Das Drama vom Geld und dem Juden
von
Hermann Engster
Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als
Das Geld! Es äschert ganze Städte ein,
Es treibt die Männer weg von Haus und Hof,
es wandelt auch die redliche Gesinnung um
und lehrt sie hässlichen Geschäften nachzugehn;
es unterweist die Menschen in Verschlagenheit,
und auch Verbrechen nicht zu scheun bei ihrem Tun.
(Sophokles, Antigone, I,2)
Außer
dem Hamlet
hat kein Stück von Shakespeare so vielfältige und einander
widersprechende Interpretationen hervorgerufen wie sein Kaufmann
von Venedig, ein
Stück, bei dem der Streit der unterschiedlichen Deutungen sich zur
Frage zuspitzt, ob das Stück eine Komödie, eine Tragikomödie oder
eine Tragödie sei. Und auf die Figur des jüdischen Geldverleihers
Shylock bezogen: Ist dieser ein dämonischer Bösewicht, ein
komischer betrogener Betrüger oder eine mitleiderregende tragische
Figur? Doch ein
Wesenszug des Stücks steht fest: Es ist mit seiner Figur des
bösartigen, rachsüchtigen, habgierigen Juden Shylock antisemitisch.
Aus den Poren des Stücks schwitzt Rassismus: Der Jude als der aus
einer anderen „Rasse“ stammende wird als fremd und bedrohlich
angesehen, ebenso wie eine weitere „fremde“ Figur in dem Stück,
ein Marokkaner, der lächerlich gemacht wird.
Das
Stück weist eine komplexe Struktur auf. Drei Geschichten hat
Shakespeare (unter Verwendung verschiedener Vorlagen) miteinander
verwoben:
+
die Geschichte der Freundschaft zwischen dem melancholischen Kaufmann
Antonio und dem jungen lebensfrohen Bassanio: eine gemäß dem
Renaissance-Ideal gepflegte platonische Männerfreundschaft, die
zuweilen wohl auch homoerotisch eingefärbt sein konnte;
+
die Geschichte vom jüdischen Geldverleiher Shylock, der Antonio
einen Schuldschein ausstellt, versehen mit der Klausel, dass Shylock
bei Vertragsverletzung berechtigt sei, von Antonio ein
glattes Pfund / Von Ihrem eigenen Fleisch, herauszuschneiden / Aus
welchem Teil von Ihrem Leib mir passt
(I,3,147ff.);
+
die Liebesgeschichte zwischen der reichen Venezianerin Portia und
Bassanio mit der Kästchenwahl als Liebesprobe.
In
diesem Aufsatz soll es um die Geschichte des Shylock gehen.
(Das
Stück wird zitiert nach der Arden-Ausgabe und der Übersetzung von
Frank Günther, München, 3. Aufl. 2007. – Entscheidende Klarheit
über dieses schwierige Stück verdanke ich seinem Essay Aus
der Übersetzerwerkstatt
im Anhang dort. – Um
die Erinnerung an das Stück aufzufrischen, sei die Lektüre der
Inhaltsangabe bei Wikipedia
empfohlen.)
Das
Stück heißt Der
Kaufmann von Venedig;
seine Hauptfigur ist der Kaufmann Antonio, und Shylock ist eine
Nebenfigur, freilich eine gewichtige, die in vier von fünf Akten und
damit im größten Teil des Stücks auftritt. Ihre Bedeutung wird im
Untertitel der ersten Ausgabe von 1600 folgendermaßen herausgehoben:
Die ganz vorzügliche
Geschichte vom Kaufmann von Venedig. Mit der extremen Grausamkeit von
Shylock, dem Juden, gegen den genannten Kaufmann, ihm ein genaues
Pfund Fleisch herauszuschneiden (with the extreame crueltie of
Shylocke the Iewe towards the sayd Merchant, in cutting a iust pound
of his flesh …).
Die
Feindseligkeit gegenüber den Juden befeuern auch andere Stücke
dieser Zeit. Unter diesen ist vor allem Christopher Marlowes um 1590
verfasstes und sehr populäres Stück Der
Jude von Malta
hervorzuheben; Marlowe stellt hier eine derart blutrünstige,
bösartige Judenfigur auf die Bühne, welche Shakespeares Shylock
noch weit übertrifft.
