Politik
von
Franz Schandl
Normalerweise
geht es in einem Artikel über Politik um eine bestimmte Politik.
Diese wird begründet und erklärt, kritisiert oder verworfen. Ganz
anders in diesem Beitrag: Er beschäftigt sich mit dem
gesellschaftlichen Formprinzip der Politik schlechthin, stellt also
nicht einer Politik eine andere gegenüber, sondern stellt diese
selbst in Frage. Kurzum, die Gesellschaftskritik kann sich heute
nicht mehr darauf beschränken, diese oder jene Politik zu
kritisieren und eine andere einzufordern, sondern sie hat zu einer
Kritik der Politik als Formprinzip der Moderne vorzudringen.
Fälschlicherweise
wird nämlich davon ausgegangen, dass es Politik immer gegeben hat,
sie parallel zur menschlichen Gesellschaftlichkeit laufe. Politik
wird dahingehend als abstrakt-ontologische, nicht konkret-historische
Bedingung angesehen. Wahr ist vielmehr, dass Politik – auch wenn
sie wie andere Termini des öffentlichen Bereichs aus der Antike
entnommen ist – ein Phänomen der kapitalistischen Moderne ist.
Ebenso wenig wie der Staat als die gesellschaftliche
Allgemeinheit verstanden werden kann, sondern nur als eine,
ist die Politik nicht die gesellschaftliche Verallgemeinerung,
sondern nur eine. Die bürgerliche nämlich.
Wie
halt so oft: Nicht alles, was geläufig ist, ist auch ewig. Zu Beginn
des 19. Jahrhunderts war das Wort „Politik“ in unseren Breiten
noch weitgehend unbekannt. Bei Kant und Hegel etwa kommt dieser
Terminus erst embryonal vor. Politik als Begriff machte im deutschen
Sprachraum frühestens mit und nach 1848 Karriere. Eine systematische
Kategorisierung wurde erstmals von Max Weber vorgelegt.
Definitionsversuche
Dieser
schreibt: „‚Politik‘ würde für uns also heißen: Streben nach
Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es
zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den
Menschengruppen, die er umschließt.“ (Max
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden
Soziologie (1922), Tübingen, 5. Aufl. 1972, S. 822)
Gemeinhin versteht man als Politik den in bestimmte Körperschaften
übersetzten Willen des gesellschaftlichen Souveräns, deren Handeln
im engeren und weiteren Sinn. Politik setzt somit Willen und
Entscheidung voraus, ist Folge selbstbestimmter Überlegungen.
Wir
halten diesen Konsens nicht nur für verkürzt, sondern für falsch.
Er verwechselt in der Politik nämlich Willensinhalt und
Äußerungsform. Er überbetont das Wollen und vernachlässigt das
Können. Politik wird hier zum Ideen- und Interessenswettstreit, zu
einem Spiel verschiedenster Anschauungen und Vorhaben. Doch das ist
Politik, wird sie tätig, ist sie mehr als Absicht und Proklamation,
nur in äußerst bescheidenem Ausmaße.
Politik
ist umgekehrt vielmehr die staatliche Pragmatik der
gesellschaftlichen Notwendigkeiten. Die staatsbürgerliche Freiheit
besteht in nichts weniger als in der Einsicht ebendieser.
Das
klingt so nüchtern, wie es ist. Aber nur dieser Standpunkt lässt in
der Entpolitisierung mehr erkennen als einen bloßen Verlust der
Ideale. Die diversen Ideologien sind unabhängig von ihrer
ursprünglichen Herkunft zu dechiffrieren als das stets schwächer
werdende Kontrahieren um die sie antreibenden Kräfte. „Die
Ideologie der Ideologielosigkeit, d.h. der nunmehr stummen, blinden,
voraussetzungslosen Übereinstimmung mit den bereits ausgereiften
Fetisch-Kriterien der Moderne wurde jetzt zeitgemäß.“ (Robert
Kurz, Das Ende der Politik. Thesen zur Krise des warenförmigen
Regulationssystems, Krisis
14 (1994), S. 87) Nach der Phase der
Repulsion befindet sich das gesamte politische System heute in jener
der Attraktion. Seine Besonderheiten werden als Absonderlichkeiten
liquidiert. Kein Aufruf zur Reideologisierung wird daran mehr etwas
ändern.
Dieser berauschend bürgerliche Blick der Politik, der sein höchstes
Ideal übrigens in der Politikverehrung der Arbeiterbewegung fand,
wird zusehends destruiert. Frägt sich nur, ob man diese
Entpolitisierung der Politik beklagen sollte, oder ob man diese
Rückführung, ihr Reinwerden nicht denn doch einer anderen
Beurteilung zuführen könnte.
Verwaltung
statt Gestaltung
Auch auf höchster Ebene ist Politik Verwaltung, nicht Gestaltung.
