Ausgestorben – Verewigt
von Maria Wölflingseder
Ausgestorben
Die Vorschriften, die uns anlässlich „Corona“ gemacht werden, sind ein weiterer großer Schritt auf dem längst eingeschlagenen Weg der digitalen Überwachung, Steuerung, Verfolgung, Kontrolle, und somit der Kategorisierung, Normierung, Standardisierung des Menschen. Nicht zuletzt weil wir der Optimierungsidee erlegen sind, ist es ein Leichtes, aus uns Befehlsempfänger zu machen, die jegliches Hinterfragen verlernt haben.
Junge Menschen haben kaum mehr Gelegenheit, die Welt und Liebe, Sex und Sinnlichkeit selber zu entdecken. Heute wird ihnen via Medien alles vorprogrammiert serviert, ja aufgedrängt. Sie werden nicht nur mit Reizen aller Art überflutet, sondern stecken auch in einem ganz neuen Korsett von Normen und Zwängen. Ihr Leben ist von klein auf von früh bis spät getaktet. Der Leistungsdruck ist enorm. Bereits viele SchülerInnen und StudentInnen leiden an Erschöpfung, Angst und Depression. Um ins Erfolgsschema zu passen, uniformieren wir uns bereitwillig bis zur Ununterscheidbarkeit – innerlich und äußerlich. – Ein wahrliches Kaleidoskop an Originalen, an markanten Charakteren hingegen – wie einer anderen Welt entsprungen – dürfen wir im neuen 700 Seiten starken Buch „Flugs in die Post! Ein abenteuerliches Leben in Briefen“ kennenlernen. Der Verfasser selbst, der englische Reiseschriftsteller und Philhellene Patrick Leigh Fermor (1915–2011) wird von seinem Kollegen Lawrence Durrell als „so ziemlich der hinreißendste Spinner“ bezeichnet, dem er je begegnet ist. Und Freya Stark, renommierte Forscherin und Orientreisende, beschreibt ihre Begegnung mit Fermor mit den Worten: „In diesem weinfarbenen Meer sah Paddy so sehr aus wie ein niederer Meergott aus der Spätzeit des Hellenismus, und ich mag ihn wirklich sehr. Er ist ein richtiger Korsar.“
Die Eigenschaften, mit denen der Autor beschrieben wird, und jene, mit denen er seine Freunde und Freundinnen charakterisiert, zeugen von einer schier ausgestorbenen Art, von Menschen mit Charme und Witz, von Menschen, denen der Schalk im Nacken sitzt. Nicht nur äußerliche Reize betören, sondern vor allem Klugheit, Esprit, Humor, Neugierde, Mut, Selbstironie und die ganz speziellen – mitunter skurrilen – Attribute jedes Einzelnen.
Ohne jeden Dünkel war Fermor in der englischen Aristokratie genauso zu Hause wie bei den Partisanen auf Kreta. Er verstand sich mit Menschen aus unterschiedlichen Milieus blendend. Selber lange Zeit ohne große finanzielle Mittel, übernachtete er nicht nur als 18-Jähriger bei seinem Fußmarsch von Amsterdam nach Konstantinopel (1933–35) außer in Schweineställen bei Bekannten auf Schlössern und Landgütern. Auch viele Jahrzehnte nach dem Krieg gewährten ihm Freunde in ganz Europa Unterschlupf zum Schreiben, wenn er nicht gerade auf Reisen war.
Verewigt
Paddy, wie Fermor genannt wurde, hat nicht nur dicke Bücher, sondern mit besonderer Leidenschaft auch 5.000 bis 10.000 Briefe verfasst – allesamt, Bücher wie Briefe, mit der Füllfeder auf zurechtgeschnittenen cremefarbenen „wahrhaft titanischen Papierbögen“, die nur bei Lechertier Barbe in der Londoner Jermyn Street erhältlich waren. Mittels Korrespondenz, die oft versteckte Zitate, originelle Zeichnungen und Wortspiele enthielt, wollte er seine Geselligkeit auch über große Entfernungen hinweg aufrecht erhalten. Die Briefe lesen sich wie hingebungsvolle Berichte aus seinem Leben. Er lässt sich aber auch „ganz auf das Gegenüber ein“ (Hg. Adam Sisman). Briefe waren ihm „heilig“ und auch seine Bücher schrieb er „im Grunde nur für ein halbes Dutzend Menschen“, hoffend, dass sie ein paar anderen vielleicht auch gefallen. Dieses so sehr Selbst-sein ist wohl das Geheimnis der spürbaren Nähe, der ansteckenden Freude, Heiterkeit und Lust. Auch gelegentliche Melancholie oder Depression schimmern durch. – „Briefe gehören“, wie Goethe bemerkte „unter die wichtigsten Denkmäler, die der Mensch hinterlassen kann“.
Spätestens seit 20 Jahren, seit die Digitalität unseren Alltag fest im Griff hat, ist das geruhsame Briefeschreiben etwas höchst Antiquiertes. Stattdessen wird jeder Furz, jede neu aufgespritzte Lippe, jedes Wimmerl am Arsch in Echtzeit in die Welt übertragen. Fördert das Freundschaften? Oder geht es nur darum, wer hip genug ist, um auf Social Media zu bestehen? In der realen Welt rennen wir längst mit Scheuklappen durch die Gegend. Die anderen würdigen wir keines Blickes, aber die Überwachungskameras haben uns ständig im Blick. Der Nächste ist nicht mehr nur ein lästiger Konkurrent, sondern nun auch ein potentieller lebensbedrohlicher Virenträger.
Für Paddy war es „ein Jammer, dass man alles im Leben nur einmal zum erstenmal machen kann“. In Juni 1959 beschreibt er – eine seiner magisch leichtfüßigen Naturschilderungen – nach einer nächtlichen Autofahrt in Italien den „wunderbaren Sommermorgen“, der „über dem Tyrrhenischen Meer und den Kornfeldern der Maremma“ zum Leben erwacht, „die Karmin- und Zink- und Krokustöne“, die „bunten Fetzen jenseits der schwarzen Türme von Tarquinia“. „Ich frage mich, wie viele aufregende jungfräuliche Erfahrungen wohl noch auf mich warten.“
Mit jungfräulichen Erfahrungen ist es heute schwierig geworden, weil der Mensch von klein auf, noch bevor er Gelegenheit hat, sich und die Welt kennenzulernen, alles via Internet auf’s Aug’ und ins Hirn gedrückt bekommt.
Patrick Leigh Fermor: Flugs in die Post! Ein abenteuerliches Leben in Briefen, aus dem Englischen von Manfred und Gabriele Alliè, Dörlemann Verlag, Zürich 2020.