Theateraufführungen
haben sehr unterschiedliche Akzentuierungen der Shylock-Figur
gesetzt: solche, welche die antisemitischen Züge bewusst betonten,
bis hin zu solchen, die – erschrocken über das Anwachsen des
Antisemitismus im 20. Jahrhundert und, nach 1945, erschüttert durch
die Shoah – Shylock als tragisches Opfer des Judenhasses
darstellten. Es ist jedoch nicht wegzuinterpretieren: „Die
antijüdische Tendenz des Textes (ist) eine gewollte Kernaussage des
Stückes.“ (Günther, S. 215) Gleichwohl ist Shakespeares
Kaufmann von Venedig
kein antisemitisches Pogromstück. Diesen Widerspruch gilt es zu
klären.
Seit
der Vertreibung der Juden aus England im Jahr 1290 gibt es nur noch
wenige hundert Juden in London, teils getarnt als Konvertiten, teils
unter dem Schutz des Hofes lebend, darunter Ärzte und wohlhabende
Kaufleute. Königin Elisabeth I. hat selbst einen
portugiesisch-jüdischen Leibarzt. Shakespeare schreibt sein Stück
Ende 1596, im Druck erscheint es zuerst 1600. Drei Jahrhunderte nach
der Vertreibung der Juden geschieht dies, und dennoch wird das Stück
(wie auch das von Marlowe und anderer Autoren) mit ihren exemplarisch
bösartigen Judenkarikaturen rasch ein Publikumserfolg und wird auch
am königlichen Hof aufgeführt. Wie ist das zu erklären?
Dazu
gilt es, zwei Stränge zu verfolgen. Der eine ist die Geschichte des
Antisemitismus bis zur Abfassung dieser Stücke; der andere der
gesellschaftshistorische Hintergrund der elisabethanischen Zeit: die
Epoche des Frühkapitalismus mit ihren Erfordernissen der
Kapitalisierung von Unternehmungen und dem damit verbundenen Problem
des Kapitalzinses oder – dem damaligen Sprachgebrauch gemäß –
des „Wuchers“ (engl. usury).
Vom
Heiligen Ungeist
Beginnen
wir mit der Geschichte des Antisemitismus. Sie hat schon im frühen
Christentum ihren Ursprung. Die römische Besatzungsmacht war in
allen Provinzen des Reichs überaus hellhörig in Bezug auf
rebellische Umtriebe, vor allem in dem als besonders aufrührerisch
geltenden Palästina. Bei der Gerichtsverhandlung gegen Jesus
Christus kann jedoch der Gouverneur Pontius Pilatus keine Schuld an
dem Beklagten feststellen, ja, er fragt sogar: „Was für ein
Verbrechen hat er denn begangen?“ (Matth. 27,23) Die Kleriker
verklagen jedoch Jesus wegen Gotteslästerung und fordern seine
Kreuzigung als traditionelles Zeichen des Ausschlusses aus Gottes
auserwähltem Volk: „Verflucht ist, wer am Holz hängt.“
(Deuteronomium 21,22 f.) Sie setzen Pilatus unter Druck, wollen ihn
beim Kaiser in Misskredit bringen und hetzen das Volk auf. Pilatus
gibt nach, wäscht sich öffentlich rituell die Hände mit den Worten
„Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache.“
Doch der aufgepeitschte Mob schreit: „Sein Blut komme über uns und
unsere Kinder!“ (Matth. 27,24 f.). Dies wurde dann folgerichtig als
Selbstverfluchung des jüdischen Volks für den Gottesmord
verstanden. Zwar ist in Shakespeares Stück selbst von der Anklage
des Gottesmordes nicht die Rede, doch tönt diese gleichsam als
Orgelpunkt der fundamentalen Judenfeindschaft unterschwellig mit.
