Glanz und Elend des Politisierens
von Meinhard Creydt
Protestanten meinen, sie hätten
jeweils als Individuum eine unmittelbare Beziehung zu Gott. Politisierende
Menschen glauben, zur Gesellschaft so umstandslos Stellung nehmen zu können,
als sei sie ihnen direkt zugänglich. Der politisierende Verstand nimmt die
Realität durch die Brille seiner Deutungen wahr. Im politischen Bild von
der Gesellschaft geht es häufig um Prinzipien und Werte. „Mehr Gleichheit“
sagen die einen, „mehr Freiheit“ oder „mehr Nation“ die anderen. Und dann lässt
sich gewichten wie bei den Zutaten einer Suppe. Ganz Schlaue meinen: „Bei dem,
was wie ein Gegensatz aussieht, lassen sich dessen Pole in ein gedeihliches
Verhältnis gegenseitiger Steigerung setzen.“
Ein Beispiel für die Prinzipien-
und Werte-Rede bildet das Motto der „unteilbar“-Demonstration vom 13.10.2018 in
Berlin mit 240.000 Teilnehmern: „Für eine offene und freie Gesellschaft –
Solidarität statt Ausgrenzung.“ Der Aufruf wendet sich gegen rechte Umtriebe,
stellt dabei jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ins Zentrum.
Rechten Bewusstseinsformen und den Motiven, die sich in ihnen artikulieren,
kommt niemand mit Werten wie „Freiheit“ und „Solidarität“ bei. Der
„unteilbar“-Aufruf artikuliert das Selbstverständnis, man selbst hebe sich
positiv von den rechten Unsympathen ab. Sich mit den Ursachen und Gründen für deren Position auseinanderzusetzen oder
Vorschläge dafür zu liefern, wie man bei deren Anhängern diese Positionen
verändern kann – das ist nicht das Anliegen. Man stellt sich selbst als
Vertreter von Freiheit, Offenheit und Solidarität aus und wendet sich gegen
Schmuddelkinder, die aus unerfindlichen Gründen diese vermeintlich selbstverständlichen
Werte unserer Gesellschaft nicht zu teilen vermögen.
Unter
Voraussetzung gesellschaftlicher Widersprüche, der Vereinseitigung der
Individuen und der ungleichen Entwicklung ihrer „Anteile“ machen die
politisierenden Deutungen zwei Angebote: Sie überwinden subjektiv die
Intransparenz und Komplexität der Gesellschaft und suggerieren eine
Pseudo-Souveränität der Politisierenden. Der „Deutungsfuror“ bleibt ein „Stigma
der Entmächtigten“ (Anders 1993, 81). Die politische Zentralperspektive soll
die „blinde enge Teilsicht des in der Schlacht verlorenen Soldaten“ (Bourdieu
1982, 699) vergessen lassen. „Die Ablenkung bezieht ihre Energie daraus, dass
der Einzelne oder eine unmittelbar in einen kriegerischen Schritt verwickelte
Gruppe niemals das Ganze des Krieges wahrnimmt, aber dennoch ein Bedürfnis nach
Orientierung in die Produktion eines ganz willkürlichen Gesamtüberblicks
eingeht. … Es wird so getan, als gäbe es eine Perspektive, die auf den
Krieg als Ganzes. Genau diese gibt es im wirklichen Krieg nirgends.“ (Negt,
Kluge 1981, 816, 818)
Das
politisierende Bild von der Gesellschaft erleichtert es dem vereinzelten
Einzelnen, sich trotz seiner Froschperspektive einen politischen Reim auf das
gesellschaftliche Geschehen zu machen. Es soll kein
Widerspruch zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Bewusstsein geben. Zum
Selbstbewusstsein des politisierenden Durchblicks gehört ein Bewusstsein, welches
das, was es wahrnimmt, so auffasst, dass es sich in ihm wiederzuerkennen
vermag. Die politisierenden Deutungen „streifen den rätselhaften Gestalten
menschlicher Verhältnisse … den Schein der Fremdheit ab“ (MEW 23, 196). Der
Schmerz infolge der wahrgenommenen Realität verliert an Bedeutung angesichts
des Gefallens an der eigenen Urteilsmächtigkeit.
