Ding und Bedingung

von Franz Schandl

Die menschliche Revolution, die Emanzipation der Gattung ist nicht mehr möglich über die personalisierende Enthüllung der herrschenden Klasse, die immer überwuchert wird von den Apparaten, die ihre Herrschaft aufrechterhalten; sie ist nur möglich über eine Denunziation der Dinge, des im Spätkapitalismus produzierten Schunds.“

(Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf)

„Wir sind von Dingen umgeben“ (S. 11), schreibt der Autor. Wer möchte das bestreiten. Bloß, was sind Dinge? Was gibt dieser Begriff her? Ist er überhaupt einer, oder lässt sich alles Mögliche oder auch Unmögliche als Ding beschreiben? Stellt man solche Fragen, wirken die gängigen Assoziationen ziemlich finster. Was denn so ein Ding sei, ist nicht so einfach zu beantworten. Das größte Manko des vorliegendes Bandes besteht darin, dass seine Hauptkategorie gar nicht problematisiert resp. definiert wird. Dinge werden schlechthin vorausgesetzt.

Welt der Waren

Die Dinge, von denen Frank Trentmann, Historiker am Birbeck College der Universität London, spricht, sind nämlich nicht schlicht Sachen, sie sind kaufbare und verkaufbare Gegenstände, die erst über den Markt zu ihren Konsumenten finden, somit schon als Ware produziert werden, sich als solche in deren Metamorphosen entpuppen wie verpuppen. Dinge, wie wir sie kennen, sind veräußerbar. Das prägt sie. Über ihre Aneignung entscheidet nicht ein profanes Bedürfnis, sondern ein diffiziler Kaufakt. Wünschen und Wollen orientieren sich stets an den Grenzen des finanziellen Vermögens.

Das macht die Angelegenheit nicht einfacher, sondern um vieles komplizierter. Dinge werden nicht für die Menschen produziert, sondern für einen Markt, wo Kunden zugreifen können, die über das nötige Geld verfügen. Kunden sind ebenfalls eine eigene Spezies. Unsere Dinge hängen an ihrem ökonomisch induzierten Wert. Es ist wohl ein vorschneller Schluss, mit dem von Trentmann zitierten Adam Smith davon auszugehen, dass der Konsum „Ziel und Zweck aller Produktion“ (S. 78) sei. Diese These kann vor allem nicht erklären, dass nützliche Dinge weggeworfen werden müssen oder verkommen, obzwar Menschen ihrer bedürfen. Aufgabe der Produktion ist nicht die Versorgung sondern die Verwertung.

Dinge sind also nicht allerlei Zeug, sondern anhand ihrer gesellschaftlichen Konstitution zu dechiffrieren. Wenn wir von einer „Herrschaft der Dinge“ reden, dann sprechen wir von einer Herrschaft der Waren. Diese mit Gebrauchswert und Tauschwert ausgestatteten Dinge sind es, die einerseits die Industrialisierung beschleunigen, andererseits durch sie in Serie gehen.

Herrschaft hat sich heute weitgehend verdinglicht. Insbesondere, aber nicht ausschließlich für den westlichen Liberalismus gilt: „Die Menschen strebten nach Herrschaft, weniger über Menschen als vielmehr über Dinge.“ (S. 536) Aber Dinge sind kristallisierte Beziehungen, jedes Produkt ist ein konzentriertes Produktionsverhältnis. Dinge werden nicht nur angeeignet, sie sind selbst eigen, und damit ist nicht ihr konkretes Erscheinen gemeint, sondern die ihnen gemeinsame Substanz abstrakter Arbeit. Es ist so auch von den Dingen der Herrschaft zu sprechen, nicht weil sie primär irgendwelchen Herrschaften gehören (das oft auch), sondern der Logik gehorchen, aus der sie geboren wurden. Selbst welche Dinge sich entwickeln und welche nicht aufkommen dürfen, ist ökonomisch determiniert. Dinge sind ohne ihre Bedingungen nicht seriös zu diskutieren.