Als
Gottesmördern musste den Juden eine spezifische Qualität
zugeschrieben werden. Dies tut Johannes, wenn er in seinem Evangelium
Jesus (obschon selber Jude) zu den Juden sagen lässt: „Ihr habt
den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater
verlangt (…) Er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge.“
(Joh. 8,44)
Die
Saat dieser Frohen Botschaft ist bei Luther auf fruchtbaren Boden
gefallen: „Die Juden
sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding, dass
sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen
sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen … Man
sollte ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecken, … unserem
Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir
Christen seien … ihre Häuser desgleichen zerbrechen und
zerstören.“ (Von
den Juden und ihren Lügen,
Tomos 8, S. 88 ff.)
So
entwickelt sich, zumal in der auf Symbole versessenen Epoche der
Renaissance, eine regelrechte Ikonographie des Juden: die Juden als
Jesusmörder, kannibalistische Kinderschlächter, Brunnenvergifter,
Schurken, Halsabschneider, Wucherer, auf christliche Jungfrauen
erpichte geile Böcke. Und dann werden sie die Beute der Dichter.
„Und wer von uns Dichtern
hätte nicht seinen Wein verfälscht? Manch giftiger Mischmasch
geschah in unsern Kellern …“ Nietzsche, Zarathustra
Weit
weniger differenziert und bewusst widerspruchsvoll als in seinen
anderen Stücken, ja geradezu plakativ steuert Shakespeare im
Kaufmann
Sympathie und Antipathie und manipuliert so sein Publikum. (Günther,
S. 217) Ein Beispiel: Shylocks Tochter Jessica brennt mit ihrem
christlichen Liebhaber samt ihres Vaters Geldkassette durch und
bezeichnet ihr Vaterhaus als Hölle
(II,3,2). Es ging dort, zumal für ein Mädchen im
sinnenfroh-liberalen Venedig, sicher streng und muffig zu, aber nicht
nur ist ihre Bewertung als übertrieben anzusehen – aufschlussreich
ist vielmehr, dass Shakespeare ihr, einer Sympathie-Figur im Stück,
den Vergleich mit der Hölle in den Mund legt, damit der Zuschauer
mit dem Herrn des Hauses den Teufel assoziiere (so auch in II,2,22
und III,1,19 f.). Folgerichtig wird Jessica am Schluss Christin.
Shakespeare
vermeidet immerhin, im Unterschied zu den anderen judenfeindlichen
Stücken seiner Zeit, die übelsten Anwürfe – ein Genie wie er hat
dies nicht nötig; sein Shylock ist komplexer, vielschichtiger,
keineswegs eine „Stürmer“-Karikatur. Shakespeare schreibt kein
Stück über
Juden, sondern mit
einem Juden. (Günther, ebd.) Doch benutzt auch er die anti-jüdischen
Stereotypen. Die ersten Worte, die Shylock im Stück spricht, lauten:
Three thousand ducats
(I,3) – das evoziert sofort das Klischee vom Geldjuden und bedient
gezielt die Vorurteile des Publikums.
Solche
Stereotypen gibt es im Kaufmann
von Venedig zuhauf.
Hier vorerst nur ein szenisch besonders eindrückliches Beispiel:
Antonio soll seinem jungen Freund Bassanio mit einer Summe von 3000
Dukaten aushelfen; Bassanio, sympathisch, aber verarmt, braucht das
Geld, um bei seiner Brautwerbung um die reiche Portia bella
figura zu machen: mit
Kleidung, Bediensteten, Musikern und prächtigem Schiff samt
Besatzung (die Begehrte wohnt auf einer Insel nahe Venedig). Es ist
eine erhebliche Summe, und da Antonio sein ganzes Geld in die
Übersee-Unternehmung gesteckt hat – Thou
know’st that all my fortunes are at sea,
sagt er zu Bassanio (I,1,176) – und deshalb im Moment nicht liquide
ist, sieht er sich gezwungen, sich an Shylock zu wenden, um ihn um
Kredit anzugehen. Shylock erinnert Antonio an die Beleidigungen, die
dieser ihm unzählige Male angetan hat (I,3,103 ff.):
SHYLOCK
Signor Antonio, wieviel mal, wie oft
Auf dem Rialto schimpften Sie mich
Von wegen meines Gelds und meiner Zinsen:
Stets trug ich’s achselzuckend mit Geduld …
Sie nennen mich ungläubig, Halsabschneider-Hund,
Und spucken auf mein jüdisches Gewand. (i.e. den Kaftan)
Und alles das nur, weil ich nutze, was doch mein ist.