Politisieren als
Bescheidwissen
Mitglieder der modernen
bürgerlichen Gesellschaft stellen sich diese als zusammengesetzt vor aus
wirtschaftlichen und technologischen „Sachzwängen“ einerseits, politischer
„Gestaltung“ anderseits. Der normale Bürger zeigt sich eher skeptisch, ob die
„politische Gestaltung“ viel Spielraum habe vor lauter „Sachzwängen“. Die Fans
des Politisierens sehen überall Möglichkeiten, auf Grundlage des Bestehenden
die Gesellschaft anders zu steuern. Nimmermüde Kommentatoren tadeln allerhand
politische Handlungen als „suboptimal“ oder als „Fehlentscheidung“. Immer schon
wusste Der Spiegel seine Leser mit Manöverkritiken zum laufenden
Politikbetrieb zu versorgen.
Die entsprechende Lektüre
verschafft dem Leser den Genuss, sich politisch auf der Höhe der Zeit zu
dünken. Die wirkliche oder vermeintliche Kunde von allerhand Pleiten, Pech und
Pannen stärkt das Selbstbild desjenigen, der, durch die Lektüre entsprechender
Journale unterstützt, gern unausgeschöpfte Möglichkeiten, nicht genutzte
Chancen und einzelne Fehleinschätzungen beanstandet. Die gemäßigt-linke
Variante findet sich in den Leitartikeln der Blätter für deutsche und
internationale Politik. Albrecht Lucke hat immer einen guten Rat für SPD,
Grüne und Linkspartei parat, wie sie es besser machen könnten. Die politische
Wirklichkeit kommt dann allein als Abweichung zu den wohlmeinenden
Vorstellungen vor, die man für sie hat. „Eigentlich“ könnten doch die
Beteiligten anders, wenn sie nur richtig wollten und sich an die guten
Ratschläge hielten. Wenn dies optimal geschehe, so die linke Variante des
Politisierens, könne man auch die kapitalistische Ökonomie durch die Politik
steuern, wie der Reiter das Pferd dirigiere.
Der politisierende Verstand kann
ein großes Feld von Kennerschaft und Beurteilungsvermögen kultivieren. Eines
seiner Lieblingsthemen stellen Taktiken dar. Mit ihnen sollen bestehende
politische Lager, Parteien und Organisationen umgruppiert, gespalten und neu
zusammengesetzt werden. Die pragmatisch kontraproduktiven Effekte mancher Taktiken
sind Thema im politizistischen Diskurs, nicht aber, dass es sich bei Taktiken
um die Umverteilung der gegebenen Bestände handelt, die weit entfernt sind von
deren substanzieller Veränderung. Auch die bei vielen Linken beliebten Wahlkämpfe „verschlingen viel
Energien und bezeichnen eher einen Austausch von Legitimationen als einen
politischen Produktionsprozess.“ (Negt 1980, 156)
In den Kommentaren vieler
selbsternannter linker Oppositionsberater kommt die Gesellschaft allein in
politisierender Perspektive vor. In ihr bilden häufig die Handlungen das
Hauptthema – und zwar aus der Perspektive des Handelnden. Diese aber verhält sich notorisch ignorant gegenüber der
Struktur der kapitalistischen Gesellschaft.
Gesellschaftsstruktur des
Kapitalismus
Ich gehe im Telegrammstil vier
für sie zentrale Momente durch.
· Die
kapitalismusspezifischen Trennungen betreffen z. B.
– die Unabhängigkeit und
Isolation der Marktakteure voneinander,
– die Dominanz der Nachfrage der
vereinzelten Einzelnen nach individuell erwerbbaren Gütern (z.B. Auto) zulasten
der kollektiven Nachfrage nach Kollektivgütern (z.B. öffentlicher
„Nah“verkehr),
– den gegenseitigen Ausschluss
durch Privateigentum,
– die Interessengegensätze
zwischen Produzenten und Konsumenten sowie zwischen diesen beiden (z.B. Autofabriken und Autofahrern)
einerseits und mittelbar von den
problematischen Folgen dieser Produktion und Konsumation Betroffenen
andererseits,
– die gegenseitige Verdrängung
in der Konkurrenz,
– die Trennung zwischen den
Arbeitenden und den Produktionsmitteln.
· Die
kapitalismusspezifischen Verselbständigungen betreffen bspw.
– die Verselbständigung des
Geldes vor dem Hintergrund der Unabhängigkeit der Marktteilnehmer voneinander
und ihres privatinteressiert-instrumentellen Bezugs zueinander sowie der Notwendigkeit, den abstrakten Reichtum nur
durch Vermehrung erhalten zu können,
– den Übergang vom Wettbewerb,
in dem es um die effizienteste Bewerkstelligung eines bestimmten
Arbeitsauftrags geht, zur Konkurrenz, in der die Arbeitsinhalte Mittel zum
Erfolg in der Konkurrenz und ihm untergeordnet werden.