„Wer Politik treibt, erstrebt Macht“ (Max Weber,
Wirtschaft
und Gesellschaft, S. 822), ist so bloß
hartnäckiger Schein. Politik ist eben nicht praktizierte
Staatsbürgerkunde, sondern Über- und Umsetzung gesellschaftlicher
Notwendigkeiten, die bestimmten Basislogiken und darauf aufbauend
Basisbewegungen folgen, in die Sprache des Geldes (Budget) und des
Rechts (Gesetzgebung). „Die ‚Politik‘ kann ihrem Wesen nach
nicht die ‚Gestaltung‘ der menschlichen und natürlichen
Ressourcen organisieren, obwohl sie die Sphäre der direkten
gesellschaftlichen Kommunikation ist; aber diese Kommunikation ist
nicht ‚frei‘ und nicht offen, sondern eingesperrt in die blinden
Codierungen der Warenform und ihrer ‚Gesetze‘, die als
bewusstlose Quasi-Naturgesetze der ‚zweiten Natur‘ allen bewusst
gestalteten, juristischen Gesetzen der staatlich-politischen Sphäre
immer schon vorgelagert sind.“ (Robert Kurz, Das Ende der Politik,
S. 95)
Politik
ist jenes Medium, das die gesellschaftlichen Ergebnisse und Resultate
in rechtliche und budgetäre Formen gießt, natürlich auch
Korrekturen vornimmt, kurzum ein Ausloten der Möglichkeiten rundum
die Notwendigkeiten. Diese Möglichkeiten verlassen jedoch nie den
vorgegebenen Rahmen der Notwendigkeiten, können ihn nicht sprengen.
Politik kann nur leisten, was Ökonomie zulässt, wobei die Ökonomie
sich natürlich noch viel mehr leisten würde, würde die Politik es
zulassen. Politik ist jedenfalls kein Prinzip, das über die Ökonomie
hinausgeht: „Die ‚Politik‘ wird jetzt immer offener und
eindimensionaler zur Wirtschaftspolitik. Wie in den vormodernen
Gesellschaften alles und jedes religiös begründet werden musste, so
muss nun alles und jedes ökonomisch begründet werden. Man sollte
nur einmal zuhören, wie das Wort ‚Marktwirtschaft‘ im Munde der
versammelten historischen Idioten seit 1989, vom US-Präsidenten über
deutsche Grüne bis zu russischen Ex-Kommunisten einen liturgischen
Klang annimmt.“ (Ebd., S. 88)
Politik
ist das Ein- und Auspendeln gesellschaftlicher Möglichkeiten auf der
Ebene der aktuellen kapitalistischen Verwertungsbedingungen. Die
Entideologisierung verdeutlicht nur, dass diese sich immer direkter
und nackter durchsetzen, den Schein der Weltanschauung ganz einfach
nicht mehr zulassen können.
Staatlicher
Reinterventionismus
Politik
ist die allgemeinste Form des staatlichen Reinterventionismus.
Reinterventionismus deshalb, weil dieser primär reaktiv, nicht aktiv
vollzogen wird. Politik folgt der Gesellschaft, nicht umgekehrt. In
den unterschiedlichsten Ausformungen eines akzentuierten Wollens
(Parteien, Verbände, Bewegungen etc.) fluktuiert sie stets um die
realfiktive gesellschaftliche Gesamtnotwendigkeit. Politik, in
welcher Weise auch immer, ist nichts anderes als die Festsetzung von
geringfügigen Abweichungen gesellschaftlicher Vorgaben. Dieser
Umstand kommt heute immer mehr zu sich, wurde bisher allzusehr durch
die Scheindominanz verschiedenster Ideologien verschleiert. Politik
kann als Form gar nicht „grundsätzlich“ oder „prinzipialistisch“
sein, sie ist a priori Kompromiss.
Politik
ist wesensmäßig Zusammenfindung, nicht Trennung. Die ideologischen
Ansätze, die letztere nahelegen, sind der Politik vorgelagert, ohne
sie jemals ersetzen zu können. Heute erscheint das deutlicher denn
je. Lassen wir politische Absonderlichkeiten wie den Obskurantismus
und das Sektenwesen beiseite – deren Politik kommt ja letztlich nie
durch eine Praxis zu sich, bleibt rein deklamatorisch –, dann sind
politische Differenzen überhaupt nichts anderes als verschiedene
Umschreibungen von normativen gesellschaftlichen Zwängen.
Das
Tun des Politikers ist ein Können, kein Wollen. Mehr Fertigkeit denn
Handlung, mehr Handwerk denn Kreation. Instinktiv haben die meisten
Politiker das auch begriffen, selbst wenn das Subjekt die deutliche
Kapitulation vor den Verhältnissen nicht reflektieren will, bzw. sie
gar offen eingesteht. So ist es auch verständlich, dass der
Durchschnittspolitiker, der oft aus durchaus idealistischen Motiven
in die Politik eingetreten ist, meist zu einem abgeklärten und
zynischen Typus Mensch wird. Es ist die unreflektierte Ohnmacht, die
er empfindet, und doch nicht wahrhaben will. Freiheit und Gewissen,
zumindest wie er sie zu denken gelernt hat, sind somit Schimären,
Einbildung, nicht Wirklichkeit. Das obligate Politikerschicksal lässt
sich so beschreiben: Sie müssen sich dümmer stellen als sie sind,
bis sie wirklich so dumm sind, wie sie sich stellen.
Es
gibt jedenfalls keinen Grund, die Politiker als gesellschaftliche
Ausnahmeerscheinungen vorzuführen, sie gleich Outlaws für vogelfrei
zu erklären. Dahingehend ist auch der Begriff der „politischen
Klasse“, wie ihn der moderne Soziologismus prägte und die
Journaille aufgriff, ein Unbegriff. Bei Politikern ist nur leichter
sichtbar, was woanders in viel stärkerem Ausmaße passiert. Das
Problem der Politiker ist primär jenes: Sie stehen hinter einer
Glaswand, sind nicht unter der Tuchent. Und flüchten sie dorthin,
liegt bald ein Journalist dabei, stierend investigierend.