Nun gut (…) ihr kommt zu mir und ihr sagt,
„Shylock, wir brauchen Gelder“, so sagt ihr:
Sie, der Sie Ihren Rotz mir auf den Bart spien,
Und nach mir traten, wie Sie fremde Köter
Von Ihrer Schwelle jagen. (…)
Trotz
seiner Zwangslage drückt Antonio unverhohlen seine Verachtung
gegenüber dem Juden aus:
ANTONIO
Ich nenn dich jederzeit gern wieder so,
Bespuck dich wieder und ich tret dich auch. (…)
So weit der edle Antonio …
Aufschlussreich ist die Sprechhaltung, die in Günthers Übersetzung genau wiedergegeben ist: Shylock siezt Antonio, Antonio hingegen duzt Shylock. (Im Original gebraucht Shylock das damals formelle you/your, Antonio das informelle und hier herablassende thou/thee.) Weitere Beispiele werden folgen, wenn es um die im Stück diskutierte Problematik des Zinsnehmens geht.
„Wir
– werden’s nicht vergessen.“ Mephisto zu Fausts Wetteinsatz
Es
verschlägt nichts, dass im Stück Shylock dem Kaufmann Antonio das
Geld nicht für eine Unternehmung leiht, sondern für dessen in
Geldverlegenheit befindlichen Freund; Antonio haftet mit seinem in
das Überseegeschäft gesteckten Vermögen, sodass Shylock bis zur
Begleichung der Geldschuld dessen Miteigentümer wird. Und
selbstredend geht Antonio davon aus, dass die Haftung mit einem Pfund
eigenen Fleisches nicht realistisch ist, zumal Shylock selbst
versichert, dies sei nur
so zum Spaß (in a merry sport)
gemeint. (I,3,144) Antonio nimmt die Sache also nicht ernst, auf
Bassanios Misstrauen entgegnet er optimistisch:
Ach, keine Angst, Mann, ich werd nicht falliern, –
Innert zwei Monaten, ein Monat eher
Als dieser Schuldschein anfällt steht mir zehnmal (sic!)
Der Wert von diesem Schuldschein doch ins Haus.“ (I,3,154 ff.)
Shylock
spielt die Sache auch herunter, indem er sie ins Lächerliche zieht:
Wenn er am Stichtag säumig ist, was hätt
Ich wohl davon,wenn ich die Buße eintreib?
Ein Pfund von Menschenfleisch von einem Menschen
Gehaun ist nicht so wertvoll noch so nützlich
Wie Fleisch von Ochsen oder Ziegen … (I,3,161 ff.)
Und
er trägt Antonio auf, dem Notar zu versichern, es handle sich dabei
nur um einen Witz von
Schuldschein (this merry bond).
(I,3,170)
Neue
Bühne, neue Rollen: W,G,G‘
Nun
zum zweiten Strang der Analyse! Dieser durchzieht den
gesellschaftshistorischen Hintergrund. Das Stück spielt im Venedig
des 16. Jahrhunderts. Die durch Handel und Raub reiche und mächtige
Seerepublik beherrscht das östliche Mittelmeer, rivalisiert mit dem
Stadtstaat Genua im Westen. Es ist die Epoche des sich
herausbildenden Kapitalismus, der hier natürlich noch nicht als
entwickelter Industriekapitalismus, sondern als Handelskapitalismus
auftritt, als solcher jedoch mit einer schon differenzierten
Geldwirtschaft als machtvoller ökonomischer Kraft.
Was
für Venedig gilt, gilt analog für London. In den Jahrzehnten der
elisabethanischen Epoche findet ein fundamentaler ökonomischer
Wechsel statt: ein Wechsel im Handel, also im Warenverkehr, im Kauf
und Verkauf. In der traditionellen Wirtschaft funktioniert der
geldvermittelte Warentausch so: Man bringt Waren auf den Markt,
tauscht dafür Geld ein, von dem man dann den eigenen Lebens- und
Betriebsbedarf bestreitet und neue Waren produziert. Marx hat das in
die allseits bekannte Formel W–G–W gebracht. (Marx, Das
Kapital I,
MEW 23, 162 ff.)
