Jenseits der Politik
von Peter Klein
Die Menschen, die in wachsender Zahl auf die Straße gehen,
um dort mit Wut in der Stimme zu verkünden, sie seien „das Volk“, pochen damit
auf die Einhaltung eines Versprechens, von dem sie glauben, dass es ihnen mit
der demokratischen Staatsform gemacht worden sei. Laut diesem Glauben ist es in
der Demokratie „das Volk selbst“, das sich direkt oder vermittels frei
gewählter Abgeordneter regiert. Und wenn dabei Resultate herauskommen, die
unerwünscht sind, die für immer mehr Menschen eine Verschlechterung ihrer
Lebenssituation bedeuten: steigende Mieten etwa, ein Arbeitsmarkt, der die
Masse der Bevölkerung mit Billig-Jobs abspeist, die den Ausblick auf eine
entsprechend schmale Rente eröffnen, während der Reichtum, der sich bei den
Wenigen ansammelt, nur noch obszön genannt werden kann, dann stimmt etwas nicht
mit der Demokratie, dann haben die gewählten Politiker ihr Versprechen, das
Wohl des Volkes zu mehren, nicht gehalten, dann sind womöglich Betrug und
Verrat im Spiel.
Öffentlich – privat: eine unglaubwürdige Struktur
Was die Protestierenden bei dieser Überlegung außer Acht
lassen, ist die gesellschaftliche Form, in der sie sich befinden. Sie sind
allesamt Staatsbürger, und als solche sind sie Bestandteil jener
Rechtsstruktur, die sich erst mit dem modernen Kapitalismus durchgesetzt hat.
Diese Struktur gewährleistet ihnen den Status, persönlich freie Besitzer ihrer
Arbeitskraft zu sein, die miteinander um die auf dem Markt angebotenen
Arbeitsplätze konkurrieren. Ob die Demokratie nun „direkt“ ausgeübt wird, in
Volksabstimmungen zu einzelnen Fragen, oder „indirekt“ – diese Struktur ist den
Wahlen und Abstimmungen immer schon vorausgesetzt. Solange die Menschen nichts
anderes im Sinn haben, als in dieser Struktur zu funktionieren, solange es
ihnen nur um die damit in Zusammenhang stehenden Konditionen geht, Lohn- und
Gehaltsfragen also, Fragen der Arbeitsbedingungen, so lange haben sie der Krise
des Kapitalismus nichts entgegenzusetzen – nichts als die Erinnerung an jene
Vorkrisenzeiten, in denen man beim Wort „Reform“ noch nicht an den neoliberalen
Sozialabbau und die Digitalisierung aller Lebensbereiche dachte.
Der verbitterte Blick zurück, der im Wortsinn sicherlich als
reaktionär zu bezeichnen ist, sollte aber nicht fehlinterpretiert werden. Er
ist kein Beitrag zur Stabilisierung der Rechtsstruktur, die der als
„Marktwirtschaft“ firmierende Kapitalismus für sein reibungsloses Funktionieren
benötigt. Und er führt natürlich auch nicht dorthin zurück, wohin die
politischen Ideologen der verschiedenen Richtungen meinen, dass er führen
müsste oder könnte.
Das gesellschaftliche Sein wiegt, wenn es um solche Fragen
geht, schwerer als das Bewusstsein. Und dieses Sein zeigt uns heute ein
Vergesellschaftungsniveau, das für die der Politik vorausgesetzte
Rechtsstruktur schon per se zum Problem geworden ist. Die Privatleute, die vom
„Genuss (ihrer) privaten Unabhängigkeit und der Verfolgung (ihrer)
Privatinteressen (derart) in Anspruch genommen“ werden (ich zitiere Benjamin
Constant mit einer 1819 in Paris gehaltenen Rede, in: Gall, S. 60), dass
sie ihre gemeinsamen Angelegenheiten den Spezialisten der Politik überlassen
müssen, sind heute nicht mehr die kleinen Handwerker und Ladenbesitzer des 18.