„Die Dinge sind wir“ (S. 307), behauptet Trentmann. Deskriptiv hat das schon seine Richtigkeit, allerdings kommt es bei ihm gleich normativ rüber. Das typische Verlangen nach den Dingen wird so nicht in seiner sozialen Konstellation erfasst, nicht als historisches Resultat angesehen, sondern als ehernes Gesetz. Einmal mehr, die Menschen sind so, die wollen immer mehr, die können nicht anders. Und da wir nicht anders können, kann auch nichts anderes sein. Die Logik scheint bestechend und tatsächlich besticht sie unermüdlich. Einmal mehr tritt der industrielle Trieb als menschlicher Instinkt auf, Gesellschaft wird naturalisiert und gegen Kritik immunisiert.

Bedingte Dinge

Gemeinhin versteht man unter Besitz Konsum sowohl in actu als auch in prospectu. Sehe ich, was du konsumierst, weiß ich schon, wer du bist. „Die Menschen finden sich in ihren Besitztümern wieder und drücken sich durch sie aus.“ (S. 18) Wie sollte es auch anders gehen? Indes, drücken sie damit wirklich ein Wer aus oder doch nur ein Was? Oder gilt es diese Differenz einzustampfen, als inexistent zu betrachten? Nicht nur das Objekt, das Subjekt selbst ist ein Ding, auch wenn das jeweilige Exponat sich dünken muss, ein Individuum zu sein. Ohne Gegenstand haben wir keinen Stand in dieser Welt. Gegenstände erfüllen uns, sie stopfen diverse Lebensdefizite. Habsucht und Habgier sind mentale Antriebsfedern. So treten wir auf als Hüter unserer Dinge, sind artige Verwalter in den Lagerhäusern unserer Waren.

Die Dinge stehen jedenfalls nicht außerhalb ihrer Bedingungen, sie sind vielmehr Erscheinungen derselben. Dinge sind keine autonomen Sachen, sondern als Waren „Elementarform“ (Marx) kapitalistischer Produktions-, Zirkulations- und Konsumtionsverhältnisse. Nicht „das Ding dingt“ (Das Ding (1950), Werke 7, S. 175), wie Heidegger behauptet, sondern die Bedingungen bedingen die Dinge. Verdingen wiederum bedeutet heute sich als Verkäufer der Ware Arbeitskraft selbst zum Ding zu machen, das entäußert werden muss und erworben werden kann. Das „Dingen“ ist nicht den Dingen als Gegenständen zu entnehmen, sondern ihrer gesellschaftlichen Struktur. Im Ding residiert die Abstraktion des Kapitals. So ist das Ding ein realisiertes Produkt, das auch noch einmal ideell rekonstruiert wird. Und dieser Vorgang ist uns kein auffälliger, weil wir ihn täglich hundertfach vollziehen. Das exerziert sich quasi automatisiert, beschreibt eine Realabstrakion. Das Ding ist Bedingtes, der Gegenstand Konzentrat.

Die Frage nach dem Ding ist nicht nur eine des Wofür, sie ist auch eine des Wogegen. Wogegen steht ein Gegenstand? Er steht gegen alles andere, weil für sich selbst: „Das Ding ist Eins, in sich reflektiert; es ist für sich, aber es ist auch für ein Anderes; und zwar ist es ein anderes für sich; als es für [ein] Anderes ist. Das Ding ist hiernach für sich und auch für ein Anderes, ein gedoppeltes verschiedenes Sein, aber es ist auch Eins; das Einssein widerspricht dieser seiner Verschiedenheit.“ (G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1806), Werke 3, Frankfurt am Main 1986, S. 101 f.) Das Ding ist zwar nicht isoliert, aber es ist isolierbar, und so erscheint es uns auch in seinen Konturen, als gegeben, weniger als werdend und vergehend. „Der Gegenstand ist dem Wesen nach dasselbe, was die Bewegung ist, sie die Entfaltung und Unterscheidung der Momente, er das Zusammengefasstsein derselben.“ (Phänomenologie, S. 93) Hegel bestimmt die Dingheit „als das Hier und Jetzt (…) nämlich als ein einfaches Zusammen von vielen; aber die vielen sind in ihrer Bestimmtheit selbst einfach Allgemeine.“ (Phänomenologie, S. 95)

