Rechtsextremistischer Bolsonaro ist Brasiliens neuer Präsident
von Gaston Valdivia
Leider ist eingetreten, was zu befürchten war: 55,14 Prozent der brasilianischen Wähler*innen haben in der Stichwahl vom 28. Oktober 2018 den rechtsextremen Jair Messias Bolsonaro zum nächsten Präsidenten ihres Landes gewählt. Bei den allgemeinen Wahlen vom 7. Oktober errang seine Partei PSL (Partido Social Liberal) gerade einmal 52 von 513 Sitzen für die Abgeordnetenkammer, und im Senat kam sie noch nicht einmal über 4 von insgesamt 81 Senatoren hinaus. Unter den vier PSL-Senatoren befindet sich auch Bolsonaros Sohn Flávio. Bei der Wahl für die Präsidentschaft verfehlte Bolsonaro hingegen mit 46,03 Prozent nur knapp die absolute Mehrheit, weshalb es zur Stichwahl zwischen ihm und dem mit 29,28 Prozent zweitstärksten Kandidaten Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT kam. Bolsonaro siegte deutlich mit 55,13 Prozent der Stimmen.
Vor
dem Hintergrund der großen Zersplitterung in Parlament und Senat
muss der neue Präsident viele Absprachen treffen, um in Parlament
und Senat auch nur annähernd die eigenen Vorstellungen umsetzen zu
können. Da es in Brasilien keine Prozenthürde gibt, sind in der
neuen brasilianischen Abgeordnetenkammer 30 und im neuen Senat 21
Parteien vertreten. Stärkste Einzelpartei ist die Arbeiterpartei PT
(Partido dos Trabalhadores) mit 56 Abgeordneten. Andererseits verfügt
Bolsonaro über erhebliche Machtbefugnisse, die mit denen eines
US-Präsidenten vergleichbar sind. Sie ermöglichen ihm notfalls ein
Regieren mit Hilfe provisorischer Erlasse und Dekrete. Außerdem kann
er unerwünschte Gesetze blockieren. Ferner bestimmt er die Führungen
der Streitkräfte, die Minister des obersten Bundesgerichtshofs, den
Generalbundesanwalt sowie Präsidenten und Direktoren der Zentralbank
und etliche weitere einflussreiche Amtspersonen.
Nutzt
er diese Macht, wird er das bisherige politische Establishment in
Senat und Parlament kräftig durcheinanderwirbeln. Am meisten Furcht
verbreitet er jedoch bei all denjenigen Menschen, die er zur
Zielscheibe seiner menschenverachtenden Rhetorik und Gestik gemacht
hat. Die Ereignisse in den Wochen bis zum zweiten Wahlgang haben
deutlich gezeigt, dass sein Sieg die zuvor schon stark polarisierte
und feindliche Atmosphäre weiter aufgeladen und nicht wenige seiner
Anhänger zu neuen antisemitischen, rassistischen, homophoben,
frauenfeindlichen und antilinken Angriffen animiert hat. Die Zeitung
El
Mundo
spricht sogar von einer Welle der Gewalt gegen Homosexuelle und
Wähler oppositioneller Parteien.
(https://www.elmundo.es/internacional/2018/10/11/5bbe4452ca4741b3618b463b.html)
Wer
ist Bolsonaro?
Wie
ordnet man Bolsonaro als Person am besten ein? Er ist ein ziemlich
unwissender, aggressiv-autoritärer Familienpatriarch mit
konservativ-religiösem Profil und US-amerikanischem
Mittelstands-Lifestyle. Seine homophobe, rassistische, frauen- und
genderverachtende Einstellung propagiert er ebenso offensiv wie
seinen Hass auf Linke. Seinen Sohn sähe er lieber tot als schwul.