Form
und Inhalt
In
der gegenwärtigen Politik minimieren sich die Inhalte der
Differenzen. Die wahren Differenzen, die keine wirklichen mehr sind –
eben weil, obwohl wahrnehmbar, sie nichts qualitativ
Unterschiedliches bewirken –, inszenieren sich in Äußerlichkeiten.
Politik wird immer reiner, klärt sich auf in der Normierung und
Realisierung der sogenannten Sachzwänge, die freilich nichts anderes
sind als Systemzwänge. Durch die weitere Globalisierung der
Weltwirtschaft werden die Vorgaben immer deutlicher spürbar und die
Handlungsspielräume einzelner Staaten oder gesellschaftlicher
Gruppen geringer. Die relative Autonomie der Politik wird noch weiter
relativiert.
Der
herausgehobene Charakter des Formprinzips Politik verlöscht, es ist
immer weniger als gesellschaftliche Repulsion wahrnehmbar, seine
Kontraktionen werden schwächer. Vor diesem Hintergrund müssen
formale Differenzen in Stil und Design, in Sakko und Bluse natürlich
an Bedeutung gewinnen. Politiker sind kaum noch an ihren Ausführungen
zu unterscheiden, dafür umso mehr an ihren Aufführungen. Nur führen
sie sich nicht selbst auf, sondern werden aufgeführt. Die Medien
sind Bühne und Politiker haben zu tun, was ihnen vorgeschrieben und
eingesagt wird.
Die
Form frisst den Inhalt. Je mehr letztere verfällt, desto mehr steigt
erstere auf. Es handelt sich dabei keineswegs um notwendige
Entsprechungen und Spannungen von Inhalt und Form, sondern um einen
schlichten Verdrängungsprozess. Dort, wo der Inhalt kaum noch ein
Problem darstellt, verlagert sich das Interesse auf die Form und die
Formvollendung. Politisch wird nachvollzogen, was in der Ökonomie
analog Folgendes bedeutet: Die Verwertung ist blind gegenüber dem
Gebrauchswert (Inhalt), sie dimensioniert sich nach dem Tauschwert
(Form).
Wahlen
transzendieren zu Modeschauen und Hungerkuren. Medientraining,
Schminkkurse und Fitnesscenter verdrängen inhaltliche und
strategische Überlegungen, oder gar noch besser: sind dieselben.
Politik verkommt im ausgehenden bürgerlichen Zeitalter zu einem
Supermarkt. Ähnlichste Sortimente prostituieren sich vor ihren
Konsumenten. Verkleidung ist wichtiger als Inhalt, denn gut verpackt
ist halb gewonnen. Menschen verschwinden hinter Masken. Was
interessiert und zu interessieren hat, ist die reine Oberfläche.
Alles, was darunter ist, fadisiert. Und zurecht, erkennt man die
grundsätzlichen Differenzen als nichtig.
Stimmungsmaximierung
„Das
übergreifende Moment ist die zunehmende Selbstauslieferung der
‚Politik‘ an die selbstläufigen ökonomischen Kriterien.“
(Ebd., S. 98) Die immer stärker sich abzeichnende
Vermarktwirtschaftlichung der Politik, ihr Entschlacken von
weltanschaulichen Beigaben und Resten ist eines der auffälligsten
Phänomene der Epoche. Und doch stellt sich damit die Frage, ob
Politik sich damit entpolitisiert – so unser bisheriger Befund,
oder ob Politik damit nicht vielmehr zu sich kommt – so die
gewagtere These. Lässt erstere von links bis rechts nur den Verfall
der festen Wertvorstellungen beklagen, so ermöglicht letztere doch
ganz andere Einsichten über die strukturellen Gemeinsamkeiten aller
Politiken.
Marktwirtschaftliche
Politik bedeutet Zwang zur Stimmenmaximierung, die nichts anderes als
Stimmungsmaximierung sein kann. Es geht nicht um den kontinuierlichen
Aspekt eines Produkts, sondern um den Verkauf zum richtigen
Zeitpunkt. Politik wird gerade durch die Dimensionierung der Werbung
und die daraus sich noch verstärkende Unterordnung des Inhalts unter
die Form indiskret wie jede andere Ware.
Wenn
es der Fall ist, dass viele Menschen sich erst in den letzten Tagen,
ja Stunden vor der Wahl oder gar in der Wahlzelle entscheiden, so
sagt dies ja nur aus, dass das Wahlverhalten immer weniger von
Überzeugung oder Bewusstsein getragen wird, sondern von Stimmungen.
Wer versetzt den Wähler in die augenblicklich richtige Stimmung, wer
kann ihm im richtigen Moment an? Darum geht es.
Taktizismus
Die
Handlungsbedürftigen sind so bloß Ausführungsbedienstete – denn
wenn sie gegen bestimmte Stimmungen entscheiden, dann drückt sich
das in den Stimmen aus. Und wenn die Stimmen nicht mehr stimmen, dann
ist es um die Politiker meistens geschehen. Politik hat dahingehend
einen immanenten Hang zur Taktik, ihre Interessen sind geleitet von
kurzfristig zu erreichenden Erfolgen.
Die
heutige Politik – und auch darin manifestieren sich ihre Grenzen –
ist taktizistisch geprägt. Taktizismus meint, dass der Politik
insgesamt langfristige Ziele und Überlegungen abhanden gekommen
sind, sie sich immer ausschließlicher auf den Augenblick
konzentriert. Sie bewältigt Situationen, nicht Problemlagen. Erfolg
ist nur noch, was unmittelbar folgt. Die Strategie wird somit
reduziert auf die Aneinanderreihung taktischer Schachzüge, sie folgt
keiner bewussten Logik, ist horizontlos. Es ist in ihr und mit ihr
kein spezifisches Ziel auszumachen, das sich in der Substanz von der
heutigen Gesellschaft unterscheidet.
