Fakten, Fakten, Fakten – und nichts dahinter?

 

von Peter Klein

 

Seit Urzeiten ist den Menschen bewusst, dass die mit den fünf Sinnen zu erfassenden Phänomene, die ihnen in ihrer jeweiligen Lebenswelt begegnen, nicht das Ganze der Wirklichkeit sind, mit der sie zu rechnen haben. Jenseits der sichtbaren Welt gibt es eine unsichtbare Welt, die nur indirekt und mit einem gewissen Aufwand an Denken zu erschließen ist.

Aufklärung und Religion

Solange sich das Leben im überschaubaren Kreis von Sippe und Stamm abspielte und auch geographisch einen entsprechend geringen Umfang hatte, war der Platz, der dem unsichtbaren Jenseits zur Verfügung stand, entsprechend groß – und das Denken, das noch wenig Gelegenheit gehabt hatte, sich in größeren Zusammenhängen zu bewegen und eigene Kategorien dafür auszubilden, füllte ihn mit Kräften und Mechanismen, die geheimnisvoll waren und sich auf unvorhersehbare Weise ins tägliche Leben mischten.

In ihrem Aussehen glichen diese Kräfte aber den Gestalten der bekannten Welt. So sind etwa die ägyptischen Götter, die zu besänftigen und mit allerlei Opfern und Ritualen freundlich zu stimmen waren, ein ziemlich getreues Abbild der entlang des Nils anzutreffenden Fauna, wobei Apis, der heilige Stier von Memphis, als Fruchtbarkeitsgott eine wichtige Rolle spielte. Moses musste, um seinen unsichtbaren Gott durchzusetzen, die Anhänger des „Goldenen Kalbes“ niedermachen, und auch die „kuhäugige Hera“ erinnert an das Produktionsmittel, das bei den frühen viehzüchtenden Stämmen von zentraler Bedeutung war und den Nimbus des Heiligen besaß.

Die großen Reiche der Antike, insbesondere das römische, das eine Masse von lokalen Gottheiten eingemeindete, bedeuteten einen gewaltigen Schub in Richtung „Jenseits überhaupt“, dem dann auch im Denken das entsprechende Abstraktionsvermögen folgte. Gleichwohl musste etwa der christliche Monotheismus, der eine alle Menschen umfassende individualistische Ethik vertrat, erhebliche Abstriche von dem in der Philosophie bereits erreichten Begriffsvermögen machen, um dem real existierenden „Alle“ zugänglich zu sein. Die hochfliegenden Ideen mussten in Geschichten, Bilder und Gleichnisse gekleidet werden, um bei ihren Adressaten ankommen zu können. Und die vielen Heiligen, die der katholischen Menschheit in den Sorgen und Nöten des Alltags bis heute zur Seite stehen, lassen darauf schließen, dass das „ägyptische Level“ des Abstraktionsvermögens im „gemeinen Verstande“ noch durchaus präsent ist. Von den siebzig Jungfrauen, die auf den im Kampf gefallenen Dschihadisten warten, gar nicht zu reden.

Wie schwierig es in den vormodernen Zeiten auch für die des Lesens und Schreibens kundigen „Intellektuellen“ war, die verschiedenen Abstraktionsebenen auseinanderzuhalten, zeigt Hegel am Beispiel eines spanischen Bischofs, den die Frage umtrieb, ob eine Kirchenmaus, die an einer geweihten Oblate geknabbert hat, nun ihrerseits als geweiht und heilig anzusehen sei (Geschichte der Philosophie II, S. 538). Das Wort „heilig“, das auf eine Wirklichkeitsebene hindeutet, die für das betreffende Gemeinwesen als ganzes konstitutiv ist, auf etwas also, dem auch die Reichen und Mächtigen unterworfen sind, wird hier empiristisch verwendet, wie die Eigenschaft eines handgreiflichen Gegenstandes, der etwa rot angestrichen und fünf Kilo schwer ist. Kalauer des gleichen Kalibers, ob etwa Gott, anscheinend ein Muskelmann und Jahrmarktzauberer, einen Stein schaffen könne, so schwer, dass er ihn selbst nicht zu heben vermag, produzierte die Scholastik in großer Menge. Immerhin wurde so, wie der Allesbegreifer Hegel anerkennend feststellte, das zergliedernde bzw. analytische Denken vorangebracht, der Bezug dieses Denkens auf die Erfahrungswelt – wie viele Engel passen auf eine Nadelspitze? – blieb aber phantastisch.