· Die
kapitalismusspezifischen Widersprüche, die Dynamiken in Gang setzen. Wachstum wird
im Kapitalismus nötig, um den durch den geringeren Anteil von lebendiger Arbeit
(an den Gesamtaufwendungen für die Produktion) verursachten Fall der Profitrate
(als Verhältnis zwischen Mehrwert und insgesamt aufgewandtem Kapital) durch Zunahme der Profitmasse zu kompensieren. Die
Nachfrage nach Arbeit muss absolut zunehmen, weil sie relativ (beim einzelnen
Produkt) sinkt. Wachstum wird im Kapitalismus nötig als Bewegungsform für diese
Widersprüche. Sie werden nicht gelöst, sondern reproduzieren sich auf höherer
Stufenleiter. Die
Kapital-Akkumulation ist nicht durch Motive der Kapitalisten (z.B. „Gier“) zu erklären.
· Eigendynamische, selbstverstärkende
Prozesse der Selbstreproduktion: „Teufelskreise“ bzw. die
gegenseitige, positive Verstärkung zweier Momente finden wir im Kapitalismus
bspw. Zwischen
– der Fokussierung auf das Privateigentum und dem schlechten Zustand
der Gemeingüter,
– der Schwächung bestimmter sozialer Motive,
Fähigkeiten und Zusammenhänge durch Märkte und der Legitimation von Märkten im
Hinweis auf die Schwäche der Sozialität,
– dem Druck der Konkurrenz
auf die Konkurrenten und der Verstärkung dieses Drucks durch die Maßnahmen
jedes Konkurrenten, sich in der Konkurrenz durchzusetzen. Die Konkurrenten
verhalten sich wie auf einer nach unten laufenden Rolltreppe. Sie strampeln, um
nicht nach unten abgedrängt zu werden und fördern durch ihr Strampeln die
Bewegung der Rolltreppe.
Missverständnisse in puncto
Gesellschaftsstrukturen
Gesellschaftsstrukturen
resultieren nicht aus der erweiterten Interaktion von Individuen, sondern geben
den Rahmen für diese Interaktionen vor. „Die expansive Dynamik der
kapitalistischen Produktionsweise kann nicht aus den Absichten ihrer ‚Träger‘
begriffen werden, vielmehr sind diese analytisch auf die strukturdeterminierten
Handlungsmöglichkeiten und -imperative zu beziehen. Gesellschaftliche Prozesse
vollziehen sich über das Handeln menschlicher Subjekte, gleichsam ‚durch ihr
Bewusstsein hindurch‘, ohne deshalb auf Bewusstsein und Intentionalität
zurückführbar zu sein.“ (Koczyba 1979, 184)
Adorno unterscheidet zu Recht
Gesellschaftstheorie von einer Geisteswissenschaft. „Die Fragen, mit denen sie
sich zu beschäftigen hat, sind nicht wesentlich und primär solche des
Bewusstseins oder auch selbst Unbewusstseins des Menschen, aus denen die
Gesellschaft sich zusammensetzt. Sie beziehen sich vorab auf die Auseinandersetzung
zwischen Menschen und Natur und auf objektive Formen der Vergesellschaftung,
die sich auf den Geist im Sinn einer inwendigen Verfassung des Menschen
keineswegs zurückführen lassen.“ (Adorno 1979, 481f.)
Bei den Strukturen der
Gesellschaftsformationen haben wir es mit bestimmten sozialen Sachverhalten zu
tun, die sich zwar in sinnhafte Erwartungen und andere bedeutungsvolle
Bewusstseinsinhalte umsetzen, selbst aber keine darstellen. Gesellschaftsformen
sind nicht als Ausdruck von Weltanschauungen oder kollektiven Mentalitäten zu
begreifen. „Der Kapitalismus z.B. ist nicht Unternehmensgeist + Profitgier + protestantische Ethik usw.,
sondern ein Ensemble von gesellschaftlichen Verhältnissen.“ (Sève 1973, 262) Eine „unmittelbar sichtbare
und denkbare Übereinstimmung zwischen … dem konkreten Individuum und dem
Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (ebd.) fehlt. Gerade diese
Übereinstimmung fingiert das Politisieren mit seinen Deutungen.
Gegenüber einer vorschnellen
Feier der Kreativität des individuellen Handelns gilt es an den „stummen Zwang
der Verhältnisse“ (MEW 23, 765) zu erinnern: „Erst müssen wir herausbekommen,
über welche Zwänge und Vermittlungen der Einzelne sich als ‚soziales Geschöpf
der Verhältnisse‘ reproduziert, erst dann wird die Art und Weise verständlich,
in der ‚er sich auch subjektiv über sie erheben‘ (MEW 23, 16) kann.“ (Ottomeyer
1976, 337f.) Die subjektive Distanz des Individuums zu auszufüllenden Rollen
ist nicht mit einer Distanz zu den Gesellschaftsstrukturen zu verwechseln.