Den Islam würde er am liebsten verbieten. Obwohl katholisch
sozialisiert, ist er zu den evangelikalen Baptisten konvertiert und
hat sich vor zwei Jahren am Jordanfluss wiedertaufen lassen. Wie bei
zahlreichen lateinamerikanischen Militärs üblich, glaubt er
gesellschaftliche Probleme und Widersprüche mit Gewalt lösen zu
können. Sein schlichtes Weltbild stammt aus den 60er und 70er
Jahren, als Militärs, Kirche, Agrar-Oligarchie und eine
aufsteigende, industriell ausgerichtete Bourgeoise einigermaßen
einträchtig nebeneinander herrschten, die Hierarchien klar und „die
Welt noch in Ordnung“ war. „Ordem e Progresso“ (Ordnung und
Fortschritt) eben, wie es auch auf der brasilianischen Landesflagge
festgehalten ist. Als ehemaliger Militär bewundert Bolsonaro Hitler,
den er häufiger als „großen Strategen“ bezeichnete. Hitlers
Wehrmacht gilt bis heute in lateinamerikanischen Armeen als
historisches Vorbild für disziplinierte, effiziente und siegreiche
Kriegsführung. Sein extremistisches Weltbild, sein aufmüpfiges
Verhalten selbst innerhalb des Militärs, für das er 1986 kurzzeitig
hinter Gittern saß, und die geplanten Bombenattentate in Kasernen,
die ihm das Militär generös verzieh, haben ihm in seiner
Anhängerschaft zu dem Ehrennamen „el mito“ (sinngemäß „der
Legendäre“) verholfen. Der großen Mehrheit der brasilianischen
Bevölkerung war er bis vor wenigen Jahren eher noch als medialer
Kasper bekannt.
Bolsonaro
wurde und wird immer wieder mit Trump verglichen und wie dieser als
„Populist“ oder „Rechtspopulist“ bezeichnet. Es gibt einige
grundlegende Übereinstimmungen in der Weltsicht der beiden, aber
Bolsonaro kann seine Menschenverachtung in Brasilien enthemmter
hinausposaunen. Mit seiner kurzen demokratischen Tradition und seinen
ebenso schwachen wie korrupten Institutionen bietet Brasilien
offensichtlich das günstigere Umfeld für straffreie Beleidigungen,
Provokationen und Drohungen. Zudem wurde Bolsonaro, anders als Trump,
in der Armee sozialisiert und macht keinen Hehl aus seiner
ausgeprägten Sympathie für Militärdiktaturen. In den
liberaldemokratischen spanischsprachigen Medien wird Bolsonaro meist
als „Rechtsradikaler“, „Rechtsextremist“ oder „Ultrarechter“
bezeichnet. Linke Medien betiteln ihn häufiger als „Faschisten“,
„Neofaschisten“ oder „Nazi“. Faktisch ist er ein wirrer
Rechtsextremist, den besondere historische Umstände nach oben
gespült und populär gemacht haben. Seine repressiven Absichten
posaunt er offen aus.
Bolsonaros
Basis
Um
die Vorgänge in Brasilien zu verstehen, kommt man nicht an einer
Betrachtung der Kräfte vorbei, auf die Bolsonaro zählen kann. Noch
wenige Monate vor Bolsonaros Wahl zum Präsidenten haben Umfragen
ergeben, dass etwa
16 Prozent der Bevölkerung sein extremes Weltbild teilen. Das ist
nicht wenig, würde aber nicht dazu ausreichen, so etwas wie ein
neofaschistisches Projekt durchzuführen. Welche Kräfte unterstützen
ihn bedingungslos, welche bedingt, welche könnten ihm noch
zuwachsen, welche könnten relativ schnell wieder vom Zug abspringen,
und welche Möglichkeiten erwachsen ihm dadurch für die Zukunft? Um
hier nicht das Fass einer Faschismus-Populismus-Debatte aufzumachen,
folgt hier einfach eine Aneinanderreihung wichtiger Merkmale der
Kräfte, die Bolsonaro bislang unterstützt haben.