Mit dieser Phantasterei Schluss zu machen, war das dringende Anliegen der Aufklärungsphilosophen, die ja bekanntlich die Gräuel der Religionskriege und der Hexenprozesse zu verarbeiten hatten. Unschädlichmachen der Transzendenz hieß die Devise, und dies geschah im 17. und 18. Jahrhundert dadurch, dass man Gott entweder sehr weit nach oben hievte, sodass er zu einer Art Hintergrundrauschen herabgedimmt wurde und jedenfalls im Diesseits nichts mehr zu tun hatte (Deismus), oder man erklärte das Jenseits gänzlich zur unerwünschten bzw. überflüssigen Kategorie. Die Empiristen (Locke, Condorcet) behaupteten, dass auch die Allgemeinbegriffe in der Erfahrungswelt wurzeln, und die Religion, wie sie das unwissende, an Wunder und wundertätige Reliquien glaubende Volk sogar in Frankreich (das seine Protestanten vertrieben hatte) noch praktizierte, wurde der Verachtung des aufgeklärten Bürgers anheimgegeben.

Ziemlich genau diese Haltung begegnet uns auch heute wieder anlässlich jener Verschwörungstheorien, die, im Zusammenhang mit den aktuellen Krisensymptomen stehend, speziell in den Kreisen des sogenannten Populismus grassieren. Die Kommentare der Mainstream-Medien, die sich des Phänomens annehmen, klingen durchwegs herablassend bis arrogant. Und in Anbetracht des gebotenen Inhalts, wonach etwa Frau Merkel vorhat, die deutsche Bevölkerung auszutauschen oder irgendwelchen, womöglich jüdischen, Finsterlingen in den USA zu Diensten ist, die mit der Destabilisierung des Nahen Ostens und der damit ausgelösten Fluchtbewegung auf die Destabilisierung des ökonomischen Konkurrenten Europa zielen, mag dieser Tonfall verständlich sein. Die „ägyptischen Götter“ haben in den bürgerlichen Zeiten offenbar gelernt, strategisch zu denken, sie sind dazu fähig, langfristig angelegte Pläne zu verfolgen, was der Kapitalismus, auf den kurzfristigen Erfolg von lauter privaten Akteuren festgelegt, ja leider nicht kann.

Was aber haben die forschen Verteidiger der Aufklärung sonst noch anzubieten? Außer der Häme über die allzu schlichten Erklärungsbedürfnisse des „dummen Volkes“? Nicht allzu viel, will mir scheinen, wenn ich den im Juni 2018 auf ZEIT ONLINE erschienenen Artikel zum Thema „Verschwörungstheorien“ als ein für das Genre typisches Beispiel nehmen darf.

Unter dem Titel „Verschwörungstheorien: Das geheime Dahinter“ wird dort der Eindruck erweckt, als sei das Fragen nach dem „geheimen Dahinter“, also nach den tieferliegenden Ursachen für die gegenwärtige Weltlage mit ihren zig Millionen Flüchtlingen schon per se eine Albernheit, über die der aufgeklärte Mensch nur den Kopf schütteln könne. Der Autor „überführt“ die Verschwörungstheoretiker, ein „metaphysisches“ Glaubensbedürfnis zu bedienen, er spottet über Oskar Lafontaine, der von einer „unsichtbaren Regierung“ gesprochen habe, „die in Wirklichkeit die Geschicke dieser Welt bestimmt“, und landet folgerichtig bei der Religion: „Die Metaphysik der Verschwörungstheorie ist umgekehrte Religiosität.“ Womit er offensichtlich glaubt, für sein kritisches Vorhaben das Möglichste getan zu haben. Wer aber den Stein gegen die Metaphysik erhebt, ohne der Wahnsinnslogik des Kapitalismus zu gedenken, die sich gegen die elementarsten menschlichen Bedürfnisse sperrt, sofern deren Befriedigung kein „Wachstum“, nämlich der ins „Menschenmaterial“ zu investierenden Geldsummen, verheißt, sitzt schon längst in eben diesem Glashaus der Metaphysik – er soll nur fortfahren mit dem Steinewerfen.