In unserer beschränkten Alltagssicht wirkt der Gegenstand als einleuchtend, nicht als dunkel, kurzum nicht als Rätsel und Geheimnis sondern als Faktum. Zumindest für eine gewisse Zeit an einem bestimmten Ort. Das Fürsichstehen des Gegenstandes ist ein historisch und räumlich begrenztes Dagegenstehen. Wir fragen bei den Dingen immer mehr nach ihren Eigenschaften: Wozu sind sie gut?, weniger nach ihrem Charakter: Was stellen sie dar? Ihr Funktionieren meint etwas Technisches, ihre Funktion etwas Gesellschaftliches. Aber das würde unmittelbar zu weit führen. Diese Zeilen wollen lediglich andeuten, worum es ginge, wenn es an und um die Dinge geht, so man sich wirklich auf sie einließe. Das tut Trentmann nicht, auch wenn er tausend Seiten vollschreibt.

Flanierende Wissenschaft

Einschlägiges zu Mystifikation und Entmystifikation des Dings ließe sich bei Leibniz oder Kant finden, detto bei Hegel oder Heidegger. Kommen die ersten drei trotz des voluminösen Umfangs von Trentmanns Studie zu diesem Punkt gar nicht erst vor, so sind die Bemerkungen unseres Autors zu Martin Heidegger ausgesprochen dünn geraten. Gerade der „dunkle Prinz der Philosophie“ (S. 313) hat ja durchaus Erhellendes über das Ding gesagt, das sich keineswegs in der „verborgenen Weisheit deutscher Worte“ (S. 313) erschöpft. Der Denker plagte sich wahrlich am Ding, er gehört zu den wenigen, die hier eine Frage sahen, wo andere sogleich Antworten gaben. Heidegger nicht zu mögen, gehört heute ja zum intellektuellen Kanon, was freilich verhindert, sich wirklich an dieser ungeheueren Philosophie abzumühen. So strahlt die verborgene Kraft mehr als seine Verächter es wahrhaben möchten.

Nicht bloß an Heideggers Ausführungen zum „Ding“ scheitert Trentmann. Die Passagen über Karl Marx sind gelinde gesagt hanebüchen. Sie sind von einer saloppen Geringschätzigkeit geprägt, die sich nicht einmal der Anstrengung unterzieht, dessen Überlegungen und Argumente auch nur im Ansatz zu begreifen. Marxens Kritik des Fetischismus der Ware wird etwa so abgetan: „Im Gegensatz zu Marx’ Sprung in die Abstraktion hielten die meisten seiner Zeitgenossen den Konsum in Erdnähe.“ (S. 159). Tatsächlich, in dieser Erdnähe agiert auch der britische Historiker. Diese Wissenschaft liegt auf dem Boden. Reflexion verläuft sich in den Sümpfen des gesunden Menschenverstands. Ähnlich bizarr sind die Stellen über Theodor W. Adorno, „der die Konsumkultur völlig missverstand“ (S. 355), oder über Walter Benjamin, der wohl aufgrund seiner „melancholischen Tiefen“ (S. 266) nicht an die Entzauberung der Welt glaubte. Bezüge zu Baumann und Baudrillard, Fromm oder Marcuse finden sich keine.