Doppelcharakter und
Widersprüche
Politisierende linke
Oppositionsberater verbleiben oft bei ihrer Frage, was sich ändern kann, auf
der Ebene der Auseinandersetzungen sowohl zwischen verschiedenen politischen
Parteien und Gruppen als auch in ihnen. Etwas anderes ist die Frage nach dem
grundlegenden Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft. Er verläuft
zwischen der Verwertung des Kapitals und den dafür nötigen Fähigkeiten,
Bedürfnissen, Kooperationszusammenhängen und (Er-)Kenntnissen. Zur Verwertung
des Kapitals müssen (subjektive und objektive) Produktivkräfte entwickelt und
genutzt werden. Sie beinhalten Potenzen, erfordern Vorleistungen und regen
möglicherweise Nachverarbeitungen und Erfahrungen an, die in vielfältige
Spannungen zum Verwertungskriterium geraten können.
Die gegenüber der
politisierenden Perspektive betonte Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen
Strukturen und Formen impliziert nicht die Position, die Strukturen seien ewig
und widerspruchslos. Das Widerspruchspaar Produktivkräfte/Produktionsverhältnisse eignet sich als zusammenfassende
Formel, wenn Produktivkräfte nicht eingeschränkt werden auf den „technischen
Fortschritt“. Vielmehr umschließen sie auch „die produktiven Energien,
Qualifikationen und Betätigungsansprüche“ von relevanten Gruppen in der
Gesellschaft (Fleischer 1987, 29). Ich habe in „Wie der Kapitalismus unnötig
werden kann“ (Münster 2014, 35 ff.) materialiter ausgeführt, welche Gruppen und
welche Widersprüche dies gegenwärtig sind bzw. sein können.
Das „Primat der Politik“
Nicht nur Konsumenten von
Verschwörungstheorien sind auf der Suche nach Personengruppen, die sich als
lenkendes Subjekt des Geschehens dingfest machen lassen. Auch Linke vertreten
die These, „die Herrschenden“ könnten über die grundlegenden Gesellschaftsstrukturen
bestimmen. „Wirtschaftliche
Gesetzmäßigkeiten“ stellen für Alex Demirovic (Vorsitzender des
Wissenschaftlichen Beirates der Rosa-Luxemburg-Stiftung) „Freiheit dar,
allerdings die Freiheit einer kleinen Zahl von Menschen, die diese
Gesetzmäßigkeiten maßgeblich gestalten und davon profitieren. Wenn die
wirtschaftlichen Prozesse Ergebnis von Entscheidungen sind, dann liegt es nahe,
diese Entscheidungen zu demokratisieren.“ (Demirovic 2007, 256)
„Wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten“, so lesen wir, sind also keine
Gesetzmäßigkeiten, sondern … „Freiheit“.
In diesem voluntaristischen
Horizont (die einen haben die „Freiheit“ schon, die anderen sollen sie sich
einfach … nehmen) lautet dann die Perspektive: Lasst uns den autokratischen
und unsolidarischen Willen einer kleinen Minderheit durch den Willen der
Mehrheit ersetzen! Daniela Dahn formuliert das so: „Der Auftrag der
Sammlungsbewegung (gemeint ist: „Aufstehen“ – Verf.) wäre, das Primat der
Politik zurückzuerobern.“ (Neues Deutschland 18.8.2018) Das Wort
„zurückerobern“ (Dahn) suggeriert die frühere Existenz des „Primats der
Politik“. Gemeint ist wohl nicht die DDR, sondern eine Vergangenheit, als noch
der vermeintlich gute Sozialstaat existierte. Vgl. dazu meinen Artikel „Die
Idealisierung der Staatspolitik und des Sozialstaats in der Kritik am
‚Neoliberalismus‘“ (Telepolis 2017,
www.meinhard-creydt.de/archives/704). „Primat der
Politik“ heißt für Sahra Wagenknecht, einzutreten für „risikolose Geldanlagen“
mit einer „Rendite“, die dem Anleger erlaubt, ein „Vermögen anzusparen“ (Berliner
Zeitung 4.8.2018), – als ob eine solche Anlageform im Kapitalismus
existieren könnte. Da fehlt nur noch die Hoffnung auf Atomkraft ohne
Radioaktivität.
