Strukturkrise der Marktwirtschaft und gesellschaftliche Emanzipation
von
Michael Beykirch
Seit
2008/09 beherrschen Staatsschulden- und Währungskrisen die
europäische und internationale Medienlandschaft. Folgen wir den
regierenden Parteien, dann handelt es sich bei diesen um
vorübergehende Krisen. Es entsteht der Eindruck, die Politik und die
nationalen WährungshüterInnen haben alles unter Kontrolle. Doch
welche Perspektiven ergeben sich aus der internationalen
Schuldenkrise? Was sind ihre tieferliegenden Ursachen und welche
Möglichkeiten gibt es, aus dieser herauszukommen? Einen hilfreichen
Ansatz zur Beantwortung dieser Fragen liefern wertkritische
Krisentheorien (Lohoff 2016; Lohoff & Trenkle 2012; Kurz 2012;
2007; 1995). Diesen zufolge handelt es sich weder um vorübergehende
finanzielle Schwierigkeiten einzelner Länder noch um ein
Fehlverhalten bestimmter PolitikerInnen, sondern um eine
Strukturkrise des globalen warenproduzierenden Systems, kurz: der
Marktwirtschaft.
Sektorenübergreifende Verdrängung der Lohnarbeit
Der
Ausgangspunkt der Strukturkrise geht bis in die 1970er Jahre zurück.
Mit dem Aufkommen der dritten Industriellen Revolution, also der
Einführung der Mikroelektronik, der Informations- und
Computertechnologien in der Industrieproduktion, hatte die
Verdrängung der lebendigen Arbeitskraft in der Herstellung von Waren
historisch neue Dimensionen angenommen. „Die
,mikroelektronische Revolution‘ eliminiert nicht nur in dieser oder
jener spezifischen Produktionstechnik lebendige Arbeit in der
unmittelbaren Produktion, sondern erstmals auf breiter Front und quer
durch alle
Produktionszweige hindurch, selbst die unproduktiven Bereiche
[Handels-, Banken- und Dienstleitungssektor, eigene Anm.] erfassend.
Dieser Prozess“,
so schrieb Robert Kurz bereits im Jahr 1986, „hat
gerade erst angefangen und wird erst in der zweiten Hälfte der
achtziger Jahre richtig greifen. Vermutlich wird er noch bis zum Ende
des Jahrhunderts und darüber hinaus dauern.“
(Kurz 1986, Hervorhebung im Original) Während auf der einen Seite
die Produktivitätspotentiale der gesellschaftlichen Produktion enorm
stiegen und immer größere Warenmengen in kürzester Zeit
hergestellt werden konnten, waren auf der anderen Seite immer weniger
Menschen für die Herstellung der Produkte notwendig.
Was vom Standpunkt der gesellschaftlichen
Bedürfnisbefriedigung wie eine Befreiung vom Joch der Arbeit klingt,
ist vom Standpunkt der kapitalistischen Unternehmen jedoch der Entzug
der Existenzgrundlage. Denn anders als die meisten Bücher und
ÖkonomInnen der konservativen Volkswirtschaftslehre es vorgeben, ist
nicht die Herstellung von Gütern für die Bedürfnisbefriedigung der
Menschen der übergeordnete Zweck der Produktion, sondern die Geld-
und Kapitalvermehrung (Lohoff & Trenkle 2012: 22). Die
Geldvermehrung aber wird in Anbetracht der Verdrängung der
lebendigen Arbeitskraft durch die mikroelektronische Revolution immer
schwieriger. Um zu verstehen, warum das so ist, muss der enge
Bezugsrahmen der Volkswirtschaftslehre verlassen werden, demnach Geld
ein neutrales und praktisches Mittel zur Steuerung der
Güterproduktion und zur Erleichterung des gesellschaftlichen
Austausches ist. Gemäß der Werttheorie, die von Marx begründet
wurde, ist Geld Ausdruck sozialer Verhältnisse und abstrakter
Reichtum (vgl. Lohoff 2018). So tauschen in einer Gesellschaft aus
zersplitterten und isolierten PrivatproduzentInnen letztere ihre
Produkte auf der Grundlage des Arbeitsaufwandes aus, der für ihre
Herstellung notwendig ist und sich im Preis einer Ware widerspiegelt.