Bolsonaro
hat keine Massenbasis mit einheitlicher ideologischer Ausrichtung
hinter sich, sondern wird von verschiedensten heterogenen Gruppen
gestützt. Die aktivste Unterstützung kommt zum einen aus jenen
traditionellen rechtsextremen Kreisen, die bis heute der
Militärdiktatur nachweinen, zum anderen von einer jungen „neuen
Rechten“, die sich aus weißen, abstiegsbedrohten,
krisengeschüttelten Mittelschichten rekrutiert. Es sind vielfach
Studierende, denen es in den letzten 10 Jahren an zahlreichen
Hochschulen gelungen ist, die ideologische Hegemonie zu erringen.
Diese Söhne und Töchter sehen ihre eigenen Aufstiegschancen in
weite Ferne rücken und fürchten den eigenen Absturz in die unteren
Schichten.
Trotz
eines traditionell zur Schau getragenen Patriotismus lässt sich bei
den alten traditionellen Unterstützer*innen nicht von einer
nationalistisch-völkischen Ideologie sprechen. Vielmehr sind die USA
für sie das Maß aller Dinge und damit ein starker lebensweltlicher
Bezugspunkt. Kapitalflucht und ein Zweitwohnsitz in Miami zählen
hier gewissermaßen zum liebgewonnenen Brauchtum. Ihr radikaler
Diskurs grenzt große Teile der Bevölkerung aus, statt sie im Sinn
einer Nationenbildung mit einzuschließen. Sie pflegen eine
antipolitische Haltung, in der ein Primat der Politik über die
Ökonomie nicht vorgesehen ist, was eine politische Radikalisierung
allerdings nicht ausschließt. Der neoliberale Markt hat Priorität,
der Staat soll „verschlankt“ und Staatseigentum massiv
privatisiert werden. Protektionismus ist bislang nicht geplant, auch
wenn es innerhalb des Militärs starke Kräfte gibt, die das
einfordern werden.
Der
harte Kern der Bolsonaro-Unterstützer ist mehrheitlich ausgeprägt
rassistisch und geht von einer „weißen“ Überlegenheit aus.
Einige von ihnen wünschen sich gar ein Apartheidregime nach
südafrikanischem Muster. In diesem Zusammenhang sollte man nicht
vergessen, dass Brasilien das Land mit dem weltweit größten Anteil
an Hausangestellten ist. Diese sind mehrheitlich weiblich, von
dunkler Hautfarbe und meist sklavenhalterischen Bedingungen
unterworfen. Die Entfaltungsfreiheit der Frauen in der Mittel- und
Oberschicht basiert auf diesem servilen System. Unter der festen
Anhängerschaft findet sich auch eine Minderheit von konservativen
Kräften, die Brasilien als „Mestizen-Land“ zumindest
akzeptieren. Was aber alle Anhänger*innen miteinander verbindet,
sind ein autoritär-konservatives Frauen- und Familienbild, Rassismus
und die Ablehnung gemeinschaftlich-sozialer Lebensvorstellungen, die
auch im Hass auf Linke und „Kommunisten“
(was für die meisten dasselbe ist) zum Ausdruck kommt.
Historisch
ist ein religiös motivierter Antisemitismus unterschwellig stets
vorhanden, scheint aber nicht konstitutiv für die rechte Bewegung
Bolsonaros zu sein. Bolsonaro selbst präsentiert sich
israelfreundlich und pflegt den Kontakt zu der minoritären
konservativen Fraktion der jüdischen Gemeinde des Club Hebraica.
Öffentlich ruft er dazu auf, die israelische Demokratie
anzuerkennen, und propagiert Israels Landwirtschaft als Modell für
die Trockengebiete Brasiliens. Seine Ankündigung, Brasiliens
Botschaft nach Jerusalem zu verlagern, hat weniger mit Trumps Vorbild
als mit seiner neuen israelfreundlichen evangelikalen Wählerschaft
zu tun. Viele evangelikale Kirchen sehen in Israel nämlich das Land
der alten Propheten und den Ort der Erfüllung biblischer
Endzeit-Prophezeiungen. Das behagt nicht allen. Kritik an Bolsonaros
wechselseitiger Annäherung mit Israel kommt sowohl aus den Reihen
seiner rechtsextremen Anhängerschaft als auch aus der linksliberalen
jüdischen Gemeinde.