 Die bürgerliche Metaphysik erscheint im Gegenüber von Subjekt und Objekt

Der Abwehrreflex gegen die Religion, der bei den Verteidigern der Aufklärung so überaus leicht ausgelöst wird, wenn sie es mit den genannten Verschwörungstheorien zu tun bekommen, ist ein spätes Echo des 18. Jahrhunderts. Er zeigt, dass die weitere theoretische Entwicklung ein Geheimnis für sie geblieben ist. Die hat nämlich im deutschen Idealismus zu der Entdeckung geführt, dass die moralischen und Rechtsvorstellungen des Bürgers, insbesondere die auf die persönliche Freiheit bezogenen, die sich dann auch in den entsprechenden Institutionen, letztlich im modernen Rechtsstaat niedergeschlagen haben, ebenso als Metaphysik zu betrachten sind wie die religiösen Ideen. Ebenso wie die von allen konkreten Lebensumständen abstrahierende Freiheit der Person kommt auch die komplementär sich dazu verhaltende Kategorie des allgemeinen Gesetzes aus einer Sphäre, die mit den Sinnen nicht zu erfassen ist. Und Kategorien, die schon als solche zu wirken fähig sind, nicht nur unabhängig von unseren sinnlichen oder physiologisch zu konstatierenden Bedürfnissen, sondern ihnen sogar entgegen gerichtet, darf man wohl der Metaphysik zurechnen.

Ob ich nun bereit bin, für Gott zu sterben oder für das Vaterland oder für die Freiheit und die „westlichen Werte“ – das Menschenopfer, das schon der biblische Abraham seinem Gott darzubringen bereit war, findet hier wie dort statt, und es hat in allen diesen Fällen die gleiche metaphysische Grundlage: eine das Ganze des betreffenden Gemeinwesens repräsentierende Abstraktion, die, als eigenständige und gleichsam von außen kommende Macht vorgestellt, den Menschen die Regeln ihres Zusammenlebens vorschreibt.

Der kategorische Imperativ Kants, der die Allgemeinheit rein als solche auf den Thron der gesellschaftlichen Ordnung hebt, stellt nur die letzte oder höchste Stufe dieses Denkens dar, das die Allgemeinbegriffe wie selbständige Wesen behandelt, die aus sich heraus wirksam sind. In aller Unschuld wird hier die Wahrheit ausgeplaudert, dass die Abstraktion als solche, von jedem Inhalt gereinigt (und für jeden beliebigen offen), die bürgerliche Gesellschaft zu regieren berufen ist.

In diesem Sinne konnte der philosophische Idealismus mit den ins Jenseits der Sinne projizierten Phantasiegestalten der Volksreligion großzügiger umgehen, als es die in schroffer Abwehr gegen die Metaphysik („Priestertrug“) erstarrten Empiristen und Sensualisten der Aufklärung konnten. Kant und Hegel sahen in den verschiedenen Entwicklungsstadien der Religion Denkversuche, die, indem sie für Gott immer weiter reichende, immer umfassendere Ausdrücke fanden, sozusagen in die „richtige Richtung“ zielten, eben in die der „Allgemeinheit überhaupt“.