Mit der zunehmenden Verdrängung der lebendigen Arbeitskraft aus der
Produktion durch Maschinen wird jedoch der menschliche Arbeitsaufwand
immer geringer und die Quelle des abstrakten Reichtums versiegt.
Praktisch
ist das an den historisch sinkenden Wachstumszahlen und Profiten der
kapitalistischen Unternehmen sichtbar. In der frühen Phase des
Kapitalismus sowie in der Zeit der fordistischen Fließbandproduktion
konnte die schrumpfende Wertmasse noch durch die Erschließung neuer
Produktionszweige ausgeglichen werden. Denn die Erschließung neuer
Produkte für die Massenproduktion führte zur Schaffung neuer
Arbeitsplätze und damit zu einer Ausweitung der
Wertschöpfungsketten. Mit dem Aufkommen und der Verbreitung der
„mikroelektronischen Revolution“
ist diese historische Kompensation aber nicht mehr möglich. Die
Erschließung neuer Produktionszweige, also die teils gewaltsame
„Globalisierung“
der Marktwirtschaft und die Integration immer neuer Produkte in die
Massenproduktion, führt nicht mehr zu einem „Wiedereinsaugen
vorher und anderswo ,überflüssig gemachter‘ Arbeitsbevölkerung“,
da auch die neuen Produktionszweige aufgrund der Mikroelektronik von
vornherein wenig arbeitsintensiv sind. Das Verhältnis kippt um: „von
nun an wird unerbittlich mehr Arbeit eliminiert als absorbiert werden
kann. Auch alle noch zu erwartenden technologischen Innovationen
werden immer nur in die Richtung weiterer Eliminierung lebendiger
Arbeit gehen, alle noch zu erwartenden neuen Produktionszweige werden
von vornherein mit immer weniger direkter menschlicher
Produktionsarbeit ins Leben treten.“
(Kurz 1986)
Entfesselung der Finanzmärkte und des Kredits
Die sektorenübergreifende Verdrängung der Lohnarbeit
aus den produktiven Arbeitsbereichen äußert sich nicht nur in einem
Schrumpfen der Wertmasse. Sie äußert sich auch in einer zunehmenden
Einengung des Marktes. Während auf der einen Seite immer mehr Waren
in immer kürzerer Zeit hergestellt werden können, sind auf der
anderen Seite immer weniger Menschen über die Lohnarbeit in die
Warenproduktion integriert, was nichts anderes heißt, als dass auch
immer weniger Menschen Zugang zu den Mitteln bekommen, um sich die
produzierten Waren zu kaufen. Die Einengung des Marktes konnte bisher
nur dadurch abgewendet werden, dass seit dem Ende der 1970er und seit
Anfang 1980er Jahre, ausgehend von der Reagan-Administration in den
USA und der Thatcher-Administration in Großbritannien, die
Finanzmärkte entfesselt und die massenhafte Vergabe von Krediten
über Privat- und Zentralbanken in Gang gesetzt wurden (Lohoff 2016:
6ff.; 2014: 6; Lohoff und Trenkle 2012: 66ff., 209ff.; Kurz 2012).
Die
Entfesselung der Finanzmärkte war auf der einen Seite begleitet von
einem rasanten Anwachsen verschiedener Dienstleistungssektoren. Auf
der anderen Seite fanden globale InvestorInnen im Kredit- bzw.
Zinsgeschäft lukrative Anlagesphären für ihr vagabundierendes
Kapital, wie sie angesichts versiegender Profitquellen in der
Realwirtschaft immer weniger zu finden waren. Finanzprodukte – wie
Aktien, Staatsanleihen, Derivate, Optionen usw. – überfluteten
zunehmend die Märkte, während Regierungen, Unternehmen und
VerbraucherInnen das geliehene Geld in die Realwirtschaft
investierten (Lohoff & Trenkle 2012: 63f., 205f., 239f.). Die
„Akkumulation von Waren zweiter
Ordnung“,
wie Lohoff und Trenkle die Verlagerung der Kapitalakkumulation auf
die Ebene von Finanzmärkten und Finanzmarktprodukten bezeichnen,
drehte den Spieß um: von da an war nicht mehr das Kreditgeschäft
Anhängsel der realwirtschaftlichen Kapitalakkumulation, sondern
umgekehrt, die Realwirtschaft wurde zum Anhängsel der „Akkumulation
von Waren zweiter Ordnung“
an den Finanzmärkten.