Erstaunlich
ist auch das ideologische Selbstbild mancher Rechter und
Rechtsextremisten, das sich ideologisch auf kuriose Weise vom
Nationalsozialismus abgrenzt. Vor der Wahl hatte die deutsche
Botschaft ein Lehrvideo über den Nationalsozialismus in
portugiesischer Sprache in den sozialen Medien Brasiliens platziert.
Darin wird der NS als rechtsextremistische Ideologie charakterisiert
und auf deren Gefahren hingewiesen. Der Film endet mit dem Aufruf des
deutschen Außenministers Heiko Maas: „Wir müssen uns den
Rechtsextremisten entgegenstellen, wir dürfen sie nicht ignorieren
und [müssen] Farbe gegen Neonazis und Antisemiten bekennen.“
(Video
auf https://twitter.com/twitter/statuses/1037303279724781568)
Die
empörten Reaktionen folgten prompt. Sie bezogen sich allerdings auf
den Vergleich des NS mit dem rechtsradikalen Selbstverständnis.
Immer mehr Rechte, insbesondere junge Menschen, die schlicht keine
Ahnung vom NS haben, gehen nämlich davon aus, dass es sich beim
Nationalsozialismus um eine linke Ideologie handle. In diesem Sinne
hatte Bolsonaros Sohn Eduardo im Jahr 2016 getwittert: „Nazismus
ist links“. Und welcher Rechtsradikale lässt sich gern als einer
der Linken – den Todfeind Nummer eins – diffamieren. Das ändert
nichts an dem Fakt, dass zahlreiche faschistische und
nationalsozialistische Einstellungen die brasilianische Rechte mit
prägen.
Bolsonaros
Aufstieg
Wie
ist es möglich, dass ein unbedeutender Abgeordneter ohne Massenbasis
solch einen kometenhaften Aufstieg in den letzten anderthalb Jahren
hinlegen konnte? Auf die eigenen „Leistungen“ und „Einstellungen“
lässt sich das nicht zurückführen. Sein plötzlicher Erfolg hängt
vielmehr mit den zwei Plagen zusammen, auf die sich die ganze
Unzufriedenheit einer Mehrheit der Bevölkerung fokussiert hat:
Korruption und Kriminalität. Viele Menschen sehnen sich nach
Sicherheit und Verlässlichkeit. Mit allein 64.000 offiziell
registrierten Morden jährlich steht Brasilien weltweit an erster
Stelle. Bolsonaro kam es bislang zugute, dass er jahrzehntelang
ziemlich isoliert im Politbetrieb war. Seine politische
Bedeutungslosigkeit hat verhindert, dass er in die großen
Korruptionsnetze und das herrschende politische Establishment mit
einbezogen war. Daher rühren sein Nimbus von Unbestechlichkeit und
die Glaubwürdigkeit seiner Anti-Establishment-Haltung. Es dürfte
jedoch zu erwarten sein, dass er bald selbst in die Oberschicht und
in das große Korruptionsgeschäft einsteigen wird.
Ein
weiterer Grund seines kometenhaften Aufstiegs liegt in der
Unterstützung durch die mächtigen evangelikalen Kirchen. Bolsonaros
Religiosität und relative Distanz zur katholischen Kirche Brasiliens
haben ihn für sie zum wählbaren Kandidaten gemacht. Den
Evangelikalen sind Libertinage, Frivolität, freie Sexualität,
Homosexualität, Feminismus, Abtreibung und auch Armut verhasst. Für
sie gilt Armut sowohl als Resultat von Faulheit und damit als
selbstverschuldet als auch als Ausdruck von Gottesferne. Nach
Auffassung der Evangelikalen lebt ein großer Teil der
brasilianischen Gesellschaft in Sünde und verrichtet das Geschäft
des Teufels. Diese Überzeugungen teilen sie mit Bolsonaro. Nachdem
diese Kirchen mehrheitlich in sein Lager übergeschwenkt waren, nahm
seine Kampagne deutlich an Fahrt auf und gewann einen breiten
Massenrückhalt. Ca. 30 Prozent der Brasilianer*innen gehören einer
evangelikalen Kirche an, Tendenz steigend. 12 Mio. evangelikale
Brasilianer*innen sind Nachfahren afrikanischer Sklaven und viele
Tausende sind Nachfahren von Ureinwohnern. Es verwundert daher nicht,
dass sich unter den Wähler*innen Bolsonaros auch Millionen Menschen
befinden, die zu den Opfern seiner Hasstiraden, Vorurteile und
Beleidigungen zählen. Es ist sein Sicherheitsversprechen und die zur
Schau getragene konservative Moral, die ihn für die Betreffenden
trotzdem wählbar machen.