Keine
Gesellschaftsformation kann auf dem „Primat der Politik“ gründen. Das
rechtliche, das politische und das moralische Bewusstsein lassen sich erst aus
den ihnen zugrunde liegenden gesellschaftsformationsspezifischen Strukturen der
Produktions- und Reproduktionsverhältnisse begreifen. Mitglieder der
bürgerlichen Gesellschaft, denen Recht, Politik und Moral besonders am Herzen
liegen, fühlen sich mit ihnen über die Ökonomie erhaben und nehmen diese als
Mittel und äußere Bedingung für die höheren Zwecke wahr. Recht, Politik und
Moral gelten dann als Ordnungen, die allem wirtschaftlichen Pragmatismus erst
den höheren Sinn sowie Ziel und Form geben – wenn nicht faktisch, so doch
„eigentlich“. Die Verhältnisse zwischen kapitalistischer Ökonomie und Recht,
Politik, Moral und Kultur bilden jedoch die
Aufbauordnung der modernen bürgerlichen Gesellschaft. (Für eine Skizze dieser
Ordnung siehe www.meinhard-creydt.de/archives/87. Für
Literaturhinweise zu vielen auch heute noch lesenswerten Analysen dazu vgl. www.meinhard-creydt.de/archives/75)
Viele Linke
bewegen sich in den analysierten und kritisierten Mentalitätsformen ebenso naiv
wie affirmativ. Die systematischen Verkehrungen, die den rechtlichen,
politischen und moralischen Mentalitäten in der modernen bürgerlichen
Gesellschaft eigen sind, immer wieder durchzuarbeiten, um ihnen nicht zu
verfallen – das gilt vielen Linken nicht als Aufgabe. Dabei gilt die These, die
Menschen können ihre „Lebenslage nur vollständig selbst erkennen, wenn sie die
Dinge ohne juristisch gefärbte Brille … anschauen“ (MEW 21, 494), auch für
den politisierenden und moralisierenden Verstand. Das Politisieren ist umso
beliebter, je weniger der Betroffene ein reflexives Verhältnis zum Politizismus
hat, also zum mystifizierten Schein des Politischen. „Der politische Verstand
ist eben politischer Verstand, weil er innerhalb der Schranken der Politik
denkt.“ (MEW 1, 402) Viele Kommentatoren und Politikenthusiasten wie Albrecht
Lucke schreiben sich selbst das Sorgerecht für den politischen Betrieb zu, der
unter den Politikern der parlamentarisch dominierenden Parteien zu leiden habe
und bei solch suboptimalem Personal nicht zu voller Form auflaufen könne. Sie
sorgen sich um den politischen Betrieb, nicht wegen ihm. Statt einer Kritik am
Politischen in der bürgerlichen Gesellschaft finden wir die Zuschreibung, selbst
der bessere Politiker zu sein oder wenigstens der optimale Politikcoach.
Die frohe Botschaft vom
Primat der Freiheit
Die
politisierende Pseudosouveränität meint, in vermeintlicher Unabhängigkeit vom
„stummen Zwang der Verhältnisse“ (MEW 23, 765) über die Entwicklung der
Gesellschaft in aller „Freiheit” „entscheiden“ (Demirovic) zu können. Die
Politik und die Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft verhalten sich zu den
mit der herrschenden Arbeitsteilung, der Konkurrenz und den
Entwicklungsmaßstäben des abstrakten Reichtums implizierten Spaltungen,
Hierarchien und Bornierungen, indem sie „sich auf eine abstrakte und
beschränkte, auf partielle Weise über diese Schranken erheben“ (MEW 1, 354) und
sie für „unpolitisch“ bzw. die Demokratie nur äußerlich tangierend erklären.
Den der
bürgerlichen Gesellschaft eigenen Formen des politischen Bewusstseins und der
Politik sind Momente des Scheins eigen. „Schein“ heißt: Etwas
real Unselbständiges wird von seinen konstitutiven und reproduktiven
Zusammenhängen abgelöst, als unmittelbar und selbständig wahrgenommen. Das
solcherart Erscheinende dreht sich in sich selbst ein. „Materialistische
Kritik“ gilt der „Verblendung der Unmittelbarkeit“, die „ideologisch die
eigenen Vermittlungen“ nicht wahrhaben wolle (Adorno 1970, 384). Politizismus
ist der Blick auf die Politik, die ihrem Schein verhaftet bleibt. Ästheten
betrachten vieles ästhetizistisch, Technikern gilt allerlei als technisches
Problem und Politisierende kommen nicht über die Grenzen der politischen „Perspektive“
hinaus.