Die
radikale Liberalisierung der Finanzmärkte vermochte nicht nur die
strukturellen Schranken der Kapital- bzw. Wertakkumulation – also
die sektorenübergreifende Verdrängung der Lohnarbeit durch
Informations- und Computertechnologien – zu überwinden. Auch
ermöglichte sie einen erneuten Aufschwung des globalen Kapitalismus,
da die Aufblähung des internationalen Kreditgeschäfts über
Zentral- und Geschäftsbanken die zahlungsfähige Konsumtionskraft
der Gesellschaft erweiterte (Lohoff & Trenkle 2012: 224f.).
Abgesehen von vereinzelten regionalen und sektoralen
Krisenerscheinungen, hat sich so über zwei Jahrzehnte hinweg eine
expansive Dynamik entfaltet, die erst nach dem Platzen der
„Dotcom“-Blase
Anfang der Nuller Jahre und dann nach dem Platzen der
kreditfinanzierten Immobilienblase im Jahr 2008/09 in den
kapitalistischen Kernländern zum Stillstand kam (Lohoff 2016:
27ff.). Im Zuge dieser Krisen drohte der über rund drei Jahrzehnte
aufgetürmte Kredit- und Schuldenberg in sich zusammenzufallen. Doch
in beiden Situationen schafften es die Zentralbanken durch Öffnung
der Kreditschleusen einen Zusammenbruch der internationalen Finanz-
und Kreditströme zu verhindern. Zwar konnte auf diese Weise die
Zahlungsunfähigkeit von Geschäftsbanken, von Regierungen,
Unternehmen und Privatpersonen sowie die damit einhergehende
Entwertung von Waren und Produktionskapazitäten abgewendet werden.
Allerdings droht mit der Kreditschwemme der Zentralbanken die „Große
Entwertung“
auf das Geldmedium selbst überzugreifen (Lohoff 2018: 104-107; 2016:
55f.; Konicz 2015; Lohoff & Trenkle 2012: 256ff.; Jellen 2012),
welche sich über den Umweg von Staatsbankrotten und
Währungsinflation bereits ankündigt.
Strukturelle Zwänge der kapitalistischen
Warenproduktion
Um
die Krise der Geldwirtschaft zu überwinden, müsste nichts weiter
als das Geld selbst bzw. die Grundstruktur der kapitalistischen
Produktionsweise überwunden werden. Letztere basiert auf einer
Trennung der Gesellschaftsmitglieder in atomisierte
WarenproduzentInnen und Lohnabhängige, die ihren gesellschaftlichen
Zusammenhang über Waren- und Geldbeziehungen regeln. In der
Zersplitterung der gesellschaftlichen Produktions- und
Austauschbeziehungen und der Vermittlung über Waren und Geld
entstehen jedoch Konkurrenzverhältnisse, die mit
Interessengegensätzen und strukturellen Zwängen einhergehen. So
produzieren Unternehmen nicht in Absprache mit der Gesellschaft,
sondern für einen anonymen Markt und stets in Konkurrenz zu anderen
Unternehmen. Die Unsicherheiten des Absatzmarktes beherrschen dabei
das Denken und Handeln der ProduzentInnen. Wer nicht vom Markt
verdrängt werden will, ist gezwungen finanzielle Rücklagen zu
bilden, Lohnkosten einzusparen oder neue Produktionsmethoden
einzuführen, um die Herstellungskosten der Waren zu verringern.