Dort,
wo es bloß um Wählerstimmenmaximierung geht, müssen Inhalte und
Formen der Politik sich ebenfalls angleichen, ideologische
Versatzstücke immer mehr in der Versenkung verschwinden. Die
Wahlstrategie ist die Abschaffung der Strategie überhaupt, sie ist
Taktik pur, die sich bloß von Stimmenfang zu Stimmenfang hantelt.
Der
Stammtisch
Die
Durchschnittsbürger sind in ihrem Reflex gegen die Etablierten nicht
oppositionell, sie sind vielmehr renitent. Ihre Aversionen sind nicht
spezifisch, sondern diffus, reproduzieren sich primär nach den
vorgelegten Fährten der Demagogen. Damit das bürgerliche Individuum
auf Propaganda anspricht, muss es aber dementsprechend
vorstrukturiert sein. Ansonsten müsste es ja von der Television bis
zu den Zeitgeistmagazinen, vom Boulevard bis zum Hörfunk andauernd
in subversives Gelächter ausbrechen. Es tut es nicht, es ist anders
programmiert. Dummheit, hier verstanden als die sinnliche
Übereinstimmung mit dem Schein der Welt, konsumiert es nicht
selektiv, sondern in vollen Zügen.
Der
österreichische Stammtisch ist gefährlich. Seine Mentalitäten sind
schlimmer als sämtliche Politiken. Seine Wurzeln liegen jedoch nicht
primär in der ideologischen Manipulation oder medialen Verführung,
sondern in den Arbeitsbereichen der Menschen. Nach wie vor vermitteln
Produktionshalle und Büro ein Klima von Hierarchie und
Entsolidarisierung, Leistungsdruck und Konkurrenz, selbst wenn die
Methoden der Formatierung subtiler geworden sind. Die verinnerlichte
Entfremdung der abstrakten Arbeit, der Zwang, ihre Arbeitskraft zu
verkaufen, prägt die Menschen. Autoritätshörigkeit, Ausländerhass
und Denkfeindlichkeit sind Ausdruck dieses Alltags, der
sich dann allabendlich in virtuellen, nichterreichbaren Welten der
Television „aufhebt“.
Gerade
deswegen ist auch jede Aufklärung – deren Notwendigkeit wir
natürlich nicht in Abrede stellen wollen – beschränkt, ist eine
konstituierte und konsolidierte Einsicht nur mit einer anderen
Aussicht herstellbar, nicht mit pädagogischen Kniffs. Allzuoft
erweisen sich die Gegensteuerungen als machtlos gegenüber den
Zwängen des Alltags. Seine Diktatur ist die eigentliche.
Es
ist Abschied zu nehmen von dem banalen Gedanken, dass Politiker und
Funktionäre gutwillige Wähler malträtieren und verführen. Wobei
hier aber auch nicht umgekehrt des Volkes Stimme, der obligate Mann
auf der Straße, die personifizierte Ausgabe des gesunden
Menschenverstands als der die Politik bestimmende Bösewicht zu
entlarven ist. Auch er oder sie sind nicht mehr als typologisierte
Monaden der gesellschaftlichen Bedingungen, von denen sie partout
nicht abstrahieren können, andererseits aber in völliger Verkennung
ihrer geistigen Potenz und gesellschaftlichen Situation davon
ausgehen, dass die Rezepte eigentlich einfach sind: AK-Gehälter
runter!, Ausländer raus! Mörder aufhängen! etc., so die dunkelsten
Verdichtungen der gemeinen Ganglien.
Die
relative Abgehobenheit der Regierenden von ihrem Volk ist daher mehr
zu loben als zu kritisieren. Außer in Ausnahmesituationen gilt es
sich immer vor Augen zu halten: Die sogenannten Herrschenden sind
progressiver als die Beherrschten. Gegenüber dem Stammtischgeraunze
gilt es festzuhalten: Die Politiker sind die besten Politiker wie die
Installateure die besten Installateure sind. Oder mit Karl Kraus:
„Größere Kretins als unsere Staatsmänner sind wir doch selbst.“
(Karl
Kraus, Die letzten Tage der Menschheit (1926), München, 6. Aufl.
1979, S. 321)
Regieren
als Reagieren
Der
demokratische Parlamentarismus lenkt gerade dadurch, dass er für
alle so offensichtlich Entscheidungen fällt, Gesetze beschließt,
Geld verteilt, immer wieder alle Wünsche, Begierden und Kritiken an
seine Adresse. Er wird als die Instanz gesehen, bei der interveniert
werden kann. Wir müssen insofern von einer grenzenlosen
Überschätzung der politischen Sphäre sprechen. Sie dient als der
falsche Reibebaum gesellschaftlicher Interessen, ihre
Allzuständigkeit ist rein fiktiv.
Regieren
kommt jedenfalls von Reagieren. Auch wenn das etymologisch nicht
stimmt, chronologisch ist es richtig. Die Probleme, die auf die
Politik zukommen, hat sie in den seltensten Fällen selbst gemacht,
aber weil sie diese verwaltet und da und dort mit einem Gesetz, mit
einer Förderung, mit einem Appell einspringt, sieht es so aus, als
sei sie die Urheberin, als sei etwa die ökologische oder die soziale
Misere Folge von Umwelt- und Wirtschaftspolitik und nicht Folge
kapitalistischer Produktionsverhältnisse.