Dass solche Erläuterungen von Ressentiments getragen sind, könnte man ja noch nachsehen, nicht aber die schrulligen Zusammenfassungen von diversen Theorien, die nicht nur auf Befangenheit schließen lassen, sondern von Ignoranz geprägt sind. Mehr als die Kritisierten zeichnen sie den Kritiker. Überhaupt flaniert Trentmann durch die Sozialwissenschaften wie seine Konsumenten durch die Supermärkte. Ahnungslosigkeit und Belanglosigkeit treffen sich zur Mittagsstunde und verkünden: „Radikale fürchten naturgemäß die Auswirkungen des Imperialismus auf die Gleichheit.“ (S. 218) Originell ist auch: „War Wasser ein ‚Gottesgeschenk‘ oder eine Ware?“ (S. 246)

Manchmal zeigt er Einsicht wider Willen: „Im Rückblick bemerkenswert ist, wie weit das sowjetische Ideal der materiellen Kultur im bürgerlichen Orbit kreiste.“ (S. 393) Das ist richtig, aber bloß deswegen, weil dieses Modell (trotz aller Auffassungen von Freund und Feind) den bürgerlichen Orbit nie verlassen hatte. Über die staatskapitalistische Inszenierung einer Warenwirtschaft ist man nicht hinausgekommenen. Die Ansagen Stalins wie Chruschtschows vom „Einholen“ und „Überholen“ weisen hier die Richtung. Gemessen an konventionellen Wachstumsmaßstäben hat die Sowjetökonomie viel geleistet, vor allem durch die rücksichtslose Ausbeutung der Arbeiterklasse, und das ganz ohne Bourgeoisie. Die sowjetischen Machthaber begingen allerdings den Fehler, dass sie Wachstumsziffern hochrechneten, meinten, die damalige Dynamik perpetuieren zu können. Der Realsozialismus fällt nicht einfach aus der Geschichte der bürgerlichen Modernisierung, er war ein spezifischer Versuch nachholender Entwicklung, mochten die Protagonisten das nun verstehen oder nicht.

Die theoretische Auseinandersetzung ist so gar nicht die Stärke des Autors, auch wenn er dieses Manko durch die Überheblichkeit elitären Standesbewusstseins zu überspielen versteht. Abhandeln heißt abkanzeln heißt abtun. Generell: Die universitären Koryphäen sind oft nicht das, was die Bespiegelungen der akademischen Kartellreklame uns weismachen wollen. Das allfällige „Bestseller“-Pickerl am Einband oder 5 mal 5 Sterne bei Amazon komplettieren lediglich ein Renommee, das einen Adelstitel wissenschaftlicher Selbstreferenz darstellt, somit zu einem reinen Immunisierungsetikett geworden ist.

Willhaben

Dafür liebt Trentmann simplifizierende Schubladen. Die schlichte Scheidung in Kritiker und Verfechter des Konsums ist so eine. Nicht nur der Rezensent würde es kategorisch ablehnen, hier anhand einer derart groben Entscheidungsfrage in ein Kästchen gesperrt zu werden. Die Frage ist doch auch immer die, was da konsumiert werden soll, in welchen Mengen und Dosierungen. Pauschale Antworten und Zuordnungen zielen daneben.

Eine solide Theorie des Konsums suchen wir bei Trentmann jedenfalls vergebens. Konsument ist überhaupt ein etwas seltsames Wort, und zwar weil in der alltäglichen Assoziation der Braucher und der Verbraucher gleich stracks zusammengezogen und somit identifiziert werden. Indes nicht jeder Braucher wird zum Verbraucher wie auch nicht jeder Verbraucher ein Braucher ist. Und wenn man das dann noch gipfeln will, führt es zur Frage: Was heißt eigentlich gebrauchen?

Ebensowenig wie Habe und Habsucht dasselbe sind, sind Konsum und Konsumismus identisch. Für die Profitwirtschaft ist es aber aus ureigenem Interesse zentral, stets ersteren in letzteren zu überführen. Bedürfnisse kann man auch abseits des sinnfälligen Bedarfs entwickeln, ja die vornehmste Aufgabe der PR und ihrer Marketingstrategien ist es, dafür zu sorgen. Justament zu erwerben, was wir nicht benötigen, ist des Bürgers Pflicht. Wir sollen wollen, was wir nicht brauchen. Werbung ist dazu da, nicht bloß Aufmerksamkeit zu erzielen, sondern ein dringendes Verlangen, also Gier zu erzeugen. Das Bedürfnis ist eine mögliche Voraussetzung, aber keine ausreichende Bedingung zum Kauf, letztlich wird jenes mehr und mehr zu einer untergeordneten Kategorie. Kunden agieren auch außerhalb Notwendigkeiten. Willhaben ist des Kunden Bestimmung.