Die
Rolle der Arbeiterpartei PT
Zu
guter Letzt darf man die Rolle der Arbeiterpartei PT (Partido dos
Trabalhadores) und einige ihrer wahltaktischen Fehleinschätzungen
nicht vergessen. Die PT stellte bis August 2016 insgesamt 13 Jahre
die Regierung Brasiliens. Mehrheitlich konnten sich ihre Mitglieder
nicht von ihrem „Caudillo“ Luiz Inácio Lula da Silva alias
„Lula“ lösen, um rechtzeitig andere Kandidat*innen in Erwägung
zu ziehen. Fernando Haddad, ehemaliger Oberbürgermeister von Sao
Paulo, ohne nennenswerte Lobby in der Partei, kam, nachdem Lula ins
Gefängnis musste, wie die „zweite Wahl“ rüber. Die rasch aus
dem Hut gezauberte Parole „Lula ist Haddad und Haddad ist Lula“
hat nur bedingt gezogen. Auch die große Popularität Lulas außerhalb
der PT, trotz einer gespaltenen brasilianischen Linken, hat falsche
Hoffnungen auf die Erfolgschancen der Partei geweckt. Schon
frühzeitig gab es Stimmen in der PT, die einen pragmatischen
Strategiewechsel anstrebten. Sie sprachen sich für den Verzicht auf
eine eigene Kandidatur und die Unterstützung der Mitte-links-Partei
„Partido Democrático Laboral“ unter Ciro Gomez aus.
Die
Verwicklung von einigen Funktionären der PT-Regierung in den
Mensalão-Skandal und in das vom staatlichen Mineralölkonzern
Petrobras und dem Milliardär Odebrecht ausgehende lateinamerikaweite
Korruptionsnetz haben Lula und der Partei stark geschadet. Dabei war
ihre Verwicklung im Vergleich zur ansonsten üblichen Korruption
innerhalb der Eliten eher geringfügig ausgeprägt. Mit dem
erfolgreichen Amtsenthebungsverfahren gegen Lulas Nachfolgerin Dilma
Rousseff gelang es den reaktionären Kreisen, die verbreitete Wut
über die grassierende Korruption auf die PT zu lenken. Dieser
dubiose Erfolg, auch stark frauenfeindlich geprägt, verschaffte
ihnen einen gewaltigen Auftrieb und wurde zur Blaupause für den
Generalangriff auf zentrale Errungenschaften des moderneren
Brasiliens. Die einst positiv wahrgenommene lange Periode der
wirtschaftlichen Prosperität, die sowohl auf die integrative soziale
Kraft der PT als auch auf die vorteilhafte globale
Wirtschaftsentwicklung zurückzuführen war, verblasste angesichts
der Wirtschaftskrise, die Brasilien seit 2014 heimsuchte. Bei aller
gerechtfertigten Kritik an der PT sollte man nicht vergessen, dass
Lula seine zweite Amtsperiode mit annähernd 80 Prozent Zustimmung
beendet hatte. Unter der PT sind ca. 30 Mio. Menschen in die untere
Mittelschicht aufgestiegen und aus dieser einige Millionen in die
höheren Schichten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass
große Teile der Mittelschicht sich nun gegen die PT gewendet haben
und „ihren“ Erfolg auf Gottes Gunst und ihre individuelle
Leistungsfähigkeit zurückführen statt auf die günstigen
ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen unter den
PT-Regierungen.
