Redundantes zur Antipolitik
von Franz Schandl
„Alle
Emanzipation ist Zurückführung
der menschlichen Welt, der Verhältnisse auf den Menschen
selbst.
Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen,
einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das
egoistische,
unabhängige
Individuum, andererseits auf den Staatsbürger,
auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle
Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als
individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner
individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen
Gattungswesen
geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚forces propres‘
(eigenen Kräfte, F.S.) als gesellschaftliche Kräfte erkannt und
organisiert hat und daher die gesellschaftlichen Kräfte nicht mehr
in der Gestalt der politischen
Kraft von sich trennt, erst dann ist menschliche Emanzipation
vollbracht.“ (Karl Marx)
1.
Politik erscheint den Bürgern als das Feld ihrer Selbstbestimmung,
indes sie doch nur das öffentliche Terrain ihrer Selbstknechtung
darstellt. Der Modus der Politik garantiert die Herrschaft der Form.
Keine neue, keine alternative, keine revolutionäre Politik wird
daran etwas ändern. Die Zukunft der Politik liegt in der
Notstandsverwaltung ökologischer und ökonomischer, sozialer und
mentaler Dauerkrisen.
2.
Politik ist eine immanente Form. Die Form, in der man agiert, ist das
staatsbürgerliches Interesse im Besonderen resp. das bürgerliche
Interesse im Allgemeinen. Durch dieses Agieren bestätigen die
Praktikanten die vorausgesetzten Bedingungen, gehen nicht über sie
hinaus, sondern erfüllen sie. Politik ist der öffentliche Spielraum
der Staatsbürger. Politiken mögen verschieden sein, aber ihre
Grundstruktur zwingt sie, die aktuelle kapitalistische Verwertung zu
bedienen. Was nicht heißt, dass das immer gelingt.
3.
Das Politische determiniert sich als bürgerlich, wenn schon nicht
bürgerlich gewesen, so stets als bürgerlich geworden. Politik ist
ein staatsbürgerliches und bürgerliches Programm. Mit ihr kann nur
so weitergemacht werden wie bisher. Politik hat keine Perspektive und
Politik ist keine Perspektive. Emanzipation ist jenseits des
politischen Wirkens zu konzipieren.
4.
Der Staatsbürger ist ein ganz bestimmter, männlich und weiß
codierter Exponent, nicht nur weil er andere ausschließt (Ausländer,
Migranten etc.), sondern weil er einer Konfiguration folgt, in der
Charaktermasken und nicht Menschen im Mittelpunkt stehen. Politik
heißt nicht, dass Menschen agieren, sondern dass Charaktermasken
interagieren, d.h. Interessen substituieren und simulieren.
5.
Die Frage, die Antipolitik stellt, ist die naheliegende aber
verdrängte und vergessene, nämlich was Politik kann, anstatt
wie üblich zu behaupten, dass Politik, sei sie nur die richtige,
kann, was sie will. Dass nicht Politiken, sondern Politik selbst,
also das ganze System von politics, policy, polity ein grundlegendes
Problem ist, wird ignoriert. Erst durch Antipolitik wird Politik
selbst Gegenstand der Kritik. Wir wechseln von der politischen Kritik
zur Kritik des Politischen.
6.
Jedes Anti definiert sich vom Abstoßungspunkt her. Damit
demonstriert es seine Entschiedenheit, aber auch seine Begrenztheit.
Antipolitik agiert zwar vorerst weiterhin im politischen Feld,
allerdings nicht mehr synthetisch affirmativ, sondern kritisch der
Form gegenüber, die sie letztlich als einen zu negierenden Inhalt
versteht. Sie tut dies in einem schizophrenen Bewusstsein.
Antipolitisch meint nicht unpolitisch.
7.
Antipolitik
ist der Versuch, das eigene Wollen außerhalb der Politik zu denken
und zunehmend dort zu verorten. Antipolitik will
das Öffentliche weiten, ausdehnen; möchte demonstrieren, dass Raum
jenseits des politischen Sektors machbar sein sollte.
8.
„Keine Politik ist möglich!“ ist erstens eine Absage an alle
herkömmlichen Varianten der Politik, zweitens ist es aber auch eine
Absage an die Politik generell. Und drittens ist das Motto eine
transpositive und offensive Ansage. „Ist möglich“ heißt es,
nicht „ist unmöglich“.
9.
Das Verlangen der Politik orientiert sich an Geld, Recht und Macht.
Immer wieder geht es um ein Justieren an Staat und Markt. Angesagt
ist Bessern und Mildern, Kürzen und Schärfen. Die Form selbst gerät
nicht in den Fokus der Erörterung. Der Trieb der Politik ist die
Reform, der Trieb der Antipolitik ist die Transformation.
10.
Politik sagt: Wir nehmen die Interessen unserer Setzung wahr.
Antipolitik sagt: Wir nehmen uns als Gegensatz unserer Setzung wahr.
Wir sind nicht die, zu denen wir gemacht werden. Nicht der freie
Wille ist Voraussetzung der Antipolitik, sondern der Unwille zur
Entsprechung. Akteure des Lebens wollen wir sein, nicht Kunden des
Geschäfts.
11.
Politik heißt auf die Interessen von Charaktermasken abzustellen,
Antipolitik
heißt Menschen gegen ihre sozialen Zwangsrollen zu
aktivieren. Das ist der Unterschied zwischen: „Ich nehme meine
Interessen wahr“, also etwas mir durch Stellung im System
Zugeordnetes, und: „Ich nehme mich wahr“, „Ich will mich
verwirklichen“. Wenn man von Bedürfnissen spricht, an die
anzuknüpfen wäre, gilt es sorgfältig zu unterscheiden und deren
Beschaffenheit genau anzuschauen. Handelt es sich um Bedürfnisse von
Rollenträgern = Interessen;
oder um Bedürfnisse wider den Rollenzwang
= Ansprüche?
12.
Antipolitik setzt sich als Kontrapunkt zur selbstverständlichen
Akzeptanz der Politik, sie ist aber nicht einfach als dessen Jenseits
zu fassen. Antipolitik steht für den Prozess einer Entwöhnung. Das
Nein ist unabdingbar, aber nicht ausreichend. Im Zuge der
gesellschaftlichen Transposition wird die Praxis verschiedene
immanente wie transzendente Formen umfassen und amalgamieren. Da kann
eins zweifellos aufgerieben werden, aber das wird man sonst auch,
noch dazu mit höherer Wahrscheinlichkeit.