Jahrhunderts, die die Theoretiker des ursprünglichen Liberalismus vor Augen
hatten. Mit einigen Gesellen, Lehrlingen und Gehilfen ausgestattet, die zum
Kreis der Familie gezählt wurden, verfügten diese „Hausväter“ über eine
entsprechend umfangreiche Privatsphäre, die, das Wort „Bürgerstand“ sagt es,
deutlich stabiler war als das, was heute so genannt wird.
Heute ist die Privatsphäre auf den geschlechtsneutralen
Punkt des vereinzelten Individuums zusammengeschrumpft, das ständig dazu
aufgefordert wird, seine Internetkontakte mittels komplizierter Passwörter vor
dem Rest der Welt zu schützen, der offensichtlich, wie in der
Konkurrenzgesellschaft nicht anders zu erwarten, als „fremd“ und „feindlich“ zu
bestimmen ist. Der Freund dagegen ist der liberale Rechtsstaat, der sich mit
extra Datenschutzgesetzen um die Integrität unserer privaten Insel sorgt.
Millionen von Menschen, die in den westlichen Ländern als Singles leben, sind
dabei auf die Alimentierung durch den Staat (Rentenversicherung,
Arbeitslosengeld, Kindergeld, Ausbildungsbeihilfe etc.) angewiesen, und
überhaupt gehört zur westlichen Lebensweise das Funktionieren der öffentlichen
Infrastruktur, die Versorgung aller Haushalte mit Gas, Wasser und Strom ebenso
wie die Müllabfuhr, das Unterrichts- und das Gesundheitswesen. Vom
Schneeschippen bis zur Zimmerlautstärke, von der Vorsorgeuntersuchung bis zur
Definition der Raucherkneipe, vom Mietrecht bis zum Urlaubsrecht, von der
Pendlerpauschale bis zur Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung: In allen
Lebensbereichen hat der treu sorgende Staat die Gesetze und Regeln erlassen,
die uns auch mental in der Spur des vereinzelten Individuums halten (sollen).
Als staatsunmittelbare Rechtsperson ist es diesem Individuum
möglich und wird ihm nahegelegt, sich „selbständig“ und „selbstverantwortlich“
in der total verrechtlichten Welt der modernen Demokratie zu bewegen, ohne auf
die – ohnehin rar gewordene – Verwandtschaft oder sonst ein persönliches Umfeld
angewiesen zu sein. Wer das Laub des über den Zaun ragenden Baums zu entsorgen
hat, wer gerade mit der Hausordnung an der Reihe ist, wer wo und wie lange
parken darf – alles ist geregelt, nichts muss das vereinzelte Individuum selbst
entscheiden oder selbst organisieren. Die Fähigkeit, direkt miteinander zu
kommunizieren und gemeinsame Projekte zu verabreden, wird von den in einem
geradezu verzweifelten Ausmaß mit Kommunikationsmitteln ausgerüsteten
Individuen nicht „abgerufen“. Was Wunder, dass sie verkümmert ist und in den
Zweifels- und Konfliktfällen durch den Gang vors – hoffnungslos überlastete – Gericht ersetzt wird.
Es versteht sich, dass diese Struktur umso fragiler und
brüchiger wird, je weiter das Rechtssystem sich verästelt und ausdifferenziert.
Die Allgegenwart des Staates bedeutet nicht, dass er mächtig ist, sie bedeutet
nur, dass die Situation, in der wir uns als vereinzelte Individuen befinden,
absurd geworden ist. Um sich in ihrer Vereinzelung halten zu können, sind die
modernen Individuen in hohem Maß auf den Staat angewiesen, sie sind hochgradig
verstaatlicht und, indem sie im Denken und Verhalten in den Gleisen ihres
Privatinteresses bleiben, der direkte Ausdruck staatlicher Funktionen und
Leistungen. Eine Schizophrenie, die den Staat als eine eigenständige, vom
täglichen Leben abgesonderte Institution ebenso unglaubwürdig macht wie das
autonome und selbstverantwortliche Individuum, für das sich viele Menschen, in
deren Köpfen die „westlichen Werte“ wabern, noch halten.