Die
Vermehrung des Geldes wird zum wichtigsten Hebel, um sich gegen die
Konkurrenz durchzusetzen, wobei die Herstellung von Waren nur Mittel
zum Zweck der Geldvermehrung ist. Ähnliches gilt für Lohnabhängige,
die in ständiger Konkurrenz zu anderen Lohnabhängigen stehen und um
eine begrenzte Anzahl an Arbeitsplätzen konkurrieren. Sie müssen
ihre Arbeitskraft verkaufen und Geld verdienen, um Zugang zum
Warenreichtum zu erhalten. Die
Trennung der „atomisierten
Individuen“
(Trenkle 1996: 75) und die „Konkurrenz
zwischen den Unternehmen stellen die Frage nur so: selbst ruiniert
werden oder andere ruinieren“
(Lenin 1974: 362). Bereits Karl Marx notierte in seinem Werk Das
Kapital: „Die
Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten
Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere
Zwangsgesetze auf. Sie zwingt ihn, sein Kapital fortwährend
auszudehnen, um es zu erhalten, und ausdehnen kann er es nur
vermittelst progressiver Akkumulation.“ (Marx 1962: 618)
Neben
solchen „äußeren Zwangsgesetzen“
kommen innere Zwänge für die WarenproduzentInnen, insbesondere für
die große Industrie, hinzu: ihr Primat der Profitmaximierung und
Kapitalverwertung gerät konstant in einen Widerspruch zu dem
immanenten Drang, die neuesten Produktionsmethoden einzuführen. Denn
die Einführung der neuen Produktionsmethoden, die mit der
Verdrängung lebendiger Arbeitskraft einhergeht, untergräbt die
Profitmaximierung und Kapitalverwertung, die auf der Ausbeutung der
lebendigen Arbeitskraft und der Verwertung der durch die Arbeitskraft
geschaffenen Werte basiert. Mit jeder Maschine, durch welche
LohnarbeiterInnen in einem Unternehmen verdrängt werden, sinkt der
Umfang des Profits, den das Unternehmen im Verhältnis zu seinen
Gesamtausgaben macht. Dieser immanente Widerspruch, den Marx (1983:
251-277) im Zusammenhang des „tendenziellen
Falls der Profitrate“ beschreibt, zwingt
die Unternehmen beständig, den Umfang ihrer Produktion auszudehnen,
um der Verringerung ihrer Profitproduktion entgegenzuwirken.
Dieser Kompensations- bzw.
„Akkumulationstrieb“
(ebd.: 254) aus dem Inneren der Kapitallogik heraus beschleunigt
nicht nur den Ressourcenverbrauch, entgegen der Vorstellungen vom
„Grünen Kapitalismus“.
Auch verschärft der Akkumulationstrieb die Konkurrenz zwischen den
Unternehmen in diesen oder jenen Produktionssphären mit der Folge
regelmäßiger Überproduktionskrisen, also der Überfüllung der
Märkte mit Waren und überschüssigen Produktionskapazitäten: „Da
nicht Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit
Zweck des Kapitals“, schreibt Marx im
dritten Band des Kapitals,
und da es diesen Zweck nur durch Methoden der Akkumulation erreicht,
in der der wachsende Umfang der Maschinerie einen wachsenden Umfang
des Warenausstoßes zur Folge hat, „so muß
beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten
Dimensionen der Konsumption auf kapitalistischer Basis [also
der beschränkten zahlungsfähigen Nachfrage der fluktuierenden Masse
an LohnarbeiterInnen, Anm. des Verf.] und
einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke
hinausstrebt.“ (Ebd.: 267)
Grenzen der Staatlichen Planwirtschaft
Eine
Wirtschaft jenseits der strukturellen Zwänge der kapitalistischen
Warenproduktion und Überproduktionskrisen muss schließlich die
Zersplitterung der gesellschaftlichen Produktions- und
Austauschverhältnisse über Waren- und Geldbeziehungen und die
daraus resultierenden Konkurrenzverhältnisse überwinden. Marx und
Engels forderten, die Produktionsmittel der privaten Hand zu
entziehen und unter gesellschaftliche Koordination und Verwaltung zu
stellen. Marxistisch inspirierte Bewegungen nahmen diese Forderung
zum Anlass, um die Wirtschaft ihrer Länder zu verstaatlichen und so
der privatwirtschaftlichen Konkurrenz den Boden zu entziehen. Wie die
historischen Erfahrungen z.B. in der Sowjetunion oder in Kuba zeigen,
konnten auf diese Weise zwar die blinde Konkurrenz des Marktes sowie
Überproduktionskrisen überwunden werden, jedoch traten mit der
zentralen
Planung neue Probleme auf (Trenkle 1996; Kurz 1994; Stahlmann 1991).