In
der sich entwickelnden neuen Ökonomie wird eine neue Mechanik
installiert: „Um die Schranken der begrenzten Individualkapitale zu
durchbrechen, kommt es zur Gründung von Kreditwesen und
Aktiengesellschaften.“ (Marx, Das
Kapital
II,
MEW 24, 357) Um ausreichend Kapital investieren zu können und das
Risiko zu mindern, schließen sich Kaufleute zu Handelsgesellschaften
zusammen, so 1555 zur Muscovy Company für den Handel mit Russland,
1592 zur Levant Company für den Handel im östlichen Mittelmeerraum
und schließlich 1606 zur East India Company. Das Risiko, alles zu
verlieren, ist hoch, aber wenn alles gutgeht, sind die Gewinne
immens: Erträge von 300 bis 400 Prozent sind die Regel, 100 Prozent
gelten als Misserfolg; die Expedition von Francis Drake, der im
Auftrag der Krone Piraterie betreibt, erbringt einen Rekordgewinn von
4.700 Prozent. (Quelle: Wikipedia).
Diese Aktiengesellschaften eröffnen der britischen Krone nicht nur
neue Märkte und bewirken im Verein mit den Gesellschaften anderer
Länder, wie besonders der Niederlande, „die Verschlingung aller
Völker in das Netz des Weltmarkts“ (Marx, Das
Kapital I, MEW, 23,
790); sie fungieren auch als Wegbereiter für die Unterwerfung und
Ausbeutung der Völker; besonders lukrativ ist dabei der
Sklavenhandel, den Shylock bei der Gerichtsverhandlung dem Dogen als
einem Christen und Sklavenhalter im IV. Akt auch mokant vorhält.
„Nach
Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles.“ Faust
I
(entmythisiert)
An
solchen so riskanten wie hochprofitablen Geschäften ist auch Antonio
beteiligt. In Erwartung hoher Gewinne hat er sein gesamtes
Geldvermögen eingesetzt, es zwar vorsichtigerweise nicht nur auf
eines, sondern auf drei Schiffe verteilt, doch bald gelten alle drei
Schiffe als verschollen, laufen aber zum glücklichen Ende reich
beladen in den Hafen ein. In keinem andern Stück von Shakespeare
sind Liebe und Ökonomie so eng verschwistert wie in diesem: Das
Glück der Liebespaare und der wirtschaftliche Erfolg des wagemutigen
Unternehmers vereinigen sich zum allgemeinen Happy End.
Was
hier zur Zeit Shakespeares geschieht, stellt einen fundamentalen
Wandel in der Ökonomie dar: Es wird Geld investiert, um Waren zu
erwerben, und diese werden wieder zu Geld gemacht, das erneut
investiert wird, um neues Kapital für neue Unternehmungen zu
akkumulieren. Marxens Formel dafür: G–W–G‘.
Er bezeichnet dieses „Kapital in Geldform oder das Geldkapital als
primus motor
(i.e. erste Triebkraft) für jedes neu beginnende Geschäft und als
kontinuierlichen Motor“ für weitere Geschäfte (Das
Kapital II,
MEW 24, 357). Für den „Warenhändler ist es selbstredend, daß
sein Kapital ursprünglich in der Form des Geldkapitals auf dem Markt
erscheinen muß, denn er produziert keine Waren, sondern handelt nur
mit ihnen, vermittelt ihre Bewegung, und um mit ihnen zu handeln, muß
er sie zuerst kaufen, also Besitzer von Geldkapital sein“. (Marx,
Das
Kapital
III,
MEW 25, 280)
Doch
fehlt es in dieser Phase der „ursprünglichen Akkumulation des
Kapitals“ (Marx) an eben diesem. Der Unternehmer muss Geld
herbeischaffen, Kredit aufnehmen – und da kommt „der Jude“ ins
Spiel. Weil den Juden sowohl der Erwerb von Grund und Boden als auch
der Zugang zu den Zünften verwehrt ist, müssen sie sich nach
anderen Erwerbsmöglichkeiten umsehen. Die weniger Klugen und
Gewandten sind auf zunftfreie und daher wenig angesehene Tätigkeiten
verwiesen, sind Kesselflicker, Scherenschleifer, fahrende Händler;
die Begabteren spezialisieren sich: auf Rechtswesen, Medizin und –
Geldgeschäfte.