Die objektivierende Wirkung des Rechtssystems
Der Stress, in dem sich diese Struktur heute befindet, und
die zeittypischen Krisensymptome, die damit verbunden sind, lassen sich nach
meinem Dafürhalten aus der objektivierenden Wirkung ableiten, die die
Verrechtlichung aller gesellschaftlichen Beziehungen hat. Bekanntlich ist diese
„Objektivität“, die aus dem Kapitalismus „die Wirtschaft“ und aus uns allen
„Bürger“ gemacht hat, im Verlaufe von mehreren „Antidiskriminierungsschüben“
entstanden. Dabei wurden gewisse empirische Unterschiede, die frühere
Generationen als bedeutsam für die rechtliche und gesellschaftliche Stellung
der Menschen erachteten, „neutralisiert“ (ein Ausdruck von Carl Schmitt) bzw.
in den Hintergrund gerückt. Auf die Vorstellungen und Illusionen, mit denen für
das „gleiche Recht“ gefochten wurde, welche „Macht“ den ins Rechtssystem
eingebundenen Unterschichten zuwachsen werde, kann ich hier nicht näher eingehen.
Wichtig ist nur zu verstehen, dass die politischen Richtungsbestimmungen
„links“ und „rechts“, die seinerzeit kennzeichnend waren für die
gesellschaftlichen Konflikte, mit diesem Neutralisierungsprozess ebenfalls in
den Hintergrund gedrängt wurden. Oben und unten, reich und arm gibt es
natürlich immer noch, mit dem Ende des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“ und
dem Übergang zu den neoliberalen „Reformen“ haben diese Kategorien an Bedeutung
sogar wieder gewonnen. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass allein schon
die Wahrnehmung der mit diesen
Kategorien bezeichneten Wirklichkeit sehr stark dadurch modifiziert worden ist,
dass sich die „Wirtschaft“ und die „Karrierechancen“, die sie bietet, als eine
objektive, für alle Staatsbürger gleiche Gegebenheit präsentieren. Das bringt
es nämlich mit sich, dass die Stellung, die jemand in der gesellschaftlichen
Hierarchie einnimmt, weitgehend zu seiner persönlichen Angelegenheit geworden
ist: abhängig vom Ehrgeiz, der Intelligenz und der Leistungsbereitschaft des
betreffenden Individuums, das ja in seiner Vereinzelung zusammen mit diesem
Objektivierungsprozess entstanden ist.
Zum besseren Verständnis des Zusammenhangs von „Subjekt“ und
„Objekt“ zitiere ich hier aus einem bisher unveröffentlichten Text, der die
praktische Relevanz der Kant’schen Kategorie des „allgemeinen Gesetzes“ für die
bürgerliche Gesellschaft zu erweisen sucht: „Um die subjekterzeugende Wirkung des allgemeinen Gesetzes verstehen zu
können, ist es entscheidend wichtig, dass man von dem jeweiligen Sachverhalt,
der zu regeln ist, sei er ökonomisch, sozial oder existenziell einzustufen,
komplett absieht. Die Frage ist nicht, ob die betreffende Sache allgemein ist, sondern ob sie als allgemeine betrachtet und
behandelt wird. Es kommt allein darauf an, dass sie als Rechtsmaterie
beschrieben und anerkannt und somit in
den Rang einer allgemeinen Angelegenheit erhoben wird. Der Blick ist also
rein auf diese Form der Allgemeinheit zu richten, die (…) als etwas für sich
Bestehendes gedacht werden muss, eben als die Metaphysik der bürgerlichen
Epoche. Egal, in welcher Lebens- oder beruflichen Situation ich mich befinde,
ob ich Vollwaise bin oder alleinerziehende Mutter, ob ich als Flussschiffer,
Imker oder Anlageberater arbeite: in dem Maße, in dem der betreffende
Tatbestand zu einer Kategorie des Rechtssystems wird, an dem bestimmte vom
Staat erbrachte oder geforderte Leistungen hängen, bekommt er ein
unpersönliches, objektives Aussehen. Als eine im Rechtssystem vorgesehene Norm
wird er zum normalen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Das Gesetz
macht ihn zu etwas, das prinzipiell für jeden Menschen in Betracht kommt, mit
dem jeder Mensch als mit einer Tatsache des täglichen Lebens rechnen kann; und
als eine solche allgemein menschliche Angelegenheit kann die Situation oder
Lebenslage, in der ich mich befinde, nicht mehr das Wesen meiner Person
bestimmen. Sie hört auf, eine von meiner ‚Individualität unzertrennliche
Qualität‘ zu besitzen, wie es in der Deutschen Ideologie heißt (MEW 3, S. 76).“
Das Verhalten zu der Tätigkeit, die ich ausführe, oder zu
der Situation, in der ich mich befinde, wird auf diese Weise ein äußerliches.