Eines
dieser Probleme zeigte sich bei dem Versuch, die Arbeitsquanten aller
gesellschaftlich hergestellten Produkte und Zwischenprodukte zu
berechnen. Die Berechnung des „Werts“
war jedoch nicht nur wegen der gesamtwirtschaftlichen Komplexität
unmöglich, sondern vor allem weil er „keine
real auffindbare Größe“,
sondern ein gesellschaftliches Verhältnis darstellt (Stahlmann
1991: 46).
Die Planwirtschaft war dem Missverständnis unterlegen, „dass
der Wert, weil er in der Produktion entsteht, durch Verausgabung
lebendiger Arbeit, auch unmittelbar durch Feststellung des
Produktionsaufwands planbar sei. Zur Verwandlung lebendiger in tote
Arbeit, also in Wert, bedarf es aber der gesellschaftlichen, sprich:
Marktvermittlung, also der Herstellung der gesellschaftlich
durchschnittlichen Arbeitszeit, die wiederum nur indirekt über den
Markt gemessen werden kann.“
(Ebd.: 46)
Der
Versuch, die Arbeitsquanten zu berechnen, war Ausdruck eines
tieferliegenden Problems: der Beibehaltung der Waren- und
Geldwirtschaft.
Über das kollektive Eigentum war die Trennung der Menschen zwischen
Produktion und Konsum zwar juristisch aufgehoben, nicht aber in der
Praxis,
insofern die wirtschaftliche Basisstruktur – die Zersplitterung und
Atomisierung der gesellschaftlichen Produktions- und
Austauschverhältnisse über Waren- und Geldbeziehungen –
unangetastet blieb. Damit einhergehend waren auch die
Interessengegensätze zwischen ProduzentInnen und Lohnabhängigen
nicht aufgehoben. Waren die Lohnabhängigen an guter Produktqualität
und niedrigen Preisen interessiert, so wollten die ProduzentInnen
dagegen ihren Arbeitseinsatz minimieren und hohe Einkommen erzielen
(Trenkle 1996: 87). Anstatt
der blinden Marktgesetze erhob sich nun eine zentrale Planungselite
und staatliche Gewalt über die Gesellschaft, die
über die Produktion und Verteilung der Produkte bestimmte und die
Preise der Waren festlegte. „Ein
abstrakter Zwang wird also durch einen anderen ersetzt. Den
Partikularinteressen tritt an Stelle der blinden unerbittlichen
Marktgesetze nun die abstrakte Allgemeinheitszumutung durch
politische Institutionen gegenüber.“
(Ebd.: 87) Im Zusammenhang dieser hier grob skizzierten Grundprobleme
war die staatliche Planwirtschaft weniger mit einer Überproduktion
als mit einer Unterproduktion konfrontiert, die sich über
planwirtschaftliche Unflexibilität, Mangelwirtschaft und
Desinteresse der Individuen an wirtschaftlicher Effizienz und
Gestaltung äußerte.
Dezentrale
Planung und Selbstorganisation
in der Solidarischen Landwirtschaft
Die
staatliche Plan- und Kommandowirtschaft des „Realsozialismus“
ist „glücklicherweise
auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet“,
erklären Lohoff und Trenkle in Die
Große Entwertung (Lohoff
& Trenkle 2012: 292).
Ob sie wirklich der Vergangenheit angehört, darf angesichts des
fortschreitenden Zerfallsprozesses des globalen warenproduzierenden
Systems allerdings angezweifelt werden. Denn sie stellt immer noch
eine Alternative dar, um Krisen wie die gegenwärtige strukturelle
Überproduktionskrise unter Beibehaltung staatlicher Autorität zu
überwinden.