Geldgeschäfte
sind besonders aussichtsreich, weil es den Christen verboten ist,
Geld gegen Zins zu verleihen. Allerdings nicht allen Christen. Einer
anfangs noch kleinen, aber zunehmend einflussreichen Sekte ist dies
gestattet: den Puritanern. Sie sind eine radikale Gemeinschaft, sind
verbohrt in Sinnenfeindlichkeit und Askese und gefallen sich in
stolzer Freudlosigkeit; Marx verspottet sie als „die nüchternen
Virtuosen des Protestantismus“ (MEW 23, 781). Und sie sind sparsam:
die idealen Wegbereiter der Kapitalakkumulation, zumal aufgrund ihrer
calvinistischen Orientierung der wirtschaftliche Erfolg ihnen als
Ausweis ihrer Gottgefälligkeit und Auserwähltheit für das
himmlische Paradies dient. Weshalb nun, mag mancher sich fragen,
platziert Shakespeare seinen Kaufmann in Venedig statt in London?
Nun, weil es in Venedig eben keine Puritaner gibt und der klamme
Antonio gezwungen ist, sich an einen Juden zu wenden, was eben der
dramatischen Zuspitzung dient.
Shakespeare – der
Konservative, die bestehende Herrschaft Affirmierende – inszeniert
sein Drama als religiösen Konflikt, als einen Konflikt zwischen
jüdischer und christlicher Religion, und in diesem Rahmen wird das
Problem des Zinses – „Wucher“ (engl. usury) genannt – auch
damals diskutiert. So auch bei Shakespeare: Im Zentrum seines
Kaufmanns von Venedig
steht das Problem: Ist Zinsnehmen statthaft oder nicht? Das ist nicht
nur ein religiös – ethischer Konflikt, in ihm steckt auch ein
drängendes finanztechnisches Problem der elisabethanischen Zeit.
„… die heiligen Schauer
der frommen Schwärmerei … im eiskalten Wasser egoistischer
Berechnung ertränkt.“ Marx/Engels, Kommunistisches
Manifest
Blicken
wir zunächst auf den christlichen Standpunkt! Dieser spricht sich
eindeutig gegen das Zinsnehmen aus, weil es widernatürlich sei und
gegen die christliche Nächstenliebe verstoße. Die Auffassung von
der Widernatürlichkeit geht, wie so vieles in der katholischen
Kirche, auf die Autorität des Aristoteles zurück. Dieser setzt die
Ökonomik als die natürliche Erwerbskunst, die der grundlegenden
Bedürfnisbefriedigung dient, der Chrematistik als der
widernatürlichen Erwerbskunst entgegen, da sie nur darin bestehe,
Geld zu akkumulieren: „So
ist der Wucher hassenswert, weil er aus dem Geld selbst den Erwerb
zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um
des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich
dagegen durch sich selbst. (…) Diese Art des Gelderwerbs ist also
am meisten gegen die Natur.“ (Politik,
1. Buch, Kap. 3) Denn lebendige Wesen vermehrten sich auf natürliche
Weise; widernatürlich sei jedoch, dass lebloses Metall auf abstrakte
Weise sich vermehre.
Die christliche Lehre betrachtet das Zinsnehmen als Sünde gegen das Gebot der Nächstenliebe und Brüderlichkeit. Shakespeares Sprachrohr im Stück ist der Kaufmann Antonio, der den christlichen Standpunkt vertritt.
Antonio zu Shylock (I,3):
Shylock, obwohl ich weder leih noch borge
Und Wucherzinsen weder nehm noch gebe (…)
… denn wann je nahm Freundschaft
Vom Freund die Frucht von unfruchtbarm Metall?
Shylock
als glaubensfester Jude beruft sich auf Gottes Gebot, wonach man zwar
von seinen Glaubensgenossen keinen Zins nehmen darf, wohl aber von
Nichtjuden: „Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen, weder
Zinsen für Geld noch für Getreide noch Zinsen für sonst etwas …
Von einem Ausländer darfst du Zinsen nehmen, von deinem Bruder
darfst du keine Zinsen nehmen, damit der Herr, dein Gott, dich segne
in allem.“ (Deuteronomium 23,20 f.) So borgt Shylock, um Antonio
die hohe Geldsumme zu verschaffen, von seinem reichen
Glaubensgenossen Tubal Geld, ohne dass dieser Zinsen verlangt.