Ob ich Autofahrer „bin“ oder Biochemiker oder Mama oder Papa: Ich bin das alles nicht. Die Situation, in
der ich mich befinde, ist auf vielfältige Weise genormt, sie ist in dieser
Genormtheit schon vor mir da, steht mir als etwas, in das ich mich
„einzuarbeiten“ oder „hineinzufinden“ habe, damit ich es „richtig“ ausführen
kann, gegenüber. Ich gehe in ihr nicht auf (so sehr ich mich als abstraktes
Individuum nach solcher Selbstvergessenheit sehnen mag), sie ist vielmehr eine
Rolle, die ich – zeitweise – übernommen habe, eine Funktion, die ich ausführe.
Als ihr Funktionär aber kann ich meine Sache gut oder schlecht machen. Die
Individuen werden in ihrer „Performance“ vergleichbar, ein allgemeines Messen
und Bewerten hebt an. Man denke an die Bewertungsportale für Ärzte und Lehrer
im Internet oder an das freihändig betriebene Werten in den diversen
Facebook-Communities, das schon die eine oder andere Schülerin in den
Selbstmord getrieben hat. Es war wohl der Taylorismus, die „wissenschaftliche
Betriebsführung“, durch den diese funktionalistische Denkweise auf breiter
Front zum Durchbruch gekommen ist. Aber in der Unterscheidung zwischen „mir“
als einer freien Rechtsperson und meiner „Arbeitskraft“, die ich auf dem Markt
anbiete, ist sie natürlich vorgezeichnet.
Inzwischen hat sich diese Struktur in allen Lebensbereichen
ausgebreitet. Unterstützt von den empirischen Wissenschaften, sorgt eine
überaus reichhaltige Ratgeberliteratur dafür, dass wir mit jenen „Fakten“
versorgt werden, die es uns erlauben, auch in dem engen Bezirk unseres
Privatlebens funktionalistisch zu denken und zwischen „richtig“ und „falsch“ zu
unterscheiden. Auch die Fragen des persönlichen Wohlbefindens oder des Erfolgs
beim anderen Geschlecht kann das moderne Individuum mit jener „instrumentellen
Vernunft“ angehen, deren Kritik schon Max Horkheimer ein Anliegen war. Richtig
essen, richtig atmen, richtig entspannen, richtig Urlaub machen – auf Grünkohl
kann man gut schlafen, eine Entschlackungskur pro Jahr beugt dem Krebs vor, und
ausreichend Bewegung ist bei „unserer sitzenden Lebensweise“ ja vor allem
wichtig. Zeit für die Liebe und Zeit für die Kinder sollen wir uns nehmen und
öfters mal die Seele baumeln lassen. Diese großartigen Tipps für
Selbstoptimierer haben natürlich ihren funktionalistischen Sinn. Nämlich dafür,
dass wir den „Belastungen des modernen Lebens“ standhalten, dass wir unsere
„Leistungsfähigkeit“ steigern und fit für die Firma bleiben. Und mit
Lebensfreude hat die Gesundheit angeblich auch etwas zu tun.
