig, der seinen sozialen Status verbessern und „aus sich etwas machen“ will. Schon Tocqueville hat dies bemerkt, als er die amerikanischen Südstaaten, in denen das von der Arbeit der Sklaven gespeiste Leben ruhig und behäbig dahinfloss, mit der Geschäftigkeit des Nordens verglich. Dass der Praktiker des freien Willens hinsichtlich der gesellschaftlichen Form, in und mit der er agiert, nicht reflektiert ist, versteht sich von selbst. Für ihn sind die konkreten Dinge und Projekte wichtig, auf die er sein Interesse richtet: der Beruf, die Liebe, alle Arten von Hobbys und Plänen zur Lebensgestaltung. Vom Computerfreak über den Fußballfan bis zum überzeugten Veganer und Tierschützer, die Elternschaft nicht zu vergessen: Ihre Identität beziehen die Menschen von dem Etwas, das sie sich aus den vielen Möglichkeiten, die das „moderne Leben“ ihnen bietet, herausgepickt haben und, frei in ihrem privaten Wollen, immer wieder aufs Neue herauspicken können. Die gesellschaftliche Form, die sie als Ware-Geld-Individuum kennzeichnet, gibt dafür als etwas, das ohnehin allgegenwärtig ist, nichts her. Sie schmuggelt sich unauffällig unter die handgreiflichen Dinge, die sie für erstrebenswert halten. Was ein existenzielles Erfordernis ist, zum Beispiel die Luft zum Atmen, und was die gesellschaftliche Form verlangt, etwa die Passwörteritis im Internet, mit der ausgerechnet in diesem Medium höchstmöglicher Vergesellschaftung die aus dem 18. Jahrhundert stammende „Privatsphäre“ ebenso simuliert wie geschützt werden soll, geht in den bürgerlichen Köpfen wild durcheinander. Auf letztere aber, auf die Form der Privatheit, kommt es für das Funktionieren des kapitalistischen Systems natürlich an.
Der vormoderne Mensch wurde in seine Identität gewissermaßen hineingeboren. Sitte, Brauch und Herkommen sagten ihm, was sich für ihn als Bauer oder Melkmagd, als Bürger oder zünftigen Handwerker ziemt und gebührt. Die Frage nach dem „eigenen Ich“ und wie es zu leben habe, tauchte gar nicht erst auf, oder doch nur bei wenigen. Aus dieser Enge, mit der auch eine gewisse Sicherheit und Bequemlichkeit verbunden war, ist das moderne Ware-Geld-Individuum entlassen bzw. vertrieben worden. Gleichsam als Ersatz oder Entschädigung dafür entwickelte es die Fähigkeit, sich mit allem Möglichen zu identifizieren. In der Formulierung „sich mit etwas“ identifizieren gibt sich die ansonsten stumm bleibende Abstraktion „Ich will“ als der Ausgangspunkt der Veranstaltung zu erkennen. Im Resultat aber, das sich als die besondere Eigenart, Begabung, Liebhaberei dieser besonderen Person oder Persönlichkeit präsentiert, ist sie zunächst einmal verschwunden. Auf die Beschaffenheit dieser gemachten oder gewollten Identität, sekundär muss man sie wohl nennen, kann ich hier nicht weiter eingehen. Sie ist naturgemäß wackelig und bereitet den modernen Individuen, die „ihr Ding“ oft ja auch gar nicht finden können, die entsprechenden Probleme. Wichtig ist nur, dass sich an der logisch vorangehenden oder eigentlichen Identität (die historisch natürlich zuletzt kommt), dem abstrakten Ich, das in die Ware-Geld-Bewegung eingebunden ist, dabei nichts ändert. Es wirkt im Hintergrund und dadurch nur um so zuverlässiger. Es braucht unsere Aufmerksamkeit nicht, weil es längst schon automatisch funktioniert. Wir können meinen, was wir wollen, wir können Bekenntnisse ablegen, religiöse oder politische, soviel wir wollen, wenn nur das apriorische Ich intakt ist. Immer schon dem Gelderwerb verpflichtet, möchte es aus jeder Charaktereigenschaft am liebsten gleich ein „Geschäftsmodell“ machen. Unter der bunten Oberfläche lauert die Abstraktion. „Tritt nicht auf das Laub, darunter wohnt das Grauen“, heißt es bei Element of Crime. Und in den Zeiten des totalen Marktes schimmert es natürlich immer deutlicher durch die Charaktermaske hindurch, mit der wir uns die stumpfsinnigen Imperative der kapitalistischen Geldbewegung erträglich zu machen suchen.