Eine andere Alternative, die auf
Autonomie und Selbstbestimmung der Gesellschaftsmitglieder setzt und
die Probleme staatlicher Planwirtschaft überwindet, bilden dagegen
dezentrale, bedürfnisorientierte und kooperative Formen
gesellschaftlicher Selbstorganisation. Solche Formen existieren
beispielsweise in Projekten der Solidarischen Landwirtschaft. In
diesen ist die Zersplitterung und Atomisierung der gesellschaftlichen
Produktions- und Austauschverhältnisse über
Kooperationsverhältnisse zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen
praktisch aufgehoben – unabhängig von den verschiedenen
Rechtsformen der Projekte. Als Kollektive mit bis zu mehreren Hundert
Mitgliedern unterhalten sie gemeinsam die Produktion und regeln über
direkte Absprachen, wo, was, wie und wieviel Nahrungsmittel
produziert werden sollen. So entstehen lokale, transparente und
basisdemokratische Produktions- und Verteilungskreisläufe als
dezentrale Planwirtschaften, in denen sowohl die strukturellen Zwänge
und Interessengegensätze des Marktes als auch die Herrschaft der
abstrakten Allgemeinheit über die Interessen der Einzelnen
aufgehoben sind.
Solidarische Landwirtschaften
agieren jedoch nicht vollkommen unabhängig von den Zwängen des
Marktes. So sind die Projekte hochgradig abhängig von finanziellen
Beiträgen der Mitglieder. Mit diesen beziehen sie Maschinen,
Treibstoff, Material und Rohstoffe auf dem anonymen Markt und
unterhalten ihre fest angestellten Arbeitskräfte. Diese Abhängigkeit
vom Geld äußert sich in tendenziell hohen Mitgliedsbeiträgen, die
für viele Menschen eine Hürde darstellen und die Solidarischen
Landwirtschaften zu einem Nischendasein verurteilen.
Auf der anderen Seite jedoch
ermöglicht die (finanzielle) Absicherung durch das Kollektiv
Planungssicherheit für die Produktion. Der Kollektivbetrieb kann für
ein Jahr die Produktion dezentral planen und Anbaumethoden anwenden,
die unter marktwirtschaftlichen Konkurrenzverhältnissen nicht
möglich wären. Er kann auf den Einsatz von Pestiziden und
Monokulturen verzichten, Bedarfsgehälter einführen und die
Produktion den Bedürfnissen von Menschen und Natur anpassen.
Geld
spielt in Solidarischen Landwirtschaften also weiterhin eine Rolle.
Allerdings ist das Geld unter den veränderten Rahmenbedingungen
nicht mehr der eigentliche Zweck der Produktion, sondern ein Mittel
zum Zweck des Aufbaus, der Erhaltung und der Weiterentwicklung der
Bedarfsproduktion des Kollektivs. An diesem Punkt stellt sich die
Frage, wie diese Abhängigkeiten vom Geld bzw. von den Zwängen des
Marktes verringert werden können. Eine Möglichkeit innerhalb der
Solidarischen Landwirtschaften wäre, engere Kooperationsbeziehungen
zwischen den bestehenden Projekten anzustreben und auf gemeinsame,
vorgelagerte Maschinen- und Saatgutproduktionsstätten
zurückzugreifen. Diese könnten die Solidarischen Landwirtschaften
nach Bedarf mit Maschinen und Saatgut beliefern und ihre
Abhängigkeiten von Märkten und Geld reduzieren. Nicht mehr das Geld
oder das Kriterium der Finanzierbarkeit würde die gesellschaftlichen
Produktions- und Austauschbeziehungen regieren, sondern die
Absprachen zwischen den Menschen auf der Grundlage der Kooperation
sowie des uneingeschränkten Zugangs zu den Produktionsmitteln und
Produkten. Das würde nicht nur für Solidarische Landwirtschaften
gelten, sondern auch für andere Bereiche der gesellschaftlichen
Reproduktion und Verteilung. Das Zusammenspiel zwischen solchen
lokalen und überregionalen Kooperationsbeziehungen in einer
dezentral, ohne Waren- und Geldbeziehungen organisierten Gesellschaft
könnten wir uns dann „als
ein gestaffeltes System aufeinanderbezogener lokaler, regionaler und
überregionaler Kreisläufe vorstellen, bildlich gesprochen
vielleicht wie eine stufenförmig aufgebaute Pyramide, bei der die
Dichte der stofflichen Verflechtungen mit zunehmender Höhe abnimmt“
(Trenkle 1996: 79).