Nebenbei aber bekommen wir etwas mit von der realen
Situation, in der sich die modernen Individuen befinden. Die schimmert nur
allzu deutlich durch die Ratgeber-Inflation hindurch. Wenn permanent vom
Lockerlassen und von der Entspannung die Rede ist, dann weiß man, wie es im
„wirklichen Leben“ zugeht, das uns der Kapitalismus gewährt. Wenn die Zeit so
groß geschrieben wird, die wir uns für die angenehmen Dinge des Lebens nehmen
sollten, fehlt sie offensichtlich in der eng getakteten Lebenswelt des modernen
Kapitalismus. Jedenfalls geht der Funktionalismus der „Arbeitswelt“ bruchlos
über in den Funktionalismus der „Freizeit“ und des privaten Lebens. Damit wir
uns auch hier zurechtfinden und die Zügel nicht schleifen lassen, gibt es die
Wellness- und Freizeit-Industrie. Die sorgt mit allen möglichen Trainings- und
Mess-Apparaturen dafür, dass wir den Vorschriften für ein gesundes,
glückliches, erfolgreiches etc. Leben genügen können. Die Konturen der hier
waltenden „Objektivität“ sind nicht so scharf gezeichnet wie im Rechtssystem.
Die Dystopie, die Juli Zeh in dem Roman „Corpus delicti“ entwirft, wo den
Menschen ein festes Sportpensum abverlangt wird und Schlaf- und
Ernährungsberichte anzufertigen sind, ist noch nicht Wirklichkeit geworden.
Gleichwohl ist dies eine weitere Verstrebung, die in das Gemäuer der uns
umgebenden Objektivität eingezogen worden ist. Und von dem kommt, wenn wir
fragen, warum etwas schief gelaufen ist in unserem Leben, stets das gleiche
Echo zurück: Selber schuld.
Aggression nach innen und außen
In den Zeiten des gleichfreien Individuums und seiner
Selbstverantwortung liegt der Fehler immer bei diesem. Mindestens hätten wir es
besser machen können: fleißiger lernen, genauer zuhören, weniger Alkohol
trinken, mehr Sport treiben. Ohnehin reicht unser empirisch konkretes Dasein
niemals an die glattpolierten Kategorien heran, in denen sich die
gesellschaftliche Objektivität präsentiert, der wir uns, um unsere „Chancen“ zu
wahren, anzupassen haben. Wer an diese unserem abstrakten Ich vorgeschaltete
Objektivität glaubt, schlimmer noch: wer sie verinnerlicht hat, kann sich
eigentlich nur schlecht und als Versager fühlen. Wobei der Größenwahn, der sich
im Falle des Erfolgs einstellt, auch nicht gerade als Wohlbefinden einzustufen
ist. Die Aggression, die mit der Frage nach der Schuld einhergeht, dürfte sich
in den allermeisten Fällen gegen die eigene Person richten. Die weite
Verbreitung der Depression und verwandter seelischer Zustände, die auf die
komplette Lähmung aller Lebensgeister bis hin zum Selbstmord hinauslaufen,
spricht dafür. Die Krankenkassen haben, natürlich mit dem Hinweis auf die
„Kosten“, die ihnen deshalb entstehen, schon mehrfach Alarm geschlagen.
Wer aber von seinem Temperament (und den Hormonen: sexuell
frustrierte junge Männer spielen nach verbreiteter Ansicht die Hauptrolle) nach
außen getrieben wird, wer sich benachteiligt und verraten fühlt und die Ursache
für seine schlechten Gefühle in seiner Umgebung sucht, der findet dort
eigentlich niemanden mehr, der wirklich zuständig wäre. Wir sind ja alle nur
Ausführende von irgendwelchen mit Geld bezahlten Funktionen, denen das
Rechtssystem den Stempel des objektiven Geltens aufgedrückt hat. Die
Verantwortung, die justiziabel ist, besteht nur immer der jeweiligen Funktion
gegenüber, die korrekt auszufüllen ist. Und Funktionsträgern, die – etwa im
Arbeitsamt, im Gerichtssaal oder in der Bank – „bloß ihre Arbeit tun“, begegnet
man nicht als Personen, man kann ihnen nicht persönlich böse sein. Auch den
kollektiven Ressentiments, die in den politischen Massenbewegungen des 20.