Die
junge kapitalistische Ökonomie giert nach Kapital, um wachsen zu
können. Zwar wird in zwei Publikationen noch gegen das Zinsnehmen
polemisch zu Felde gezogen, so 1572 von Thomas Wilson mit seiner
Schrift Discourse Upon
Usury, und noch 1594
in einem von einem unbekannten Verfasser stammenden Pamphlet The
Death of Usury, or, The Disgrace of Usurers,
in dem die Geldverleiher als Wölfe und Teufel geschmäht werden;
jedoch wird unter dem „stumme(n) Zwang der ökonomischen
Verhältnisse“ (Marx, MEW 23, 76) das Zinsverbot zunehmend
umgegangen, und 1571 gestattet Königin Elisabeth I. Kreditgeschäfte
und begrenzt den Zinssatz auf 10 Prozent. Francis Bacon, einer der
bedeutendsten Wegbereiter des Rationalismus, bestätigt in seinem
Essay Of Usury
(3. Aufl.
1625) aufgrund der wirtschaftlichen Erfordernisse
nüchtern-zweckrational die Notwendigkeit des Zinsnehmens; denn „it
is certain that the greatest part of trade is driven by young
merchants, upon borrowing at interest“ und „that it is a vanity
to conceive, that there would be ordinary borrowing without profit”.
(http://www.authorama.com/essays-of-francis-bacon-42.htm)
Kleiner
theologischer Exkurs:
Als
im Hochmittelalter infolge des sich ausweitenden Handelsverkehrs auch
das Zinsnehmen häufige Praxis wird, entwickeln Theologen wie z.B.
Anselm von Canterbury und Petrus Lombardus ein weiteres, eben
spezifisch theologisches Argument gegen das Zinsnehmen: Wucherer
seien Diebe, denn sie handeln mit der Zeit; Wucher sei Diebstahl von
Zeit, die Zeit sei jedoch Eigentum Gottes und daher dem Menschen
unverfügbar; bemächtige sich der Mensch der Zeit, begehe er eine
schwere Sünde. Dazu Jacques Le Goff: Wucherzins und Höllenqualen.
Ökonomie und Religion im Mittelalter. Stuttgart 2008 (1988), S. 43
ff. Für den Hinweis danke ich Frank Engster. – Das Argument der
„gestohlenen Zeit“ spielt in der elisabethanischen Epoche keine
Rolle. Der Aspekt der Zeit verdiente es jedoch, mit den Kategorien
der Marx’schen Theorie philosophisch-ökonomisch eingehend
untersucht zu werden.
Gleichwohl haftet dem Zinsnehmen noch lange der Ruch des Unmoralischen an, und man projiziert dies, zur eigenen Entlastung, auf einen Sündenbock, als welcher traditionell „der Jude“ parat steht. Das mündet im 20. Jahrhundert in die polemische Entgegensetzung des „schaffenden Kapitals“ des ehrbaren Arbeiters und des im Dienst seiner Nation tätigen Unternehmers auf der einen Seite und zum „raffenden Kapital“ des plutokratischen, vaterlandslosen Juden auf der andern. Ausgeblendet wird dabei, dass beides zwangsläufig zum Prozess des Kapitalismus gehört: das Kapital als „anonymes automatisches Subjekt“ (Marx, MEW 23, 169), als der rastlos „sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld“. (Marx, Das Kapital III, MEW 25, 405) Moishe Postone hat dies in seinem Essay Nationalsozialismus und Antisemitismus zu der ebenso kühnen wie denk-würdigen These zugespitzt, dass mit der Vernichtung der Juden in der Shoah die Vernichtung dieser abstrakten Dimension der Selbstverwertung des Werts in verborgener Weise intendiert war: „Die Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt.“
(https://www.streifzuege.org/1978/nationalsozialismus-und-antisemitismus/)
Applaus
für G‘!