Zugang zu Ressourcen,
Produktionsstätten und Produkten
Die
Projekte der Solidarischen Landwirtschaft und andere Beispiele –
wie die dezentrale Energieversorgung mit erneuerbaren Energien –
zeigen, dass die Möglichkeiten theoretisch vorhanden sind, „um
eine dezentrale, aber global vernetze und technisch effiziente
Produktionsweise aufzubauen“
(Trenkle 2015). Eine Produktionsweise, die auf der Grundlage der
Kooperation organisiert und mit dem Ziel vereinbar ist, die
Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und die natürlichen
Grundlagen zu schützen.
Praktisch stößt diese
Perspektive jedoch auf unterschiedliche Hürden. Da ist zum einen die
Frage der Organisation. Eine solche gesellschaftliche
Produktionsweise, die nicht über Geld- und Waren-, sondern über
Kooperationsbeziehungen organisiert ist, setzt komplexe
Organisationsstrukturen voraus, die schrittweise aufgebaut, erprobt,
eingespielt und vor Maßnahmen der Repression geschützt werden
müssen.
Zum
anderen besteht das Problem des uneingeschränkten
Zugangs zu den gesellschaftlich bereits vorhandenen Ressourcen,
Produktionsmitteln und Produkten. Die wachsenden Strukturen der
gesellschaftlichen Selbstorganisation – darunter auch die
Solidarischen Landwirtschaften – benötigen einen solchen Zugang,
wenn sie sich langfristig von ihrem Nischendasein sowie von ihrer
Abhängigkeit vom Geld und den strukturellen Zwängen der
kapitalistischen Warenproduktion emanzipieren wollen (Lohoff 1996;
Trenkle 2015). Der Zugang zu diesen Ressourcen wird umso notwendiger,
je weiter der Zerfallsprozess des warenproduzierenden Systems
voranschreitet und die Menschen vom Warenreichtum und der Sicherung
ihrer Grundbedürfnisse abschneidet.
In diesem Punkt unterscheidet sich
der selbstorganisierte Sektor von morgen von dem selbstorganisierten
Sektor aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Letzterer konnte
keinen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen, Produktionsmitteln
und Produkten gewinnen und kam daher über einen oberflächlichen
Grad der Selbstorganisation nicht hinaus. Viele dieser Organisationen
wurden vom System der Geld- und Warenbeziehungen vereinnahmt oder
haben die Form sozialer Armutsverwaltung im Zuge wachsender
Privatisierungen angenommen (Lohoff 1996). Die Vereinnahmungen
konnten nach Lohoff u.a. deshalb stattfinden, weil der globale
Kapitalismus trotz seiner sich anbahnenden Strukturkrise Ende der
1970er und Anfang der 1980er Jahre über die massive Ausdehnung der
Kredit- und Schuldensphäre eine erneute internationale
Expansionsdynamik entfalten konnte. Diese schuldenfinanzierte
Expansionsdynamik stößt nun aber mit zunehmender Geschwindigkeit an
ihre Grenzen.
Der
Prozess der Einengung des Marktes bahnt sich unaufhaltsam seinen Weg
und wird zwangsläufig gesellschaftliche Konfliktfelder erzeugen, die
wiederum spontane Formen der Selbstorganisationen annehmen können.