Ganz drastisch hat sich dazu bereits Hans-Jürgen Krahl vor fünfzig Jahren geäußert: „Das Stadium der immanenten Selbstzersetzung der Warenform zugunsten des totalitären Tauschs ist erreicht, nicht nur hat endgültig die Verpackung über das Produkt gesiegt – der Gebrauchswert ist zerstört –, wir konsumieren Reklame, wenn wir essen und trinken, und ernähren uns noch davon (Nivellation des Marktes). Wir müssen die Dinge denunzieren, um die Menschen für deren Genuss zu befreien.“ (Konstitution und Klassenkampf. Schriften und Reden 1966-1970, Frankfurt am Main, 4. Aufl. 1985, S. 84)

Ein infektiöses Treibmittel des Konsums ist nach wie vor der Kredit, sei es als Ratenzahlung oder Darlehen, als überzogenes Konto oder Kreditkarte. „Der Kredit verleiht dem Konsumkapitalismus neue Kraft“ (S. 548), schreibt auch Trentmann. Nicht bloß immer noch, sondern immer mehr. Jede Schuldnerberatung kann übrigens ein Lied von ihren mit Krediten gefütterten Klienten singen, die sich Dinge kaufen, die sie sich nicht leisten können, aber unbedingt haben müssen. Indes ist das kein Nachteil für die Gläubiger, auch wenn unzählige Schuldner nicht zahlen können und wirtschaftlich scheitern. Der Großteil berappt inklusive Zinsen seine Außenstände. Ausfälle sind also bis zu einem gewissen Grad nicht nur kompensierbar, diese Abschreibungen gehören mit zum Geschäft, sind miteinkalkuliert.

Überfluss und Überflüssigkeit

Die Dinge sind unser Halt. Und sie halten uns auch fest an dieser Gesellschaft, deren Exponate sie ebenso sind wie wir. Wir dienen ihnen und bedienen sie, vermögen uns unsere Verhältnisse nicht anders vorzustellen. Entschiedener als wir sie haben, haben sie uns.

Jagen und Sammeln im Zeitalter der Waren bedürfen einer neuen Interpretation. Ständig ist man auf der (kulturindustriell gelenkten) Suche und stets will man auch etwas haben, d.h. aufheben, aufbewahren, einlagern. Wir horten viel mehr als wir je benötigen können. Überfluss wird zu Überflüssigem und Vorrat verrottet. Wer vier Hemden hat, dürfte eher schlecht als recht damit auskommen, wer vierzig hat, hat viel, wer vierhundert hat, hat eindeutig zu viel. Es gibt einen Punkt, wo an sich nützliche Sachen überflüssig werden, d.h. unbrauchbar, obwohl sie brauchbar wären. Wo dann das Zeug herumliegt, ohne dass die Eigentümer ihre Dinge auch nur annähernd besitzen könnten. Sie haben etwas, wovon sie nichts haben (sieht man von der symbolischen Bedeutung ab). Besitz kann so gar nicht mehr konsumiert werden, der Gebrauchswert der Ware wird fiktiv: Eine Potenz, aus der nicht geschöpft wird, die aber in den Köpfen der Besitzer wie Nichtbesitzer erfolgreich spukt.

Auch wenn es keine strenge Trennung geben mag, eine begriffliche Unterscheidung zwischen Überfluss und Überflüssigem wäre sinnvoll. Ist Überfluss noch Reichtum, so evoziert Überflüssiges schon Abfall. Überfluss erlaubt Disposition, Überflüssigkeit verursacht Müll. Wir stellen jedenfalls mehr Produkte her, als wir und unser Planet aushalten. Eine Ökonomie der unbenutzten Dinge wäre durchaus von Interesse. Sachen, die zwar produziert und zirkuliert wurden, aber nie konsumiert worden sind, nehmen zu. Wieviel Energie und Anstrengung sind vonnöten, solche Nichtgüter zu erzeugen und zu verkaufen? Indes wieviele Arbeitsplätze gingen aktuell verloren, würde man diesem ökonomisch forcierten Kult des Überflüssigen nicht huldigen?