Bei Hegel mündet die Dechiffrierung Gottes als reine für sich seiende Abstraktion denn auch in der Formulierung: „Gott ist also das Allgemeine abstrakt genommen …“ (Geschichte der Philosophie III, S. 323 f.). Und was Kant über den Alltagsverstand schreibt, klingt schon fast freundlich: dieser ahne, dass „Ich“ nicht nur als ein Ensemble empirischer, sinnlich wahrnehmbarer Eigenschaften aufzufassen sei, sondern dass es, davon abgesehen, auch eine nicht-empirische Bedeutung habe und als der für das moralische Gesetz (die Allgemeinheit) empfängliche Ausgangspunkt des freien Willens auch noch einer anderen, jenseits der Sinne wirkenden „intellektuellen Welt“ angehöre: „Dergleichen Schluss“ (auf die „intellektuelle Welt“) ist, so heißt es in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, „vermutlich … auch im gemeinsten Verstande anzutreffen, der, wie bekannt, sehr geneigt ist, hinter den Gegenständen der Sinne noch immer etwas Unsichtbares, für sich selbst Tätiges, zu erwarten, es aber wiederum dadurch verdirbt, dass er dieses Unsichtbare sich bald wiederum versinnlicht, d. i. zum Gegenstande der Anschauung machen will, und dadurch also nicht um einen Grad klüger wird“ (Grundlegung…, S. 87).

Die Metaphysik, als „reine Form der Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt“ verstanden, hört nicht auf, eine verselbständigte Abstraktion zu ein, aber das „intelligible Ich“, das nur den vom allgemeinen Gesetz her kommenden Imperativ als verpflichtend anerkennt, ist es nicht minder. Indem ich den Standpunkt der individuellen Freiheit beziehe, der jeden anderswoher kommenden Zwang als unmoralisch oder unrechtmäßig ablehnt, bin ich selbst zum Bestandteil jener Metaphysik geworden.

Für den bürgerlichen Menschen, der sich (als ein empirisch-sinnliches Dasein) nicht hinlänglich von dem der Metaphysik zugehörigen Ich zu unterscheiden vermag, brechen mit deren Durchsetzung die harten Zeiten der Selbst-Verantwortung, der Selbst-Disziplin und der Selbst-Vergewaltigung an. Da diese Metaphysik rein apriorisch funktioniert, sich also bereits im Ausgangspunkt meiner Entschlüsse befindet und zu einer Sache des Standpunktes geworden ist, fehlt ihr logischer Weise alles Bildhafte. Sie ist kein mir gegenüberstehender Glaubensinhalt mehr, der sich anbeten oder kniebeugend verehren ließe. Der Himmel der bürgerlichen Gesellschaft ist leer geworden. Und jene Schlauberger, die darauf bestehen, dass dort nichts zu sehen ist, können sich mit Nietzsche einbilden, die Religion hinter sich gelassen zu haben und ein metaphysikfreies Leben zu führen. Genau das ist der Fall bei unseren reichlich spät kommenden Aufklärern, die sich ihre Vorstellung von Religion nach dem Muster der vorkantschen Metaphysik und ihrer himmlischen Autoritäten gebildet haben.

Tatsächlich aber befindet sich die moderne Metaphysik bereits im Standpunkt des freien Individuums als solchem. Ihre Wirksamkeit ist, wie Kant schreibt, „rein praktisch“ zu verstehen. Der Standpunkt der individuellen Freiheit gewinnt seine Festigkeit also nicht durch noch so innige Bekenntnisse zum „Menschenrecht“ und zu den „westlichen Werten“, sondern dadurch, dass er praktiziert und im täglichen Verhalten eingeübt wird. Und dafür, dass das geschieht, sorgt, wie Marx herausgefunden hat, die Warenform der Produktion, die der Kapitalismus in den vergangenen beiden Jahrhunderten derart verallgemeinert hat, dass die moderne Gesellschaft sich glattweg als „Marktgesellschaft“ versteht. Deren Mitglieder, die sich täglich als Käufer und Verkäufer zu betätigen haben, betrachten die Subjektform des „freien Willens“, die im Warenverkehr zur Anwendung kommt, als eine Grundausstattung des „Menschen überhaupt“.