Dadurch,
dass Politik die Gesellschaft moderiert, erscheint sie als wahres
Zentrum, gar als jenes, das eigentlich die Gesellschaft leitet. „Noch
heute wird gesellschaftliche Integration oder Lösung aller anderswo
nicht lösbaren Probleme zentral von der Politik erwartet.“ (Niklas
Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft
sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen, 3. Aufl.
1990, S. 168) Die sich wiederholenden
Enttäuschungen, die die Politik dann liefert, gründen darauf, dass
man ihr und sie sich selbst permanent eine Lösungskapazität
bescheinigt, die sie ganz einfach nicht hat. Sie kann nicht, was sie
verspricht. Aber sie muss versprechen, was sie nicht kann.
Auch
der Einwand, dass woanders Entscheidungen getroffen werden, die
eigentlich de jure nur dem Parlament zustehen, geht in die Irre, weil
er den Charakter des Parlaments als demokratische Vollzugsmaschine
vorgelagerter Zwänge nicht erkennen will, sondern einen hehren
Demokratismus gegen den realen behauptet. Eine wahrhafte Demokratie
wird der wirklichen Demokratie gegenübergestellt, die
österreichische Demokratie lediglich als „Torso“ (Sonja
Puntscher-Riekmann, Die
österreichische Demokratie. Ein Torso, Impuls Grün, Nr. 5 + 6/90,
S. 2)
begriffen.
Diese
Sicht verstellt freilich jede emanzipatorische Kritik an Demokratie
und Parlamentarismus, weil sie die Ausformung der Demokratie als
deren Deformierung, nicht als deren Verwirklichung auffasst. Es ist
geradezu ein Kennzeichen der westlichen Demokratie, dass die
wichtigsten Entscheidungen nicht im Parlament fallen. Dieses ist
primär dazu da, diese nachträglich oder vorsorglich zu
legitimieren. Wobei schon das Wort „Entscheidungen“ eine
Übertreibung darstellt, unterstellt es doch, dass etwas
ausgeschieden werden kann, während andererseits etwas bewusst
befürwortet wird. Dies trifft jedoch bei den gesellschaftlichen
Verwirklichungen nicht zu. Was das Subjekt verwirklicht und wofür es
sich entschließt, ist weitgehend von seinem Willen unabhängig, ist
vielmehr bedingt durch die sich in Möglichkeiten übersetzenden
gesellschaftlichen Notwendigkeiten.
Was
sich im Parlament realisiert, kann gar nicht dort geschaffen werden.
Politik justiert nur Nuancen gesellschaftlicher Zwänge, verteilt um,
schwächt ab oder fördert. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes dazu
angehalten, die Bedingungen der Kapitalverwertung einerseits zu
garantieren, andererseits die ökologisch bedenklichsten und sozial
unverträglichsten Entwicklungen abzustellen oder zu mildern. Auch
gegen das direkte Interesse dieses oder jenes Kapitals. Dies gleicht
natürlich einem Eiertanz, bei dem die Politik immer hintennach ist,
in ein Fettnäpfchen nach dem anderen tritt, an der Komplexität der
Detaillösungen oft verzweifelt und außerdem noch die medialen
Prügel bezieht.
Politikverdrossenheit
Die
Krise der Parteienform, die sich natürlich am deutlichsten bei den
Großparteien äußert, ist Folge der Krise der Politik, nicht
umgekehrt. Nicht die Parteien stürzen die Politik in die
Verdrossenheit, sondern das Formprinzip Politik verfault an seinen
Instrumenten. Heute muss man sich freilich die Frage stellen, ob die
passive und massive Verweigerungshaltung von immer mehr Menschen
nicht doch auch progressive Momente in sich birgt. Ob nicht gar das
Bejammern der Politikverdrossenheit in Wirklichkeit reaktionärer ist
als diese selbst.
Dahingehend
hat die allgemeine Politikverdrossenheit neben ihren konjunkturellen
Schwächen – sie weiß keine Antworten auf die anstehenden Probleme
der Zeit, aber das wissen auch etablierte und oppositionelle Kräfte
nicht, nur geben diese es nicht zu – auch strukturelle Stärken.
Sie hat nämlich instinktiv erkannt, dass mit Politik heute kaum
etwas zu ändern ist.
Fast
alles, was die Demokratie trägt (im Sinne jetzt von beinhalten wie
konstituieren), ist in Verruf gekommen: Parteien, Politiker,
Bürokratien, der Parlamentarismus, die Gesetzgebung, der Proporz.
Bejaht, und das dafür umso frenetischer, wird lediglich die leere
Hülle, das Füllwort, indem sich nun aber nichts mehr befindet.
Diese Kritik ist antidemokratisch, aber nicht in einem progressiven
Sinn, sondern in einer reaktionären Variante, die davon ausgeht, man
könnte Demokratie von ihren gesellschaftlichen Inhalten säubern,
jene jedoch gleichzeitig erhalten, ja verbessern. Ein solcher Kampf
gegen den Parlamentarismus und seine Ausformungen, da hat Hans Kelsen
(Der
Staat als Integration, Wien 1930, S. 82)
schon recht, ist nichts anderes als ein Kampf gegen die Demokratie.