Handlungstheorie und Politik
Die erscheinende Unmittelbarkeit
und Autonomie des Rechts, der Politik und der Moral in der bürgerlichen
Gesellschaft gegenüber der für sie konstitutiven „weltlichen Grundlage“
resultiert aus deren „Selbstzerrissenheit“ (MEW 3, 6). Das Selbst- und
Weltverständnis der Individuen ist aus den ihm zugrundeliegenden
gesellschaftlichen Strukturen und Formen zu erklären – vgl. Marx’ Analyse der
Bewusstseinsformen in seiner „Kritik der Politischen Ökonomie“.
„Es ist … nicht
der Mensch, der sich selbst über die Realität täuscht, es ist die Realität, die
ihn dadurch täuscht, dass sie unvermeidlich in einer Form erscheint, die sich
dem spontanen Bewusstsein der in der Geschäftswelt lebenden Menschen auf
verdrehte Weise zeigt und verbirgt.“ (Godelier 1977, 170)
Die Auffassung des
Individuums als Subjekt seiner Handlungen knüpft an der Praxis der Individuen
an, die gesellschaftliche Realität und ihr eigenes Handeln in ihr im Horizont ihres
Bewusstseins zu deuten. Dann gilt z.B. Lohnarbeit als „Mittel“ des Individuums.
Die Teilnahme am Erwerbs- und Geschäftsleben erscheint als Gelegenheit, die
eigenen „Chancen“ zu realisieren und zu zeigen, „was in einem steckt“. Die
„Marktwirtschaft“ gilt als Ausdruck der Freiheitsidee bzw. als ihre
Ermöglichung. Die Spekulation über „die Stellung der Einzelnen zu diesen
gesellschaftlichen Verhältnissen, die Privat-Exploitation einer vorgefundenen
Welt durch die einzelnen Individuen“ (MEW 3, 398) verstellt die Aufmerksamkeit
für die Gesellschaftsstrukturen.
Zirkulär ist die
populäre Auffassung, „dass unter den existierenden Bedingungen die jetzigen
Verhältnisse der Menschen zueinander die vorteilhaftesten und
gemeinnützlichsten seien“ (MEW 3, 399). Zum
Privatinteresse der Teilnehmer am kapitalistischen Erwerbs- und Geschäftsleben
gehört die Meinung, sich „der Verhältnisse“ zu „bedienen,
in die sie als Dienende eintreten. Sie benutzen die Bedingungen, die ihnen
fremd gegenübertreten. Ihre Anpassung ist hier eine Funktion ihres partikularen
Interessenkalküls, …
ihre Unterwerfung das Instrument zur Verwirklichung ihrer Souveränität als
nutzenmaximierender Subjekte. In dieser Hinsicht synthetisiert die
utilitaristische Praxis den Zwang zur Anpassung mit der Souveränität einer
Funktionalisierung aller Umweltbezüge für privatisierte Interessen und markiert
somit eine spezifische Form der Verschränkung von Heteronomie und Autonomie.“
(Prodoehl 1983, 131) Die Selbstauffassung der Individuen in der bürgerlichen
Gesellschaft als ihr individuelles Leben führende Subjekte verdankt sich dieser
Verdrehung des Bewusstseins.
Zur Subjektform
trägt der Stellenwert bei, den der Wille durch die Verallgemeinerung von
Vertragsverhältnissen in der kapitalistischen Gesellschaft gewinnt. Auch die
Bewusstseinsformen des Rechts, der Politik und der Moral tragen zur Vorstellung
bei, in der kapitalistischen Gesellschaft werde nicht nur mit, sondern aus
Willen und Bewusstsein gehandelt. „Auf den verschiedenen Formen des
Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau
verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen
und Lebensanschauungen. … Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und
Erziehung zufließen, kann sich einbilden, dass sie die eigentlichen Bestimmungsgründe
und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden.“ (MEW 8, 139) Die Auffassungen,
in denen sich das Individuum bewegt, nimmt es als durch ein wie auch immer
geartetes „Denken erzeugt hin“ und „untersucht es nicht weiter auf seinen
entfernteren, vom Denken unabhängigen Ursprung; und zwar ist ihm das
selbstverständlich, da ihm alles Handeln, weil durch’s Denken vermittelt, auch
in letzter Instanz im Denken begründet erscheint“ (MEW 37, 97).
In der scheinhaften
Autonomie des Politischen ist „beides enthalten, die freie von allem
abstrahierende Reflexion und die Abhängigkeit von dem innerlich oder äußerlich
gegebenen Inhalte und Stoffe“ (Hegel Bd. 7, 66). Im Unterschied
zur Ökonomie, welche die höchste Aktivität der Einzelhandlung, aber Passivität
dem gesamtwirtschaftlichen Ablauf gegenüber erfordert, ist in der bürgerlichen
Gesellschaft in der Politik die Regelung des Allgemeinen gefragt.
