Metapersonale Instanzen
Kolumne Immaterial World
von Stefan Meretz
In unserem Buch „Kapitalismus aufheben“
(Sutterlütti & Meretz 2018) haben wir einen analytischen Rahmen
entwickelt, um über Utopie und Transformation sprechen zu können.
Ein wichtiges Begriffspaar ist dabei für uns das der interpersonalen
und transpersonalen
Beziehungen. Damit können wir zwischen Nahbeziehungen und
Fernbeziehungen, wie Bini Adamczak das in ihrem Buch „Beziehungsweise
Revolution“ nennt, unterscheiden. Nah- oder interpersonale
Beziehungen sind solche zu konkreten anderen Personen, die ich in der
Regel auch kenne. Fern- oder transpersonale Beziehungen sind solche
zu allgemeinen anderen Personen, die für mich eine bestimmte
Funktion erfüllen – zum Beispiel etwas produzieren. Wer das im
Einzelnen ist, ist für mich nicht relevant. Bei beiden
Beziehungsarten handelt es sich immer um aktuelle Beziehungen.
Nun argumentiert Benni Bärmann auf keimform.de,
dass das soziale Netzwerk einer Gesellschaft nicht in inter- oder
transpersonalen Beziehungen aufgeht und schlägt mit den
metapersonalen Beziehungen eine weitere Kategorie vor. So weit
ich es verstanden habe, sollen damit geronnene, überdauernde,
permanent reproduzierte Beziehungen erfasst werden. Es geht also um
Beziehungen zu Personen, die vielleicht gar nicht mehr leben, mit
denen ich dennoch mittelbar über das früher Geschaffene verbunden
bin, sowie jenen, die das Geschaffene kontinuierlich reproduzieren,
weil es für sie funktional ist. Metapersonale Beziehungen als
tradiertes Medium, in dem sich die aktuellen inter- und
transpersonalen Beziehungen entfalten. Beispielsweise haben viele
Vorfahr*innen die Sprache geschaffen, in der ich mich jetzt
verständige. Und indem ich mich in der Sprache verständige, sorge
ich für ihren Erhalt. Das gleiche gilt für exklusionslogische
Herrschaftsformen wie Rassismus und Sexismus, die unsere aktuellen
Beziehungen durchziehen, wobei hier die individuellen
Funktionalitäten in Form von Privilegien ungleich verteilt sind.
Diesen Überlegungen liegt zu Grunde, dass wir
alle Dinge und Angelegenheiten, die wir nutzen, auch herstellen. „Die
Welt ist was Gemachtes“, singt Dota Kehr, und sie ist damit auch
veränderbar, ergänzt die Kritische Psychologie. Auch der
Kapitalismus ist etwas Gemachtes. Wollen wir den Kapitalismus
überwinden, so können wir ihn nicht einfach abschaffen, sondern wir
müssen gleichzeitig etwas Neues an seine Stelle setzen. Das
bedeutet, die interpersonalen, transpersonalen und, so die Ergänzung,
auch die metapersonalen Beziehungen werden sich verändern –
müssen.
Fast alle Beziehungen werden über Mittel
hergestellt. Fast immer geht es um „etwas“, um das sich die
Beziehung herum bildet, um das herzustellende Produkt, den zu
schreibenden Text, die zu regelnde Angelegenheit. Dieses „etwas“,
die Mittel, stellen wir her, wobei die Mittel materieller,
symbolischer oder sozialer Art sein können. Diese Herstellung
geschieht häufig gezielt, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Manchmal
gehen vor allem soziale Mittel aber auch aus einem sozialen
Prozess hervor.
Sprache oder Herrschaftsideologien gehören dazu,
sie wurden einmal hergestellt bzw. sind einmal entstanden. Dass
dahinter Menschen standen, die die sozialen Mittel, die wir heute
weiter nutzen, hervorbrachten, ist heute unsichtbar und gleichsam in
die Mittel übergegangen. Der Gedanke, dass ich historisch
vermittelt mit verstorbenen Menschen in Beziehung stehe, ist
zutreffend, gleichzeitig aber auch nicht mehr veränderbar.
Interessanter ist die alltägliche Reproduktion der geschaffenen
sozialen Mittel selbst. Auf die Veränderung kommt es (mir) an:
Gesellschaftliche Veränderung bedeutet, die (aktuellen) inter- und
transpersonalen Beziehungen und die ererbten, reproduzierten
sozialen Mittel zu verändern.
In der bürgerlichen Gesellschaft kommen viele
soziale Mittel nicht ohne einen Bezug auf höhere Instanzen aus –
seien dies Autorität, Moralität, Ethiken oder Normen. Diese
metapersonalen Instanzen sind historisch in exklusionslogisch
strukturierten Gesellschaften gewachsen und haben im Kapitalismus
eine besondere Qualität bekommen. In einer Gesellschaft der
vereinzelten Einzelnen bieten sie sowohl sozialen Zusammenhalt wie
Möglichkeiten der Konfliktregulation. Auffällig ist hierbei, dass
Zusammenhalt und Konfliktregulation nicht aus der spezifisch
menschlichen Existenzweise – nämlich die Lebensbedingungen
gesellschaftlich-vorsorgend herzustellen – gleichsam „automatisch“
hervorgehen, sondern als Zusätzliches hinzugefügt werden müssen,
damit das Zusammenleben funktioniert. Hätten wir die regulativen
Instanzen nicht, würden wir alle aufeinander einschlagen – so das
Bild und die Rechtfertigung.
Die traditionelle
Arbeiter*innenbewegung hat versucht, die Emanzipation im
Medium der metapersonalen Instanzen zu erreichen. Sie schuf sich
eigene Autoritäten (Partei), beanspruchte, eine eigene Moralität zu
verkörpern (Aufopferung), kreierte eigene Ethiken (Neuer Mensch)
oder schrieb schlicht alte Normen fort. Zum Hineinfühlen empfehle
ich als Lektüre die „Zehn Gebote der
sozialistischen Moral und Ethik“, zu finden bei Wikipedia.
Auch wenn heute moralisch-ethische Anforderungen keinen
quasi-religiösen Charakter mehr haben, bleibt ihr Soll-Charakter
bestehen: Du sollst
politisch-korrekt, solidarisch, inklusiv usw. sein. Umgekehrt deute
ich den Trumpismus als regressiven Reflex auf solche „linken“
Sollenszumutungen, den destruktiven Kern kapitalistischer
Vergesellschaftung nun endlich „unbeschränkt“ ausleben zu
können.
Wollen wir den Kapitalismus überwinden, stellt
sich die Frage, ob wir dies im Medium der genannten metapersonalen
Instanzen tun (können) oder ob wir darin nicht von vornherein auf
verlorenem Posten stehen. Können unsere emanzipatorischen
Handlungsbegründungen auch ohne Soll-Imperative auskommen? In
unserem oben genannten Buch haben wir genau das versucht: Geht eine
strukturelle Inklusionslogik,
die wir als Kern commonistischer Vergesellschaftung bestimmen, aus
den Handlungsbedingungen von Freiwilligkeit und kollektiver
Verfügung hervor oder müssen wir sie moralisch-ethisch
grundiert voraussetzen? Anders gefragt: Können wir Autorität,
Moralität, Ethik und Normen aufheben? Müssen wir es gar? Wie gehen
wir mit den tradierten Formen der Regulation menschlichen
Zusammenlebens im Prozess der Transformation um?