Jahrhunderts gepflegt wurden und die den Aggressionen halfen, eine Richtung
gegen „die Anderen“ einzuschlagen, gleich ob rassistisch, nationalistisch oder
soziologistisch bestimmt, ist der hassenswerte Feind abhanden gekommen. Sie
wurden ersetzt durch den „demokratischen Diskurs“, bei dem es um die objektiv
zu konstatierenden „Fakten“ geht und um die Frage, wie sie im Licht der
„westlichen Werte“ einzustufen sind. Wobei die „Finanzierbarkeit“ einer
politischen Entscheidung und die „internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer
Wirtschaft“, an der ja die „Arbeitsplätze“ hängen, den selbstverständlichen
Hintergrund aller Diskussionen bilden.
Das sind Fakten, die man nicht eigens zu thematisieren
braucht. Dagegen sind die klugen Köpfe, die uns in den Talkshows und
Diskussionsrunden die Kunst des sachlichen und zivilisierten Meinungsstreits
vorführen, gerne bereit einzuräumen, dass es Menschen gibt, die das „Gefühl“
haben, benachteiligt und abgehängt zu sein. Für einen Staat, der sich die
„Allgemeinheit“ auf die Fahne geschrieben hat, ist dies sehr wohl ein, wie es
heißt: ernst zu nehmendes Thema. Hier muss diskutiert werden – wobei natürlich,
wie auch sonst überall, das Schwergewicht auf der „Differenzierung“ zu liegen
hat. Denn die Gefühle sind ja unterschiedlich. Verschiedene Individuen nehmen
die gleiche Situation verschieden wahr. Und manch einer, der unten war, ist
dank seiner „Kreativität“ oder einer wundervollen „Geschäftsidee“ und mit viel
Arbeit doch wieder auf die Füße gekommen.
Kurz gesagt: Der Druck, den der Kapitalismus mit seinen
Effizienz- und Leistungskriterien auf die Menschen ausübt, hat im Verlauf der
neoliberal moderierten Krise zugenommen. Viele haben Angst, ihre Arbeit nicht
mehr zu schaffen, entlassen zu werden und ins soziale Abseits zu geraten. Viele
befinden sich schon darin. Und das Plätschern der lauwarmen Brühe aus
unverbindlicher Freundlichkeit und Besserwisserei, das sich „demokratische
Öffentlichkeit“ nennt, wirkt nicht mehr beruhigend oder einschläfernd, es wird
– sofern man es noch zur Kenntnis nimmt – zunehmend als Hohn empfunden. Nämlich
von denjenigen, die weniger gut reden, sehr wohl aber spüren können, dass sie
in der kapitalistischen „Wohlstandgesellschaft“ die Rolle des Losers innehaben.
Die Aggressivität der Menschen, die in der
Konkurrenzgesellschaft ja immer eine Rolle spielt, hat jedenfalls zugenommen.
Sie ist gewissermaßen über die sehr flach gewordenen Ufer der Privatsphäre
(häusliche Gewalt, Autoverkehr, Sportereignisse) getreten und auf eine für
unsere Zeit typische Weise öffentlich geworden. Spektakulär sind die
erratischen Gewaltakte, die in den letzten Jahren von sich reden machten, vor
allem deshalb, weil sie, anders als der gute alte Raubüberfall, keinerlei Ziel
oder Zweck oder Richtung erkennen lassen. Jeden und jede, der oder die den
Leichtsinn besitzt, mit der U-Bahn zu fahren, auf einem Bahnsteig zu stehen
oder sich sonst an einem öffentlichen Ort, etwa einem Weihnachtsmarkt,
aufzuhalten, kann es treffen. Die jungen Männer, die mit einem Mal explodieren
und zuschlagen und treten und stechen, zeigen uns einen Hass, der gewissermaßen
autonom geworden ist. Nicht einmal Mordlust kann man diesen Erscheinungsformen
des geradezu philosophisch reinen Hasses unterstellen. Der lächerlichste Anlass
genügt, um ihn hervorbrechen zu lassen, und oft genug ist gar kein Anlass
vonnöten. Jedenfalls keiner, der sich unmittelbar aus der konkreten Situation
heraus verstehen ließe.