Je deutlicher sie sichtbar wird, die Kette der Abstraktion, desto leichter sollte es uns fallen, sie direkt als solche aufs Korn zu nehmen, desto mehr drängt sich schon rein physisch oder physiologisch die Notwendigkeit auf, rücksichtslos gegen sie zu verfahren und sie abzuschütteln. Die Gelegenheiten häufen sich, bei denen das existenzielle Bedürfnis, zum Beispiel nach einem Dach über dem Kopf, und die Abstraktion, nämlich die Notwendigkeit des Kapitals, sich zu verzinsen, einander als unvereinbare Alternativen schroff gegenüberstehen. Das Geld, das vielen Menschen noch als Mittel zum Leben gilt, erfahren sie in der Praxis des Alltags zunehmend als ein raffiniert ausgetüfteltes System, es zu vergiften. In dem Film „Sorry we missed you“ von Ken Loach wird dies beispielhaft vorgeführt. Jene Situation reift heran, die schon der junge Marx im Blick hatte, als er der Kant’schen Religionskritik den folgenden Sinn beilegte: „Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW Bd. 1, S. 379)
Ausblick
Zu den „imaginären Blumen“ an der Kette der Abstraktion gehört sicherlich auch der „politische Wille“ und der Glaube, dass er die Gesellschaft, wenn sich nur die Mehrheit der Menschen einig ist, in beliebiger Richtung verändern kann. Seitdem die Politik direkt und unverhohlen zum Bestandteil der kapitalistischen Geldbewegung geworden ist, seit der Weltkriegsepoche eben und seit den Tagen von John Maynard Keynes, hat dieser Glaube eigentlich keine Substanz mehr. Ein einheitliches politisch-ökonomisches System ist entstanden, in dem alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen den Status von gleichberechtigten Privatpersonen besitzen, deren Interessen und Bedürfnisse, ob sie es wollen oder nicht, den Umweg über das irgendwie zu verdienende Geld nehmen müssen. Die Manager des öffentlichen Wohls können genauso gut Manager in irgendwelchen Industriekonzernen sein wie umgekehrt. Und die Kriterien, an denen sie ihre Entscheidungen ausrichten, sind überall die gleichen: „Wachstum“ und „Arbeitsplätze“ lauten die Zauberworte, wofür es natürlich eine international konkurrenzfähige Industrie braucht, die, von Steuern möglichst wenig belastet, die notwendigen Gewinne zu machen versteht. Nach Opfermut und Märtyrertum ist niemandem mehr zumute. Dergleichen Dinge überlässt „der Westen“ gerne jenen Regionen der Erde, die nicht das Privileg haben „dazuzugehören“. Hierzulande geht man in „die Politik“ mit der gleichen privaten Motivation, mit der man sich auf jeden anderen Karriereweg begibt.
Trotzdem werden die alten politischen Richtungsbezeichnungen, die in und seit der französischen Revolution entstanden sind: links und rechts, liberal und konservativ, fortschrittlich und reaktionär etc., in der öffentlichen Debatte noch häufig verwendet, trotzdem ziehen sie immer noch die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf sich. Im zweiten Teil des Artikels will ich zeigen, wie der „politische Wille“ bei allen Unterschieden in den Vorstellungen und Konzepten der seinerzeitigen Akteure, die ganz woanders hinzielten, zur Herstellung des demokratischen Kapitalismus beigetragen hat. Und dass die „neue Rücksichtslosigkeit“ sich auch gegen die lieb gewonnenen Denkschablonen und Verfahrensweisen dieses „politischen Willens“ wird richten müssen. Die existenziellen oder stofflichen Probleme, die uns die abstrakten Imperative des Kapitalismus eingebrockt haben, lassen sich nur konkret bewältigen, die abstrakten Prinzipien der Demokratie dienen der Ablenkung von diesen Problemen, nicht ihrer Lösung. Die Natur ist kein Prinzip und kein Interessensubjekt.