Das
Verquere an der aktuellen Situation ist nun, dass in einer Zeit, wo
die Demokratie sich selbst destabilisiert, weil destabilisieren muss,
die subjektiven Träger alternativer Ansätze gerade zu ihrer Rettung
antreten, sich nicht überlegen, was nachher kommt, sondern wie sie
die Form erweitern können. Um uns nicht misszuverstehen: „Niemand
wird die historische Notwendigkeit der Demokratie und ihre große
Bedeutung für ein Hinauskommen über die Enge der ständischen
Agrargesellschaft bestreiten. Aber auf diesen Lorbeeren kann sich die
Menschheit nicht für immer zur Ruhe setzen. Dass die Demokratie
selbst, wie ihr Name schon sagt (Volks-Herrschaft), nur die bisher
modernste Form der Diktatur einer zwanghaften gesellschaftlichen Form
über die Entwicklung menschlicher Bedürfnisse und Beziehungen ist,
kann das absolut in dieser Form befangene demokratische Räsonnement
nicht einmal im Traum realisieren.“ (Robert Kurz, Die
Demokratie frisst ihre Kinder; in: Rosemaries Babies. Die Demokratie
und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1993, S. 14)
Demokratie
und Emanzipation
Die
bürgerliche Demokratie ist nicht mehr entwickelbar, sie ist vielmehr
ein Auslaufmodell, das die besten Zeiten hinter sich hat. Der
unerträgliche Promi-Kult verdrängt die letzten Inhalte, aber er
verdrängt etwas, wo es schon nichts mehr zu verdrängen gibt, seit
sich der Typus der Volkspartei endgültig durchgesetzt hat. Die
bürgerlichen Politiken, die rechten und die linken, lösen sich auf,
weil es um nichts mehr geht außer Nuancen. Die Differenzen sind
inszeniert, ein mediales Spektakel, nicht mehr.
Wobei
natürlich nicht verschwiegen werden soll, dass für das einzelne
Individuum diese Nuancen der Parteiungen sehr wohl elementaren
Charakter annehmen können. In unserem Beitrag geht es aber darum,
das bisher vernachlässigte Integrative zu betonen, nicht so sehr
sich noch einmal an den sekundären Differenzen abzuarbeiten. Die
Politiken von rot und schwarz, grün und braun, können dahingehend
nicht als bloßes „Einerlei“ bezeichnet werden, so gleich sie in
ihrer Struktur auch sind.
Klar
sein sollte: Keine Demokratiereform erweitert mehr die realen
Möglichkeiten der Menschen. Die direktdemokratischen Ergänzungen
sind populistische Überspitzungen der parlamentarischen Demokratie.
Sie sind Zeichen der Krise, nicht eines Aufbruchs, Zeichen eines
unsicher gewordenen politischen Systems, das der Populismus reitet.
Selbstverständlich ist die Demokratie (und zwar mit allen ihren
zusammengehörigen Arten und Unarten) gegen diesen zu verteidigen,
aber eben nicht mehr von einem demokratischen Standpunkt aus.
Demokratie
und Emanzipation sind keine Synonyme mehr, sie sind zu Antipoden
geworden. Zu Demokratie ist kein Komparativ mehr möglich, ihre
Hochzeiten sind endgültig vorbei. Ihre Kapazität ist am Ende. Die
ihr zugrundeliegenden Mechanismen können nicht prinzipiell
ausgeweitet werden, ohne sie letztendlich funktionsunfähig zu
machen. Die Demokratisierung der Demokratie ist nicht kommunizierbar
und kommunikationsfähig. Demokratie hat ihr dynamisches Prinzip
unwiederbringbar eingebüßt.
Revolution
oder Politik?
Und
nun? – Was also tun, sollte unsere fundamentale Kritik stimmen?
Forderungen
nach konsequenter Interessenspolitik können kaum noch auf
fruchtbaren Boden fallen. Da wächst nichts mehr heran; diese Phase,
deren deutlichster Ausdruck der Klassenkampf war, ist vorbei. Die
politische Bewegung des variablen Kapitals, die Arbeiterbewegung, ist
tot, und nicht nur, weil die Sozialdemokratie sie zum Stillstand
gebracht hat, oder der real existierende Sozialismus, der real nie
existierte, gescheitert ist. Der neue Sozialismus wird keiner der
Arbeiterbewegung sein. Er unterscheidet sich somit von allen Ersten,
Zweiten und Dritten Wegen. Der neue Sozialismus wird dort ansetzen,
wo Marx angesetzt hat, in der Produktion. Sein zentrales Instrument
ist die Wertkritik, an der letztendlich alle gesellschaftlichen
Fragen zu diskutieren sind.
Aktuell
wollen wir hier aber natürlich keinen politischen Nihilismus
verkünden, der meint, aus dem Konstatieren eines Absterbens, einen
Verzicht auf die Teilnahme am politischen Leben ableiten zu können.
Das wäre zu schlicht gedacht. Auch das Absterben ist ein Leben. Nur
muss klar sein, wo ihre Grenzen sind, bzw. dass Politik vergeht, eben
weil mit ihr immer weniger geht. Nur weil sie abstirbt, können wir
uns freilich nicht politisch totstellen. Politik wird daher vorerst
noch Begleiter sein müssen, nüchtern behandelt aber als sich stets
relativierendes Prinzip, nicht mehr illusionsbeladen als hehres
Ideal, gar verbunden mit dem Wunsche nach einem politischen
Zeitalter. Reformistisches Dribbeln eben.