Für
Marcos Barreira, Dozent an der Universidade do Estado do Rio
de Janeiro,
seines Zeichens wertkritischer Analyst und Aktivist, ist die
Wahlniederlage der Arbeiterpartei PT in erster Linie hausgemacht:
„Der Grund für die Selbstmordstrategie der PT liegt in der
systematischen Verwechslung der Popularität des ehemaligen
Präsidenten Lula bei den einkommensschwachen, stark konservativen
Segmenten der Bevölkerung mit der Vorstellung eines linken
Fortschritts.“ (Vgl.
https://blogdaboitempo.com.br/2018/10/03/a-beira-do-abismo/.
In deutscher Übersetzung
http://www.krisis.org/2018/brasilien-am-rand-des-abgrunds/
Nach
Barreira hat die PT nie wesentliche linke Aspekte ihres Programms
umgesetzt, sondern eine pragmatische, marktkonforme Politik unter dem
Label „capitalismo popular“ durchgeführt. Die ergänzenden
sozialen Maßnahmen im Rahmen der „Bolsa Familia“ wirkten eher
demobilisierend und führten nicht zur Überwindung der tief
verankerten konservativen moralischen Werte und zu einer
fortschrittlichen Bewusstseinserweiterung bei den begünstigten
ärmeren Schichten. Barreira: „In den Regierungen Lula und Dilma
hatten die wirtschaftlichen Eliten und traditionellen Parteien die
Hegemonie“ … „Die Regierungen der PT fußten auf einer breiten
Koalition, in der die PT tatsächlich nur eine linke Minderheit war,
machtlos gegenüber der dominanten politischen Struktur. Der Lulismo
war größtenteils eine pragmatische Anpassung der Regierung an das
politische System, das durch den Parteikern, der direkt mit Lula
verbunden war, gefördert wurde.“ (Ebd.) Ausgerechnet bei der Wahl
2018, deren Ausgang absehbar die Existenz der brasilianischen Linken
gefährden konnte, schwenkte die PT auf einen polarisierenden linken
und kulturellen Diskurs um, der in zahlreichen Aspekten der eigenen
Parteipraxis widersprach. Das ging an den Segmenten ihrer
konservativen Anhängerschaft vorbei und machte es den Gegnern
leicht, gegen die „kommunistische Gefahr“ und ein angeblich
drohendes kulturelles „Sodom und Gomorra“ zu polemisieren. Ob ein
breites, konservativer ausgerichtetes Mitte-links-Bündnis als
„kleineres Übel“ Bolsonaros Sieg hätte verhindern können,
bleibt offen. Vieles spricht aber dafür. Die überzeugteren Linken
haben die PT eh schon lange verlassen und sich in eigenen Parteien
und Bündnissen organisiert.
Dass
sich der Wahlkampf auf Korruption und Sicherheit zugespitzt hat,
verdeckt, dass auch andere Ursachen für die schwierige Lebenslage
und die daraus resultierende Wut und Verzweiflung von großen Teilen
der brasilianischen Bevölkerung mit ursächlich sind. Wie nahezu
überall auf der Welt hat sich die Warenform auch in Brasilien längst
verallgemeinert. Ohne individuelles Geldeinkommen lässt sich das
Leben nicht mehr bestreiten. Die Arbeitsbedingungen sind
ausgesprochen hart und die meisten Arbeitsverhältnisse extrem
prekär. Die ökonomische Ungleichheit wächst stetig. Außerdem ist
die Bevölkerung ausgesprochen heterogen und von starken
gegensätzlichen Interessen bestimmt, die sich aus unterschiedlichen
Lebenswelten, Kulturen, Szenen, Gruppen, Lebensstilen, Religionen
u.a. in der Regel ergeben. Moderne und vormoderne Lebensweisen
koexistieren oder stehen sich konkurrierend gegenüber, Groß- und
Kleinfamilien lösen sich ebenso auf wie traditionelle indigene
Gemeinschaften. Auch die moderneren Solidarstrukturen verschwinden,
ohne dass bessere Alternativen entstehen. Stattdessen breiten sich
typische Symptome der Moderne aus: Vereinsamung, Individualisierung,
Konkurrenzdenken, Stress und dauerhafte Existenzangst. Die
krisenbedingten Verfallserscheinungen drücken sich in allen
denkbaren und undenkbaren Formen unmittelbarer Gewalt und der
Aushöhlung rechtsstaatlicher Strukturen aus.