Die metaphysische Kategorie des Willens wird also, ähnlich wie das Heilige bei unserer Kirchenmaus, eigenschaftsförmig gedacht: als „eigener Wille“. Der Unterschied liegt nur darin, dass die vormoderne Metaphysik immer nur einen begrenzten Bezirk des „Heiligen“ oder ein bestimmtes Ritual für sich in Anspruch nahm. Die moderne bürgerliche Metaphysik dagegen besitzt, indem sie sich darauf beschränkt, den gesellschaftlichen Verkehr entlang der Abstraktion des vereinzelt gedachten „Menschen“ zu formen bzw. zu strukturieren, die Fähigkeit, in alle Lebensbereiche einzudringen, sie besitzt die Tendenz, sich zu verallgemeinern.

Die „reine Form der Allgemeinheit“, bei Kant noch eine theoretische Kategorie, die das Gewissen „vernünftiger Wesen“ anleiten sollte, wurde in dem historischen Prozess, der in massenhaftem Umfang solche „Wesen“, nämlich den abstrakten Ich-Standpunkt, erzeugte, sozusagen realiter allgemein, sie gelangte aus der theoretischen Sphäre in die gesellschaftliche Praxis, wurde von einem Sollen zum Sein. So erklärt sich die Objektivierung des gesamten institutionellen und psychologischen Apparats, der mit dem modernen Ich-Standpunkt verbunden ist. Denn was allgemein gilt, was allgemein praktiziert wird und von allgemeinen Gesetzen geregelt, besitzt eben den Status der objektiven Gegebenheit.

Der Clou bei aller Objektivität besteht aber darin, dass man sich – mit mehr oder weniger Verstand und Geschick – zu ihr verhält. Wer den Menschen als vereinzeltes Individuum denkt, sieht dieses „Subjekt“ immer schon der „Objektivität“, mit der es „selbstverantwortlich“ umzugehen hat, gegenüberstehen. Und das Gegenüber ist genau diejenige Position, die dem bürgerlichen Subjekt gemäß ist, die es braucht, um sich seinem praktischen Wesen entsprechend, also wollend, verhalten zu können. Das Gegenüber produziert gewissermaßen die ihm entsprechenden „Gegenstände“. Der Privatwille beurteilt sie unter dem Aspekt des individuellen Vorteils oder Nutzens, der politische – ewig unterwegs zur „Verwirklichung“ seines Ideals – unter dem des Allgemeinwohls oder der Allgemeinverträglichkeit. Von dem metaphysischen Apriori, das für beide Seiten gleichermaßen konstitutiv ist, ist dabei logischer Weise nicht die Rede: „Die Mieten“ sollen bezahlbar und für die Bauindustrie ein Investitionsanreiz sein, „die Renten“ werden angepasst oder gesichert oder angehoben, „die Arbeitsplätze“ geschaffen oder abgebaut. Die grundlegenden Kategorien, allesamt auf Wert, Ware, Geld basierend, stehen fest – gestritten wird über den Umgang mit ihnen.

Die Krise des Kapitalismus ist auch die Krise des Kategorischen Imperativs

Dass sie die dem demokratischen Streit vorausgesetzte Konstellation hinterfragen, dass sie vor den „objektiven Gegebenheiten“ nicht Halt machen, sondern etwas „dahinter“ vermuten, das Handeln wirklicher Menschen, dürfte der eigentliche Skandal sein, den die Verschwörungstheoretiker bei unseren Aufklärern erregen. Als „Verschwörung“ präsentiert, ist das „Dahinter“ sicherlich ein dummer Gedanke, der in der bürgerlichen Subjektform des individuellen Willens befangen bleibt, aber immerhin ist es doch einer. Dagegen ist das, was unser Autor dem entgegensetzt, ein bloßer Abwehrreflex. Über „die Qual der Einzelvorgänge, der losen Enden, der sich überlagernden Bilder, die Last der Komplexität“ hinaus, sollte seiner Meinung nach nicht gedacht werden: „Aleppo, Fassbomben, Staub, Balkan, Zelte, Bahnhof Budapest.“ Damit hat es sich. Wer bei diesen Bildern an etwas denkt, das über die unmittelbare Sichtbarkeit hinausreicht, etwa an die Profite der Waffenindustrie, die die Bürgerkriegsparteien dieser Welt mit dem nötigen „Stoff“ versorgt, bekommt, so hat es den Anschein, alsogleich den Stempel der „Religiosität“ aufgedrückt. Sehr komplex ist diese Art von Argumentation. Sie zeigt, dass die Religiosität hier lediglich dem Zweck der Verunglimpfung dient und im Sinne eines Ablenkungsmanövers gebraucht wird.