Mittelfristig
gilt es freilich, sich radikal umzuorientieren: Was gefragt sein
wird, ist keine andere Politik, sondern eine die Politik bewusst
aufhebende Anti-Politik, d.h. eine Kommunikationsform, die sich nicht
bloß von der etablierten Politik absetzt (um ihr im Ernstfall dann
wie bisher zuzusetzen – man denke an das realistische
Koalitionssyndrom), sondern von der Politik als Formprinzip
überhaupt. Diese Form ist ihr wesentlicher Inhalt, unabhängig von
ihren inhaltlichen Erfüllungen. Politik hat bürgerliche Willensform
und somit schlussendlich kapitalkonforme Inhalte zur Bedingung. „Das
Allgemeine sorgt dafür, dass das ihm unterworfene Besondere nicht
besser sei als es selbst“, schreibt Adorno.
(Negative
Dialektik (1966), Frankfurt am Main 1992, S. 306)
Eines
der Grundmissverständnisse linker Theorie war die metaphysische
Trennung von Form und Inhalt. Diese führte dazu, dass die Form als
quasi wesenslose Hülle erscheinen musste, die mit beliebigen
Inhalten auszufüllen sei. Das affirmative wie leere Verständnis von
Politik, Recht, Demokratie oder Staat ist Ausdruck dieser Haltung.
Diese Begriffe wurden nicht als Realkategorien erkannt, sondern als
beliebig verwendbar den wildesten Definitionen und Kombinationen
zugeführt. So entstanden Unbegriffe wie sozialistische Demokratie,
Arbeiterstaat oder revolutionäre Politik. In der Ontologisierung
bürgerlicher Werte und Termini stand die organisierte
Arbeiterbewegung dem Bürgertum in nichts nach.
Gerade
weil es an der kommunistischen Perspektive mehr denn je festzuhalten
gilt, gilt: Revolutionäre Politik ist unmöglich. Aber nicht weil
der Kapitalismus endgültig gesiegt hat und die Revolution ein
Hirngespinst ist, sondern weil sozialistische Revolution und
bürgerliche Politik ganz einfach nicht zusammenpassen. Politik, die
nicht als Metakategorie bewussten Handelns mit Kollektivbezug
verstanden werden darf, ist untrennbarer Modus der kapitalistischen
Warengesellschaft.
Eine
prinzipiell andere Politik ist somit ausgeschlossen, ein Widerspruch
in sich. Sozialistische oder emanzipatorische Politik ist unmöglich,
kann es per definitionem nicht geben. Eine sozialistische
Kommunikationsform hat somit erst Chancen, wenn die
gesellschaftlichen Zustände sich selbst umwälzend aufheben. Alles
andere sind voluntaristische Proklamationen, die sich stets an der
Realität blamieren.
Von
der Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners ist zu einer
emanzipatorischen Kommunikation des größten gemeinsamen Zählers
überzugehen. Das kann nur gehen, indem alle gesellschaftlichen
Probleme a priori und a posteriori in eine farbenreiche, esoterische
wie exoterische, alles umfassende Gesellschaftskritik einmünden, die
vor allem nicht aus taktischen Gründen entradikalisiert, sondern
jene im Gegenteil theoretisch und argumentativ zuspitzt. Eine solche
Bündnispolitik hat das Verausgaben, nicht das Vereinnahmen zum Ziel.
Sie dient der gegenseitigen Befruchtung, nicht der Sterilisierung.
Freilich
ist wenig getan, wenn man die gesellschaftlichen Konflikte –
letztendlich allesamt Kontraktionen des Werts, der die
gesellschaftliche „Elementarform“ (MEW, Bd. 23, S. 49), die Ware
bestimmt – nur noch in postmoderner Beliebigkeit nebeneinander
stellt und je nach Konjunktur mal dies und mal das als Schwerpunkt
gelten lässt. Man darf nicht auf das soziologistische Gerede von der
Komplexität und Unüberschaubarkeit hereinfallen. Nur die
Erscheinungen sind komplex, das Wesen ist trotz aller Wucherungen und
Ausgestaltungen ganz einfach: Alles und jedes steht direkt und
indirekt im Dienste der Verwertung des Werts, der Bildung von
Kapital. Daran wird alles ausgerichtet und (in doppeltem Wortsinn)
hingerichtet. Die konstatierten Komplexitäten sind nichts anderes
als die zeitgenössische Übersetzung des Scheins.
Wohlgemerkt,
plädiert wird hier für eine Radikalisierung, nicht für eine
Rabiatisierung der Linken. Kompromisslosigkeit und Zuspitzung ist in
der Theorie gefordert, nicht jedoch in der Praxis. Ohne das hier in
der nötigen Differenzierung ausführen zu können, wird letztere in
vielen Bereichen äußerst behutsam und moderat sein müssen. Als
Richtschnur mag gelten: Am Ziel festzuhalten, ohne das Maß aus den
Augen zu verlieren, das den Weg ermöglicht.
Wir
wollen in die Gesellschaft rein, damit sie an uns leichter über sich
selbst hinauswachsen kann. Das erfordert eine ganz neuartige
Komposition von harten und weichen Komponenten, welche sich sowohl
wohltuend von der Starre und Enge kommunistischer Parteien, als auch
von der überemotionalisierten Bauchpolitik alternativer Klüngel
unterscheidet. Hart und weich, offen und geschlossen, autoritär und
antiautoritär, hierarchisch und egalitär, partizipativ und exklusiv
sind nicht mit „gut“ und „böse“ zu übersetzen. Diese Paare
sind somit keine antagonistischen Widersprüche, sondern müssen als
dialektische Gegensätze einer neuen Organisierung entwickelt werden.