Vor
diesem Hintergrund und der mehrheitlich wertkonservativen
Grundhaltung in Brasilien lässt sich auch der weiter wachsende
reaktionäre Einfluss evangelikaler Kirchen verstehen. Für viele
Einwohner*innen sind sie zur „festen Burg“ geworden, die ein
Leben in Geborgenheit, moralischer Integrität und vor allem
ökonomischer Prosperität versprechen. Mit dieser Heilsideologie
sind die Evangelikalen jedoch selbst Ausdruck einer
gesellschaftlichen Modernisierung, die anders als der Katholizismus
den Gelderwerb zum erstrebenswertesten menschlichen Ziel und den
finanziellen Erfolg zum höchsten Ausdruck von Gottesgefälligkeit
machen.
Wie
sieht die Zukunft Brasiliens aus?
Das
neue Kabinett steht ganz im Geist der sogenannten drei B: „Biblia,
Boi e Bala“ („Bibel, Rinder und Gewehrkugeln“). Wie zu
erwarten, sitzen vor allem Militärs in den meisten
Schlüsselministerien: Bildungsminister wird Ricardo Vélez
Rodríguez, emeritierter Professor der Eliteschule für Offiziere. Er
soll dafür sorgen, dass moderne, aufklärerische Inhalte aus den
Schulbüchern verbannt werden und stattdessen die 21-jährige
brasilianische Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 an der Macht
war, wieder ins „rechte Licht“ gerückt wird. Flankierend sind
auch die Rektorate staatlicher Schulen mehr, als es bisher schon der
Fall war, mit Militärs und Polizisten zu besetzen. General Augusto
Heleno sorgt für innere Sicherheit, General Fernando Azevedo e Silva
wird Verteidigungsminister. Das Ministerium für Energie und Minen
erhält Admiral Bento Costa Lima Leite, das Ministerium für
Wissenschaft und Technologie geht an General Marcos Pontes – ein
deutliches Zugeständnis an den militärisch-industriellen Komplex.
Regierungssekretär und damit zuständig für die Kommunikation und
Koordination zwischen Regierung, Senat und Parlament wird der Militär
Carlos Alberto dos Santos Cruz.
Am
Kabinettstisch sitzen sich diametral entgegenstehende Vorstellungen
gegenüber. Wie werden überzeugte Neoliberale unter der Führung des
Superministers Paulo Guedes aus dem Finanzsektor mit den überzeugten
Protektionisten zurechtkommen, wie die Zivilisten mit den Militärs?
Zu einer Konfrontation zwischen weiblichen Kabinettsmitgliedern und
den Supermachos wird es wohl nicht kommen, denn Bolsonaro hat
lediglich zwei Frauen ernannt, die ihm bedingungslos folgen werden.
Als Repräsentantin der Agrarlobby übernimmt Tereza Cristina das
Landwirtschaftsministerium. Sie hat sich u.a. für den massiven
Einsatz von Pestiziden stark gemacht, was ihr den Spitznamen „Muse
des Gifts“ eingebracht hat. Das Ministerium für Frauen, Familie
und Menschenrechte, dem auch die Behörde für indigene
Angelegenheiten „Funai“ untersteht, übernimmt die
radikal-konservative evangelikale Priesterin Damares Alves.
Trotz
eines gewissen Industrialisierungsgrades (ca. 21 Prozent des BIP) ist
Brasilien ökonomisch maßgeblich vom Rohstoff- und
Nahrungsmittelexport abhängig. Der Weltmarkt bestimmt die
Bedingungen. Ob es zu einem länger tragenden neuen Rohstoffboom
kommen wird, ist eher fraglich. Zudem hat Brasilien 321 Mrd.