Der Politizismus überschätzt
notorisch die Bedeutung der Subjekte und ihres Willens. „Bei der Untersuchung
staatlicher Zustände ist man allzu leicht versucht, die … Verhältnisse zu übersehen, und alles aus dem
Willen der handelnden Person zu erklären. … Stellt man sich von vornherein auf diesen
sachlichen Standpunkt, so wird man den guten oder den bösen Willen weder auf
der einen noch auf der anderen Seite ausnahmsweise voraussetzen, sondern
Verhältnisse wirken sehen, wo auf den ersten Anblick nur Personen zu wirken
scheinen.“ (MEW 1, 177)
Die Naturwüchsigkeit und
Profitorientierung der kapitalistischen Ökonomie macht eine sekundäre
politische Bearbeitung der in ihrer Substanzeigenständigen Ökonomie
nötig. Die rechtlichen Rahmenbedingungen und das staatliche Gewaltmonopol sind
zu sichern. Der Staat sorgt als Ausfallbürge idealiter für jene Teilmenge des
nicht (oder nicht in ausreichendem Ausmaß) kapitalistisch Bereitstellbaren
(Infrastrukturen und Sozialleistungen i. w. S.), dessen Mangel die
kapitalistischen Geschäfte selbst mittelbar negativ tangieren würde. In der
staatlichen Politik geht es weiterhin um Integration und Kursbestimmung des
Gemeinwesens. Freiheitsgrade weist das politische Handeln insofern auf, als es
verschiedene Einschätzungen geben kann, was ökonomisch-politisch förderlich ist
und was nicht. Nicht nur aufgrund der Prognoseprobleme, sondern weil auch „das“
einheitliche Verwertungsinteresse sozial nicht existiert, sondern nur als „in sich widersprüchliches Konglomerat
von Einzelinteressen“ (Wirth 1973, 38). Guenther Sandleben (2011) arbeitet dies
in seiner lesenswerten Studie an der deutschen Wirtschaftspolitik zur
Bewältigung der Wirtschaftskrise 2007/2008 heraus.
Zudem sorgen die Widersprüche
der kapitalistischen Akkumulation für Zielkonflikte. Der Dienst der Politik für
die Funktionserfordernisse kapitalistischer Akkumulation ist nicht
(„funktionalistisch“) mit der Garantie verbunden, dass Politiker das
Erforderliche treffsicher identifizieren und effizient in erfolgreiches Handeln
umsetzen. Der Politizismus überschätzt die Unterschiede zwischen den
verschiedenen politischen Optionen und Varianten – zulasten einer
Vergegenwärtigung der übergreifenden und durch systemimmanentes politisches
Handeln nicht erreichbaren Gesellschaftsstrukturen.
In Anlehnung an Laclau und
Mouffe heißt es: „Die Ökonomie selbst ist … ein Kampffeld, das keine anderen ‚Bewegungsgesetze‘
kennt als die, welche einem Feld antagonistischer Kräfte entstammen. Auch der
ökonomische Raum konstituiert sich ausgehend von einem politischen
Kräfteverhältnis.“ (Sonja Buckel 2006, 35) Gewiss spricht nichts dagegen,
Kräfteverhältnisse zu analysieren. Etwas ganz anderes ist jedoch die These,
Gesellschaftsstrukturen und die ökonomische Gesetze des Kapitalismus seien auf
„politische Kräfteverhältnisse“ zurückzuführen.
„Hauptsache Perspektive“
Der Politizismus ordnet sich als Wille und
Vorstellung der Gesellschaft über. „Das Prinzip der Politik ist der Wille. Je
einseitiger … der politische Verstand ist, um so mehr glaubt
er an die Allmacht des Willens, … umso unfähiger ist er also, die Quellen
sozialer Gebrechen zu entdecken.“ (MEW 1,402)
Ein Beispiel: Die grüne Parteistiftung lud
Christian Felber letzten Oktober zu einer Veranstaltung nach Berlin ein. Felber
vertritt ein „Gemeinwohlökonomie“-Konzept mit einerseits teilweise recht weit
gesteckten Zielen und andererseits der Versicherung, überall seien heute schon
Projekte in dieser Richtung erfolgreich unterwegs. Die „Gemeinwohlbilanz“ – das
Kernstück des Konzepts – werde von immer mehr Firmen aufgestellt, so auch von
der großen Sparda-Bank. Felber bringt das seine Hoffnungen vermeintlich belegende
Beispiel bei jedem Auftritt. Das Entscheidende verschweigt er. Der Sparda-Chef
Helmut Lind kürzt aus der „Gemeinwohlbilanz“ die kapitalismuskritischen Momente
heraus. „In letzter Konsequenz würden sie bedeuten, dass wir auf einen
Sozialismus zusteuern sollten. Allen gehört alles. Das ist mir zu extrem, zu
dogmatisch.“ (Lind, zit. n. Winkelmann 2016, 36f.) Der politizistische
Projektemacher ist „so ausschließlich mit seinen Hoffnungen beschäftigt, dass
ihm nichts, was ihnen widerspricht, jemals wahr, eindeutig und spürbar genug
erscheint“ (Ben Johnson).