Abgelenkt aber wird von dem durchaus fruchtbaren Gedanken, dass die „objektiven Gegebenheiten“ des demokratischen Kapitalismus tatsächlich auf dem Verhalten lebendiger Menschen beruhen. Diesen ganz und gar nicht religiösen Gedanken sollte man zunächst einmal anerkennen und ernst nehmen, bevor man gegen die Verschwörungstheoretiker zu Felde zieht, die ihn leider verhunzen und dadurch diskreditieren. Natürlich sind es nicht einige wenige Verschwörer, mit denen wir es zu tun haben, sondern viele Millionen Menschen, die, in den Geleisen der Ware-Geld-Bewegung sozialisiert, die Vorgaben des Kapitalismus als Selbstverständlichkeiten behandeln und also praktisch dafür sorgen, dass sie als „objektive Gegebenheiten“ fungieren und Bestand haben.

Es sind viele Millionen Menschen – und doch nicht mehr genug. Die enorme Produktivität des Kapitalismus ist auch seine Krise. Sie hat dazu geführt, dass die Zahl der Menschen, die für den kapitalistischen Zweck der Wertverwertung eingesetzt werden, weltweit gesunken ist und immer noch weiter sinkt. Das System der Kapitalakkumulation expandiert nicht mehr, es schrumpft. Nur noch künstlich, durch das Fiat-Geld der großen Zentralbanken, wird der Schein des angeblich notwendigen „Wachstums“ aufrechterhalten. Und das sieht man diesem Wachstum, das ohne die Mobilisierung der traditionellen bürgerlichen Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit und Gewissenhaftigkeit zustande kommt, auch an. Es landet vornehmlich im Finanzüberbau und in der Unterhaltungsindustrie, zu der die elektronischen Medien ebenso gehören wie der im Programm befindliche Profi-Sport. Auf der einen Seite Rentner, die in Abfalltonnen stochern, und prekäre Jobs im Niedriglohn-Sektor, auf der anderen Seite Fussballstars, für deren Transfer von einem Verein zum andern hunderte Millionen Euro bezahlt werden. Selbst in den Kernländern des Kapitalismus ist das sogenannte normale Arbeitsleben zur Angelegenheit einer Minderheit geworden, für die Masse der Erdbevölkerung aber besteht keine Aussicht, jemals auch nur in die Nähe der „Sozialversicherungspflicht“ zu gelangen.

Für die Kategorie der Allgemeinheit ist diese Entwicklung natürlich fatal. Sie verliert gewissermaßen die empirische Unterfütterung durch die Vielen, die sich weder als Theoretiker noch als ideologische Bekenner, sondern lediglich aus Gewohnheit an die für das Ware-Geld-Indivuum vorgesehenen Strukturen gehalten haben. Von einem massenhaften Praktizieren und Einüben dieser rechtlichen und moralischen Strukturen, die den abstrakten Ich-Standpunkt auch mental in der Spur gehalten haben, kann keine Rede mehr sein. Die Objektivität setzende Kraft der Allgemeinheit ist verloren gegangen und sie wird wieder als das sichtbar, was sie seit jeher war: eine verselbständigte Abstraktion, die Nachfolgerin Gottes, die sich in der Obhut der demokratischen Priester befindet, deren moralischen Zeigefinger sie ausmacht.