Sehr wohl aber scheint mir das blindwütige Umsichschlagen zu
einer Gesellschaft zu passen, die sich rein aufs blindwütige Funktionieren
verlegt hat – entlang von Erfolgskriterien, die sich von den existentiellen Bedürfnissen
der Menschen meilenweit entfernt haben. Da der Druck, den die von der
Geldbewegung gesetzten Notwendigkeiten ausüben, in allen Lebensbereichen und
schon von Kind auf wirksam ist, hat das, was sich da anstaut bei den jungen
Losern der Leistungsgesellschaft, eine Tendenz zur Totalität. Der Druck, der
von allen Seiten kommt, erzeugt den entsprechenden Gegendruck, sodass die
Entladung in jede beliebige Richtung erfolgen kann. Der Amoklauf, der mit der
Selbsttötung des um sich schlagenden bzw. schießenden Individuums endet,
scheint mir daher, weil der Hass hier auch gegen die eigene Person gerichtet
ist, dieser Art von Totalität am besten zu entsprechen. Er hat, wie bekannt,
seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts einen beachtlichen Aufschwung erlebt.
Wobei sich die USA in ihrer Rolle als „westliche Führungsmacht“ gerade auf
diesem Gebiet hervorragend bewährt haben. Dass der
islamistische Terror, soweit er in den westlichen Metropolen stattfindet,
ebenfalls hier einzuordnen ist, also dem kapitalistisch induzierten Konzept des
Allround-Hasses folgt, nicht etwa einer politischen oder gar theologischen
Strategie, halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Darauf muss hier nicht
weiter eingegangen werden.
Die Wendung zur Systemkritik
Erst in allerjüngster Zeit werden diese Phänomene, in denen
die kapitalistische Krise vorwiegend individuell erlebt wird und
individualistische Ausdrucksformen annimmt, ergänzt und überlagert von einer
Bewegung, bei der die soziale Grundlage sich deutlicher als solche bemerkbar
macht. Aggressivität und Gewaltbereitschaft sind hier ebenfalls hervorstechende
Merkmale, aber der Hass versucht doch, eine die Menschen verbindende Richtung
einzuschlagen. In den verwendeten Parolen ist diese Richtung natürlich systemimmanent,
und sie wird, da sie der „Weltoffenheit“ des globalen Kapitalismus zuwider
läuft, von den Ideologen der Demokratie gerne als „rechtsradikal“ oder
„rechtspopulistisch“ entsorgt. Im Falle der Unruhen à la Chemnitz und Köthen, wo sich die dort seit den neunziger
Jahren etablierte Neonazi-Szene als Stichwortgeber angedient hat und weiterhin
andient, ist das leicht zu bewerkstelligen. Anders dagegen verhält es sich mit
den französischen „Gelbwesten“, die ja von rechten und linken Ideologen hofiert werden. Und die soziale Grundlage der
Wut ist so oder so nicht wegzudiskutieren.
Diese Wut aber scheint mir bei den protestierenden Menschen,
von denen viele ja zum ersten Mal auf die Straße gehen, das eigentlich
Bemerkenswerte zu sein, wichtiger als die ideologischen Brocken, die von allen
Seiten heranschwirren. Sie hat lange gebraucht, um öffentlich in Erscheinung zu
treten, und sie dürfte bei der gediegenen Krise, in der sich der Kapitalismus
befindet, nachhaltigen Charakter besitzen. Sie hat eine Tendenz zur
„schrecklichen Vereinfachung“, oftmals werden „die Politiker“ pauschal an den
Pranger gestellt, sodass sie möglicherweise ausbaufähig ist. Für den einen oder
anderen Bürger, der bislang nur bis zum Monatsende gedacht hat, könnte sie zu
einem Motiv werden, die kapitalistische Gesellschaft als ganze in den Blick zu
nehmen. Vorläufig sollte man sie als Sand im Getriebe des herrschenden
Moralismus willkommen heißen.