„In den reichen Ländern wird heute ein Viertel der genießbaren Lebensmittel weggeworfen“ (S. 873), lesen wir. Nicht der Produktenrest ist dann Müll, sondern das Produkt selbst. „Die Verschwendung von Lebensmitteln ist nichts Neues. Vielmehr ist sie im Kapitalismus völlig normal (…) Neu an der Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist, dass selbst dann Lebensmittel vergeudet werden, wenn die Nachfrage hoch ist. Der Grund dafür ist, dass nicht zu wenig, sondern zu viel gekauft wird.“ (S. 873) Nur, wie kommt es zu dieser destruktiven Entwicklung? Aber halt: Eine solche ist bloß gegeben, wenn wir unsere Einwände sinnlich, stofflich und moralisch argumentieren, nicht jedoch ökonomisch. Denn ökonomisch betrachtet ist das durchaus funktional, es ist adäquates, weil marktkonformes Wirtschaften.

Fortan sind zwei Typen vergeudeter Gebrauchswerte zu unterscheiden. Die Frage lautet: Wird ein Produkt vor der Zirkulation liquidiert (Fall Eins) oder erst vor der Konsumtion entsorgt (Fall Zwei)? Das macht schon einen Unterschied: Zwar wird beide Male nicht konsumiert. Beide Male verderben die Produkte, im ersten Fall um den drohenden Abgang zu minimieren, im zweiten Fall ohne den Gewinn auch nur zu schmälern. Hier wird der Tauschwert ja realisiert, lediglich der Gebrauchswert ist obsolet. Ökonomisch ist es nämlich vorerst egal, ob das verkaufte Produkt verzehrt wird.

Im Fall Eins hingegen werden weder der Gebrauchswert noch der Tauschwert realisiert. Der Produzent hat, zumindest auf den ersten Blick, mit einem Verlust zu rechnen. Indes, ist es notwendig, die Marktpreise der Restmengen aufrechtzuerhalten, dann ist die Vernichtung von Teilmengen (Butter- und Schweinebergen) sogar geboten. Was Industrie und Handel interessiert, ist auch nicht der Verkauf jeder einzelnen Ware, sondern die optimale Verwertung ganzer Warenkontingente. Waren müssen also geopfert werden, um die Profite zu sichern.

Konsum und Freizeit

Und auch Zeit muss geopfert werden. Damit ist nicht nur die Ausdehnung und Flexibilisierung der Arbeitszeit gemeint, ein besonders pikanter Fall ist hier die sogenannte Freizeit. Dort ist man ja nicht befreit vom Geschäft, sondern regelrecht dazu angehalten. Es herrscht informeller Kaufzwang. Auch Trentmann schreibt: „Die Abschaffung des Ruhetags bildet den Höhepunkt der Freizeitrevolution.“ (S. 644) Freizeit wird dezidiert nicht als Ausweitung der Ruhe- oder Feiertage gesehen. Andersrum: Die kulturindustrielle Institutionalisierung der Freizeit durch Urlaub und Spektakel, Shoppen und Unterhaltung, Fernsehen und Internet beseitigt die letzten kommerzfreien Residuen. Freizeit ist nicht befreite Zeit! Freizeit hat nicht kontemplativ zu sein, sondern kompensatorisch, eine ausgleichende und reproduktive Sonderzone der Arbeit, wo deren Produkte unbedingt zirkuliert und unbedingt konsumiert werden sollen. Alles, was das Geschäft beeinträchtigen und begrenzen könnte, steht daher zur Disposition.