Die Kategorie der Allgemeinheit wird jetzt wieder zur Sache des Wissens, und zwar des besseren, wenn auch vergeblichen Wissens. Die Hüter der demokratischen Werte informieren uns täglich darüber, was in Sachen Klima, Wohlstand, sozialer Frieden und menschlicher Anstand das objektiv Richtige wäre, was getan werden müsste und sollte und würde, wenn sich die Welt doch nur am Maßstab der bürgerlichen Moral, die ja auch das Eigentum zum Dienst an der Allgemeinheit verpflichtet, ausrichten wollte. Ein Karnevalszug der Konjunktive, der bei denen, die zwei bis drei Jobs ausüben müssen, um ihre Miete bezahlen zu können, vermutlich Heiterkeit auslösen würde – wenn sie denn die Herzensergüsse der edlen und guten Besserwisser zur Kenntnis nähmen.

Die Anwälte der (noch) herrschenen Metaphysik wissen natürlich nichts von den materiellen Voraussetzungen, die dem, was sie für objektiv richtig halten, zugrunde liegen. Aber sie spüren doch, dass dem rechtlichen und moralischen Überbau, der ihnen einst auf die gesamte Menschheit zu passen schien, zunehmend die Substanz abhanden kommt. Das Phänomen der „fake news“ zeigt, dass das System von Kategorien, aus denen früher einmal die allgemeinverbindlichen „Fakten“ gezimmert wurden, angeschlagen ist. Über die Bedeutung von Wörtern wie Fortschritt, Reform und Modernität, die Demokratie nicht zu vergessen, besteht längst keine Einigkeit mehr. Allgemein geworden ist die Verunsicherung. Sie erklärt den Ton der Hysterie, der sich in die Traktate mischt, mit denen die demokratischen Hüter der kapitalistischen Ordnung den sozialen Bodensatz des Systems belehren und zurechtweisen, sobald er politisch auffällig wird. Auch unser Autor ist bei aller Großspurigkeit, mit der er das rostige Schwert der Aufklärung schwingt, nicht frei von diesem Ton.

Und die Verunsicherung erklärt auch das Phänomen der Verschwörungstheorien selbst, vor allem seine Fähigkeit, sich mit einer erklecklichen Anzahl von oppositionell gestimmten Menschen zu verbinden. Da das gesamte Wissen der Menschheit und alles, was sich als Vernunft und Aufklärung präsentiert, dazu beigetragen hat, die Verwertungslogik des Kapitalismus über den Erdball zu verbreiten, erhebt jetzt, wo diese Bewegung erlischt, gewissermaßen die Unwissenheit ihr Haupt. Je mehr die Krise fortschreitet, desto mehr machen sich – als unmittelbar Betroffene – die Unterschichten als solche bemerkbar. Der moralisch inspirierte Diskurs des demokratischen Mainstreams verliert dadurch an Bedeutung und die Neigung zu Krawall und direkter Aktion schiebt sich in den Vordergrund. Hier ist dann jeder ideologische Knüppel recht, wenn er nur einfach zu handhaben ist und gegen den demokratischen Anstand verstößt.

So wie die praktizistische Linke seligen Angedenkens ein Faible für Stalin hatte, so taucht jetzt – in etwa der gleichen Funktion – das Gespenst Hitlers wieder auf. Die von ihren demokratischen Illusionen Enttäuschten drücken damit ihren Hass und ihre Verbitterung aus. In diesen Zusammenhang gehören meines Erachtens auch die Verschwörungstheorien. Um den Generalverdacht gegen die Demokratie zu erhärten, der ja sehr zu Recht besteht, kann kein Gerücht und kein ideologisches Versatzstück dumm und abseitig genug sein. Als Ausdruck des unvermittelten Neins zu einer Metaphysik, die zwischen finanziellen Interessen und materiellen Bedürfnissen nicht zu unterscheiden vermag (alles ist gleich objektiv), reicht dies, wie ich finde, erst einmal aus.