Die grünen Funktionäre, die Felber in Berlin
einluden, nehmen zwar die weitreichenden Vorstellungen von Felber nicht ernst,
zeigten sich aber befriedigt, dass ein „Mann mit Visionen“ viel junges Volk in die
Veranstaltung zieht. Was es mit der „Perspektive“ genauer auf sich hat, das ist
dann nachrangig. Ähnlich wie bei vielen Christen handelt es sich um den „Sieg
des Glaubens als seelischer Tätigkeit über den Glauben als inhaltliches Credo“
(Anders 1988, 371). Die visions and missions fungieren wie Sonntagsreden. Sie
geben denjenigen am Werktag Trost und Sinn, die sich an mehr orientieren wollen
als an pragmatischem Handeln.
Die hier skizzierten Elemente des Politizismus
sind: Die Werte- und Prinzipienrede, die die Gesellschaftsstrukturen
ausblendende Verengung der Aufmerksamkeit auf Handlungen, die Überschätzung
politischer Autonomie gegenüber den Zugzwängen der kapitalistischen Ökonomie
sowie die fiktive „Perspektive“. Der Politizismus praktiziert „eine fortwährende
Ablenkung, die nicht einmal zur Besinnung kommen lässt, wovon sie ablenkt“
(Kafka).
Literatur
Adorno, Theodor W. 1970:
Ästhetische Theorie, Frankf./M.
Adorno, Theodor W. 1979:
Soziologische Schriften, Bd. 1, Frankf./M.
Anders, Günter 1988: Die Antiquiertheit
des Menschen, Bd. 2, München.
Anders, Günther 1993:
Mensch ohne Welt – Schriften zur Kunst und Literatur, München.
Bader, Veit Michael;
Berger, Johannes; Ganßmann, Heiner u.a. 1976: Einführung in die
Gesellschaftstheorie, Bd. 1, Frankf./M.
Bourdieu, Pierre 1979: Die
feinen Unterschiede, Frankf./M.
Buckel, Sonja 2006:
Neo-Materialistische Rechtstheorie, in: Dies., Ralph Christensen, Andreas
Fischer-Lescano (Hg.): Neue Theorien des Rechts, Stuttgart.
Demirovic, Alex 2007: Wirtschaftsdemokratie, in:
Ulrich Brand, Bettina Lösch, Stefan Thimmel (Hg.): ABC der Alternativen,
Hamburg.
Fleischer, Helmut 1987:
Ethik ohne Imperativ. Zur Kritik des moralischen Bewußtseins, Frankf./M.
Godelier, Maurice 1977:
Perspectives in Marxist Anthropology, New York.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Hg. v. Eva
Moldenhauer, Karl Markus Michel, Frankf./M. 1970.
Hindess, Barry; Hirst,
Paul 1981: Vorkapitalistische Produktionsweisen, Frankf./M.
Koczyba, Hermann 1979:
Widerspruch und Theoriestruktur, Frankf./M.
Negt, Oskar 1980: Alternative Politikformen als
politische Alternative?, in: Roland Roth (Hg.): Parlamentarisches Ritual und
politische Alternativen, Frankf./M.
Negt, Oskar; Kluge,
Alexander 1981: Geschichte und Eigensinn, Frankf./M.
Ottomeyer, Klaus 1976:
Antikritisches zu Rainer Paris, in: Gesellschaft – Beiträge zur Marxschen
Theorie, Bd. 8/9, Frankf./M.
Prodoehl, Hans Gerd 1983:
Theorie des Alltags, Berlin.
Sandleben, Guenther 2011:
Politik des Kapitals in der Krise. Eine empirische Studie, Hamburg.
Sève, Lucien 1977: Marxismus und Theorie der
Persönlichkeit, Frankf./M.
Winkelmann, Marc 2016:
Auf’s Ganze, in: Enorm – Wirtschaft. Gemeinsam. Denken. 7. Jg., H. 1, Hamburg.
Wirth, Margaret 1973: Zur
Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Prokla, H. 8/9.