Fernsehen etwa ist nach wie vor die verbreitetste Freizeitbeschäftigung. Wobei der Blick auf den Schirm keine Beschäftigung ist, sondern maximal ein Zeitvertreib. Die Zeit, die man hätte, wird auch noch vertrieben. Weniger aus Dummheit als aus Müdigkeit. Man ist zu erschöpft, um noch aktiv sein zu wollen. Nach den Anstrengungen von Arbeit und Alltag, ist jede kreative Fähigkeit auf ein Minimum reduziert. Die ständige Berieselung gleicht einer ideologischen Nachjustierung via Nachrichten und Werbung, Filme und Serien.

Unterhaltung ist naheliegend, sie ist eine sanfte, aber intensive Form der Unterdrückung. Überall macht sie einen an. Die Konsumenten sind ihr permanent ausgeliefert. Nicht restlos und wehrlos, aber doch essenziell. Sich dem zu widersetzen, verlangt schon ein effektives (nicht bloß ein emotionales) Nein. Dieses Contra ist alles andere als aufgelegt. Konsumenten sind auch kaum gegen den Konsum mobilisierbar; wenn sie für etwas mobilisierbar sind, dann für mehr Geld, um sich mehr leisten zu können. Konsumenten sind Funktionäre des Konsums. Gegen Kritik ist die Charaktermaske des Warenkonsumenten resistent. Jenseits punktueller Entrüstung ist da nichts zu erwarten. Die Schwierigkeiten, Konsumenten zu organisieren, nehmen immer mehr zu. (Vgl. S. 748) Mehr als eine Protektion durch Konsumentenschützer scheint nicht möglich. Aufstand hieße, dass Menschen sich ihrer Funktion als Kunde entzögen, gegen sie revoltierten.

Diverse Genüsse sind hingegen nur durch öffentliche Zuschüsse möglich. „Wie viel Zeit würden Menschen mit Schiller oder Brecht verbringen, wenn sie den vollen Preis bezahlen müssten.“ (729 f.) Zweifellos, die allermeisten könnten sich die Vorstellungen nicht leisten. Aber was heißt das? Doch nur, dass der Markt für gewisse Bedürfnisse nicht sorgen kann, wenngleich Angebot und Nachfrage vorhanden wären. Doch nur, dass ein freier Marktpreis nichts über Notwendigkeit oder Qualität aussagt, dass diese sich nicht gar automatisch aus der unsichtbaren Hand ergeben. Angeleiert und subventioniert werden muss vieles, nicht nur Künstler und ihr Publikum, man denke an die ständig alimentierten europäischen Bauern. Apropos Bauern: Zur Entwicklung der Landwirtschaft findet sich kaum etwas in diesem Wälzer.

Der Staat ist übrigens dem Markt kein Außen, wie der Autor fälschlich annimmt. Ohne Staat würde kein Markt funktionieren. Trentmann schreibt ja selbst, dass der private Konsum auch Folge des öffentlichen Konsums sei. Soziale Transfers sind nicht nur Ausdruck von (begrenzter) Solidarität, sie sind insbesondere auch dazu da, die Absatzmöglichkeiten der Waren zu erhöhen. „Ohne die Unterstützung der öffentlichen Hand befände sich der private Konsum jedoch in einer wesentlich schwächeren Position.“ (S. 917) Öffentliche Ausgaben stützen und fördern den Konsum der privaten. (Vgl. S. 732 f.)

Affirmative Wissenschaft

Der steile Aufstieg der vielen Dinge ist ohne Kolonialwaren nicht zu denken. Natürlich hat nicht nur im Kolonialismus blanker Raub eine hervorzuhebende Rolle gespielt. Über die ursprüngliche Akkumulation des kapitalistischen Reichtums, die nichts anderes gewesen ist als eine gewaltsame Okkupation, verliert Trentmann keine Zeile. Dafür gibt er nachträglich Tipps, wie der Imperialismus sich schlauer verhalten hätte können: „Afrikaner wurden durch Landraub und Maxim-Maschinengewehre auf den Arbeitsmarkt getrieben und nicht mit Hilfe der Aussicht auf einen Lebensunterhalt gelockt. Dies könnte man als kurzsichtig betrachten. Eine Hochlohnwirtschaft bringt bessere Konsumenten hervor. Wären die europäischen Nationen liberaler gewesen und hätte mehr in ihre Untertanen investiert, hätten sie einen enormen Nutzen davon haben können.“ (S. 181)