Dieser nennt den Kapitalismus niemals beim Namen, weder als
Ursache der Klima- noch der Flüchtlingskatastrophe, tut aber so, als seien mit
ein paar „unseren Egoismus“ einschränkenden Gesetzen alle Probleme zu
bewältigen: „Wir schaffen das.“ Allgemein geltend, wie es sich für
demokratische Gesetze gehört, wenden sie sich an die oberen und die unteren
Etagen der Gesellschaft gleichermaßen. Enger geschnallt wird der Gürtel aber
immer nur bei jenen, die sich unten befinden. Offenbar haben die Leute das
moralische Geseiche satt, das von den Reichen verlangt, ihre „Profitgier“zu
zügeln, und von den Lohnempfängern, „maßvoll“ in ihren Forderungen zu sein und
ihre „Anspruchshaltung“ zu überdenken. In der Chefetage wird der
„internationale Wettbewerb“, der ganze Weltregionen in den Ruin gertrieben hat,
wie eine Naturtatsache behandelt, oft wird ihm sogar als der Quelle „unseres
Wohlstands“ und der „Warenvielfalt“ ein Loblied gesungen; wenn die unten aber
das gleiche Spiel spielen, wenn sie den „Wettbewerb“ auf ihre Weise verstehen
und die ausländischen „Mitbewerber“ auf dem Arbeitsmarkt anpöbeln und
handgreiflich werden, dann schüttelt der Vorstandsvorsitzende den Kopf und
spricht von „Rassismus“. Heuchelei ist das, nichts weiter. In einer Welt des
rücksichtslosen Catch-as-catch-can, in der die Vorstandsgehälter explodiert
sind und die Bonuszahlungen der Banken in die Milliarden gehen, sollen
ausgerechnet die sogenannten kleinen Leute moralischen Edelmut aufbringen und
vom Diesel-Fahrverbot bis zur Benzinsteuer, von der Rentenkürzung bis zum
befristeten Arbeitsvertrag die Maßnahmen gutheißen, die es dem Kapitalismus
erlauben, mit dem „ewigen Wachstum“ noch ein Weilchen fortzufahren.
Für die moralisierende Linke, die vor allem Bekenntnisse
hören will: Bekenntnisse zu einem Ismus, mit dem sich schöne Bilder und
Vorstellungen verbinden lassen – allseitige Toleranz und Weltoffenheit, Friede
mit der Natur – sind die rabiaten Wutbürger natürlich ein Graus. Und in der Tat
sind sie, ins herkömmliche politische Schema gepresst, eher rechts orientiert,
man kann in ihrem Protest gegen staatliche Umweltauflagen auch eine Ergänzung
des Neoliberalismus von unten sehen – à la
„freie Fahrt für freie Bürger!“. Aber Vorsicht – im Hintergrund kichert die
Dialektik! In Sachsen macht man sich angesichts der hässlichen Schläger-Szenen
bereits Sorgen ums „Investitionsklima“, und in Frankreich soll die wiederholte
Blockade von Verkehrskreiseln die Just-in-time-Lieferung von Werkstücken
verhindert und in etlichen Fabriken die Produktion zum Stocken gebracht haben.
Sogar am heiligen Index des BIP, der ein wenig nach unten gezuckt hat, soll
dies abzulesen sein.
Man kann also den Kapitalismus und seinen von allen
konkreten Bedürfnissen abgekoppelten Produktionszwang durchaus beeinträchtigen,
wenn man nur ordentlich „auf seine Gefühle hört“ und öffentlich „dazu steht“ –
ein altes Motto der Psycho-Szene. Was sich in dieser neuen, meines Erachtens
jenseits der Politik angesiedelten, von ihr jedenfalls nicht zu steuernden
Bewegung möglicherweise andeutet, ist die praktische Korrektur eines
theoretischen Mankos, das die traditionelle Linke seit dem 19. Jahrhundert mit
sich herumschleppt: zu glauben, dass die Prinzipien der Demokratie, an denen
sie die Realität des Kapitalismus zu messen pflegt, irgendetwas mit
Antikapitalismus zu tun haben.