Der
Widerspruch Lohnarbeit-Kapital, der immer bloß ein kapitalimmanenter
gewesen ist, ist nicht mehr dazu angetan, Theorie und Praxis zu
leiten. Daraus aber einen gänzlichen Verzicht auf eine Leitlinie
abzuleiten, wäre verkehrt. Heute gilt es, alles an der Wertkategorie
zu dechiffrieren, den Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen
und Produktivkraftentwicklung, zwischen den materiellen Möglichkeiten
der Menschen und den verwertbaren Möglichkeiten des Kapitals,
zentral zu thematisieren.
Ökologische
Zentrierung
Es
ist die Ökologiebewegung, die anders als alle Bewegungen vor ihr im
Prinzip keine Sonderinteressen mehr vertritt, sondern
Allgemeininteressen. Sie ist die erste Formierung, der dieser Gedanke
in umfassendem Sinne zugrunde liegt. Die Bedeutung der
Sonderinteressen erfährt durch sie eine markante Relativierung. Der
Ökologiebewegung geht es der Intention nach ums Ganze.
Unser
Vorwurf an viele Mentoren der Ökologiebewegung geht auch nicht
dahin, dass sie das Primat der Ökologie behaupten, sondern richtet
sich gegen die daraus resultierende Subtraktion aller anderen
Anliegen. Das ist nicht nur bündnispolitisch verkehrt, sondern auch
inhaltlich falsch, da es die gesellschaftlichen Probleme
nebeneinander und nicht miteinander betrachtet und behandelt, sie
sachlich isoliert, eine gemeinsame Grundlage dieser nicht wahrnehmen
will. Schließlich die potentiell progressiven Bedürfnisse dividiert
statt potenziert, sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner
zurechtstutzt.
Mit
der Zentrierung der Ökologie wurde die abstrakt übergeordnete Frage
auch konkret übergeordnet. Es geht ums Ganze, nicht mehr primär um
Verwirklichung von Teilen auf Kosten des Ganzen. Die Ökologiebewegung
ist die einzige qualitativ neuartige Bewegung, auch wenn ihr Denken
und Handeln noch im bürgerlichen Horizont befangen ist. Es ist hier
eine Differenzierung anzusetzen, was wesentliche Intention einerseits
bzw. wesentliche Ausformung andererseits betrifft. Diese
widersprechen sich. Was sie aber ausdrückt und unterscheidet, ist
ihr ganzheitlicher Anspruch, kurzum die Gattungsfrage. Ökologische
Bedürfnisse können so nicht mehr schlichtweg etwa durch
Produktionsausweitung und Produktivkraftentwicklung „gelöst“ und
verwaltet werden wie dies bisher für die Bedürfnisse der
metropolitanen Arbeiterklasse gegolten hat.
Ökologische
Fragestellungen gehen somit direkt an die Substanz der gegenwärtigen
Gesellschaftsformation, auch wenn die aktuellen Lösungsansätze
(Vermarktung der Natur, Verursacherprinzip) sich nach den alten
Formeln abspulen. Die Ökologiebewegung ist ihrer wesentlichen
Intention nach eine Bewegung gegen die privaten und staatlichen
Verfügungsgewalten über Produktionsmittel und
Produktivkraftentwicklung, sie richtet sich somit gegen die
bewusstlose und blindwütige Verwertung des Werts, stellt ihr, wenn
auch absolut vage, eine andere Gestaltung der stofflichen
Lebenszusammenhänge gegenüber. Die Ökologiebewegung ist in ihrer
Potenz die revolutionäre Bewegung. Der biedere und traditionelle
Ablauf ökologischer Konfrontationen sollte darüber nicht
hinwegtäuschen. Sie rüttelt mehr am Kapitalismus als die
Arbeiterbewegung das je getan hat.
Tatsächlich,
um gleich zahlreichen empirischen Einwänden entgegenzukommen, ist
dem natürlich nicht so. In ihren wesentlichen Ausformungen ist die
Ökologiebewegung zahm und artig, vergleicht man sie mit der
aufsteigenden Arbeiterbewegung. Ihre Kritik ist von einer Kritik an
den Missständen noch zu keiner Kritik der Zustände
vorangeschritten. Sie bleibt isoliert, entwickelt sich an den
Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Prozesse (z.B.
Umweltschäden, Umweltkatastrophen), ohne diese in einen
gesellschaftlichen Kontext einordnen zu können.
Die
Ökologiebewegung repliziert geradezu die herrschenden Werte, ja
pocht auf deren Einhaltung gegen die herrschende Ökonomie und
Politik. Den aktuellen Anforderungen antwortet sie mit Fanatismus
oder Pragmatismus. Theorie erscheint ihr als Luxus. Von theoretischen
Gehversuchen, die sich an Markt und Geld versuchen, hat man bisher
nichts vernommen. Im Gegenteil, die Ökologiebewegung gefällt sich
geradewegs im staatstragenden Ton, singt Loblieder auf die
bürgerlichen Werte und den freien Markt, achtet das Gewaltmonopol
und preist den Rechtsstaat.
Karl
Marx’ Betrachtung der sozialen Revolution des 19. Jahrhunderts
trifft auch auf jene des 21. zu: „Die soziale Revolution des
neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit
schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich
selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit
abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der
weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen
Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muss
die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt
anzukommen.“ (MEW Bd. 8, S. 117) In diesem Sinne.