Diese neuen Formen der Selbstorganisation befinden sich dann aber in
einem „gründlich
veränderten Kontext“
(ebd.: 102), da eine fehlende Expansionsdynamik ihre erneute
Vereinnahmung verhindert. In diesem veränderten Kontext rückt der
politische Kampf um die gesellschaftlichen Ressourcen in den
Mittelpunkt. Denn wenn die neuen Formen der Selbstorganisation nicht
zu einer massenhaften Form der Armutsverwaltung mutieren wollen, dann
müssen sie „so
viele stoffliche Ressourcen (Gebäude, Produktionsmittel etc.) und
Finanzen wie nur irgend möglich“
erkämpfen und die Rahmenbedingungen verbessern, damit der
selbstorganisierte Sektor gestärkt und weiterentwickelt werden kann
(Trenkle 2015). Das bedeutet, dass die
gesellschaftlichen
Emanzipationsbewegungen den uneingeschränkten Zugang zu diesen
Mitteln von der Politik und dem Staat einfordern müssen, der die
Kontrolle über diese verfügt. Auf der anderen Seite könnte eine
linke Politik und Partei eine solche Bewegung der gesellschaftlichen
Selbstorganisation auf lokaler und globaler Ebene mit allen Kräften
fördern.
Die
strategische Zielsetzung linker, emanzipatorischer Arbeit würde sich
damit grundlegend ändern: War in der traditionellen
Linken, insbesondere im Leninismus, noch „jede
Form der Selbstorganisation dem Ziel der Eroberung der Staatsmacht
untergeordnet und musste danach verschwinden oder auch gewaltsam zum
Verschwinden gebracht werden“,
so muss heute umgekehrt „der
Auf- und Ausbau des selbstorganisierten Sektors als Basis für die
Aufhebung der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise im
Mittelpunkt des politischen Handelns stehen. […] Für Lenin und den
traditionellen Marxismus war das Absterben des Staates ferne
Zukunftsmusik. Hingegen hat gesellschaftliche Emanzipation heute von
vornherein die sukzessive Rücknahme des Staates in die Gesellschaft
zum Inhalt.“
(Ebd.)
Die
Landwirtschaft war das erste große Opfer in der Aufstiegsphase der
kapitalistischen Produktionsweise. In der „Ursprünglichen
Akkumulation des Kapitals“
(Marx 1962: 741ff.) wurden große Teile der Landbevölkerungen
gewaltsam von Grund und Boden getrennt und zur Lohnsklaverei
verurteilt, während die privatisierte Landwirtschaft fortan den
wachsenden Bedarf an Rohstoffen in den industriellen Zentren
belieferte. In den Projekten der Solidarischen Landwirtschaft dagegen
entstehen heute erste Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation,
die (in der Praxis) auf dem kollektiven Zugang zu Land und dessen
Produkten basieren und erste Ansätze einer nicht-monetären und
selbstbestimmten Produktion und Verteilung aufzeigen. Eben darin
liegt auch das größte Potential dieser Projekte. Sie zeigen
Perspektiven auf, die über die kapitalistische Produktionsweise und
ihre Kategorien Ware, Geld und Wert hinausweisen. In dieser Hinsicht
nehmen die Landwirtschaftsprojekte eine Vorreiterrolle ein.
Wie sich diese Projekte jedoch
weiterentwickeln, hängt von noch ungeklärten Fragen ab: Werden die
Menschen innerhalb der Projekte das Potential der Solidarischen
Landwirtschaften als Alternative zu kapitalistischer Warenproduktion
erkennen? Werden sie sich gemeinsam sowie mit anderen
selbstorganisierten Gruppen für einen uneingeschränkten Zugang zu
gesellschaftlichen Ressourcen, Produktionsmitteln und Produkten
einsetzen? Mit welchen aktuellen Problemen, Widersprüchen und
Grenzen sind die Projekte in der praktischen Umsetzung der
Kooperationsbeziehungen konfrontiert und wie werden sie mit diesen
umgehen? Und schließlich, kann die Solidarische Landwirtschaft
Perspektiven eröffnen, auch andere Lebensbereiche wie zum Beispiel
die Textil- und Kleidungsherstellung, die Wohnungswirtschaft, die
Pflegearbeit, die Energieversorgung usw. in ein dezentrales,
gestaffeltes System aufeinander bezogener lokaler, regionaler und
überregionaler Produktions- und Verteilungskreisläufe zu
übertragen? Könnten solche Kreisläufe über den uneingeschränkten,
kooperativen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen,
Produktionsstätten und Produkten den Zwängen des Geldes und der
Finanzierbarkeit entzogen und den Gesellschaftsmitgliedern zur
Sicherung ihrer Grundbedürfnisse zu Verfügung gestellt werden?
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