Dass die Afrikaner vielleicht gar nicht wollten, weder das eine noch das andere, scheint kein Problem zu sein, wenn man die Weltgeschichte aus der Perspektive des weißen Akademikers der nördlichen Hemisphäre referiert. Wer Handelnder ist und wer Behandelter, d.h. Untertan zu sein hat, geht nicht nur aus diesen Zeilen unzweifelhaft hervor. Die Frage wie man Untertanen besser nutzt, ist eine Herrschaftsfrage par excellence. Frank Trentmann ist ein Affirmatiker des sich durchsetzenden wie durchgesetzten Konsums und seines jeweiligen Bewusstseins. Diese Geisteshaltung nennt er zünftig einen „historischen Realismus“. (S. 915, 919)

Dieser Realismus soll auch weitermachen, vor allem muss das Wachstum aufrechterhalten und angekurbelt werden: „Warum sollten mächtige Eliten im reichen Westen ihren Anteil an Gütern und Diensten aufgeben? Und warum sollten Gruppen mit niedrigem Einkommen sich darüber freuen, dass ein Nullwachstum ihren Anteil an einem kleiner werdenden Kuchen vergrößern würde? (…) Wie soll der Lebensstandard im globalen Süden steigen, wenn die Nachfrage des wohlhabenden Nordens nach seinen Gütern ausbleibt?“ (S. 914 f.) Wir haben es hier mit einem klassischen Stück Herrschaftswissenschaft zu tun, die von keiner kritischen Theorie auch nur angekränkelt ist. Als hätte die ideelle Gesamtindustrie eine Legitimationsurkunde bestellt.

Trentmann neigt dazu, viele Geschichten zu erzählen, doch es ist eher ein Schwadronieren als ein Illustrieren. Insbesondere das letzte Kapitel zur Wegwerfgesellschaft, wo eine Anekdote in die nächste mündet, ist ermüdend. Der Inhalt wird vom Stoff regelrecht erdrückt, man wird überfrachtet. Stringenz zeichnet die Studie nicht aus. Dieser Band gleicht der Inventarliste einer akademischen Rumpelkammer. Und selbst in der vorgetragenen Empirie herrscht wenig Systematik. Statistiken und Tabellen funktionieren besser als Piktogramme denn als Stenogramme. Narrative und reflektierte Teile stehen oft unvermittelt nebeneinander. Der Aufbau des Werks ist nicht schlüssig.

Der Autor hat sich schlicht übernommen. Was macht man mit Sätzen wie: „So fanden Amerikanerinnen ebenso wie Französinnen Sex, Sport und Essen weit angenehmer als Arbeit und Kinderbetreuung.“ (S. 606) In die Klasse elitärer Selbststilisierung fällt auch: „Hochgebildete Akademiker sind die neue arbeitende Klasse mit langer Arbeitszeit und wenig Freizeit, während gewöhnliche Arbeiter die neue müßige Klasse bilden.“ (S. 625)

Schade auch, dass Pablo Nerudas lebens- und farbenfrohes Gedicht, seine „Ode an die Dinge“, die dem Band vorangestellt wurde, gekürzt worden ist. An diesen zwei zusätzlichen Seiten hätte man nicht sparen müssen. Neruda liebt an den Dingen nicht das, was die Waren verkörpern, sondern was die Gegenstände sinnlich vorstellen. Diese Differenz ist Trentmann entgangen. Zumindest in ihrer substanziellen Bedeutung. It’s not the same.

Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt und Stephan Gebauer-Lippert, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017, 1095 Seiten, geb. ca. € 41,20