öffentliche und private Schulden, und ca. 6 Prozent des BIP dienen
ausschließlich den Zinstilgungen. Bolsonaros klassisch neoliberales
Programm ist wenig geeignet, diese Probleme in den Griff zu bekommen
und die Lebenssituation der Mehrheit der Brasilianer*innen zu
verbessern.
Dass
Bolsonaro mit allen Mitteln die sozialen Bewegungen bekämpfen wird,
steht außer Frage. Zu welchen darüber hinausgehenden repressiven
Maßnahmen er greifen wird, hängt auch vom Widerstand auf den
Straßen, im Parlament und im Justizapparat ab. Sollte das Parlament
seinen Ambitionen zu sehr im Wege stehen, ist am ehesten mit einem
putschistischen Bündnis zwischen Armee, Oberschicht und Teilen der
Mittelschichten zu rechnen. Möglich ist ein „Autogolpe“
(„Selbst-Staatsstreich“) nach dem Vorbild Fujimoris in Peru,
durch den Senat und Parlament aufgelöst und ein offen diktatorisches
Regime etabliert wird. Bolsonaro hat mehrfach seine Sympathie für
Fujimoris Autokratie bekundet. Ein anderes Modell könnte Erdogans
Entmachtung des Parlaments ohne dessen Auflösung sein.
Unabhängig
vom anstehenden Typ autoritärer Regentschaft, werden Bolsonaros
Bündnisse und die stärkere Einbindung von Armee und Polizei, anders
als es von seiner Wählerschaft erhofft, die Korruption noch weiter
vertiefen und verfestigen. Der Kampf gegen das politische
Establishment und dessen Eliten wird alte Eliten wiederbeleben und
neue politische Gruppierungen hervorbringen. Auch wird der verstärkte
Einsatz von militärischer, polizeilicher und privat organisierter
Gewalt die Kriminalität nicht verhindern, sondern nur noch mehr
Opfer fordern. Sicherlich wird es gelingen, bestimmte Wohn- und
Geschäftsgegenden sicherer zu machen, wodurch das
Kriminalitätsproblem allerdings nur in andere Stadtviertel verlagert
wird. In den ärmeren Vierteln wird die Bevölkerung nicht mehr nur
unter ziviler Kriminalität und der typischen Behördenwillkür zu
leiden haben, sondern es wird zusätzlich noch die kriminelle Energie
von Polizei und Armee hinzukommen. Das zeigen die Erfahrungen mit den
bislang schon militarisierten Favelas mehr als deutlich. Die neu
auferlegten Bedingungen haben Kuba genötigt, aus dem Hilfsprogramm
„Más Medicos en Brasil“ auszusteigen und Tausende Ärzt*innen
aus dem Land abzuziehen. Sie waren besonders in den ländlichen
Regionen Brasiliens und in einigen Favelas tätig.
Ein
größerer kultureller Konflikt hatte sich anlässlich des Karnevals
in 2019 angekündigt. Der Bürgermeister von Rio, Marcelo Crivella,
ehemaliger evangelikaler Bischof der „Universalkirche vom Reich
Gottes“, nun mit dem frischen Rückenwind der Regierung, setzte
seinen bereits begonnenen Feldzug gegen die Sambaschulen fort und
drehte ihnen den Geldhahn weiter zu. Das verhasste bunte Treiben des
Carnaval Carioca zu verbieten, hat er bisher nicht gewagt. Die
Sambaschulen nutzten die Gunst der Stunde, um anders als bisher
üblich kritische und politische Anliegen auf der berühmten Parade
im Sambodromo zu präsentieren. Die Diskriminierung von Indigenen und
weiteren Minderheiten, die Geschichte der Sklaverei, die Kritik der
Ungleichheit, der Korruption und der politischen Aufstiegssehnsucht
waren die zentralen Themen. In Anspielung auf Bolsonaro zog unter
großem Jubel ein allegorischer Wagen mit monumentalem Ziegenbock und
in überdimensionalen Lettern verfasster Aufschrift „Retter des
Vaterlands“ an den Tribünen vorbei.