Mit
der ökonomischen Umwälzung im 16. Jahrhundert ändert sich auch die
Funktion des Geldverleihens: Aus dem traditionellen Geldverleiher
Shylock wird ein prämoderner Finanzmakler. Er investiert Geld, um
mehr Geld zu erzeugen. Er tut das, was Marx im Kapital
so formuliert:
„Im zinstragenden Kapital
erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und
fetischartigste Form. Wir haben hier G–G‘,
Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertenden Wert, ohne den
Prozess, der die beiden Extreme vermittelt. Im Kaufmannskapital
G–W–G‘
ist wenigstens die allgemeine Form der kapitalistischen Bewegung
vorhanden, obgleich sie sich nur in der Zirkulationssphäre hält …
Die Form des Kaufmannskapitals stellt immer noch einen Prozess dar,
die Einheit entgegengesetzter Phasen, eine Bewegung, die in zwei
entgegengesetzte Vorgänge zerfällt, in Kauf und Verkauf von Waren.
Dies ist ausgelöscht in G–G‘,
der Form des zinstragenden Kapitals.“ (Das
Kapital III,
MEW 25, 404)
Shylock
hat diese Selbstverwertung prinzipiell begriffen, formuliert den
abstrakten Vorgang aber noch in naturhaften Kategorien. Er beruft
sich, stolz auf seine Ahnenschaft, auf das Zeugnis der Bibel (Genesis
29): Jakob freit um Labans Tochter Rahel, wird von Laban hinters
Licht geführt, hütet vierzehn Jahre lang dessen Schafe und erreicht
durch einen Trick, dass er am Ende mehr Schafe besitzt als Laban
selbst. Shylocks Schlussfolgerung daraus: Das
war Gewinn tun, und er war gesegnet: / Ja, und Gewinn ist Segen, wenn
man ihn nicht stiehlt.
(I,3,86f.) Antonio tut das ab: Dies sei vom Himmel gelenkt worden und
sei daher keine Rechtfertigung fürs Zinsnehmen. Aufschlussreich ist
seine eigene Deutung: Jakob habe Geschäftsglück
(venture)
(I,3,88) gehabt – und zieht so eine Linie zu seinen eigenen
riskanten geschäftlichen Unternehmungen. Schaf und Widder, so
Antonio weiter, vermehren sich, aber Gold und Silber doch nicht!
(I,3,92) Shylock darauf: Ich
weiß nicht, ich lass es halt ebenso rasch sich fortpflanzen (I
cannot tell, I make it breed as fast).
(I,3,94) Bezeichnend ist, dass Shylock für den Vorgang der
abstrakten Geldvermehrung den Ausdruck breed
benutzt, der züchten,
brüten, fortpflanzen
bedeutet. Was hier als neuartiges Phänomen sich verbirgt, aber von
den Zeitgenossen analytisch noch nicht begriffen wird, ist die
notwendige Scheidung der kapitalistischen Produktivfunktion im Fall
von Kreditgeschäften: die Scheidung des Eigentums vom Besitz des
Geldes. Diese Scheidung ist sozial bereits personifiziert und wird
vom Eigentümer (samt seinen Parteigängern) gegen den Geldverleiher
antisemitisch aufgeladen.
„Überall
geht ein früheres Ahnen dem späteren Wissen voraus.“ Alexander
von Humboldt
Von
diesem Prozess und dessen ideologischer Verhüllung weiß Shakespeare
nichts, aber seine poetische Intuition reicht so weit, dass er in
seinen Figuren des Kaufmanns und des Juden ein tertium
comparationis
erkennt: das Geld. Dieses gemeinsame Dritte hebt in einem
entscheidenden Punkt die Verschiedenheit der beiden Figuren auf.
Bezeichnend dafür ist, dass Portia, verkleidet als junger Jurist,
beim Eintritt in den Gerichtssaal die Frage stellt: Wer
ist der Kaufmann hier? und wer der Jude?
(IV,1,172) – eine überflüssige Frage, ist doch der Jude
einwandfei zu erkennen an seinem Kaftan, dem Spitzhut und den gelben
Binden an den Ärmeln, da derart auffällig sich zu kleiden die Juden
in Europa seit 1215 gezwungen sind. Dies ist ein vortreffliches
Beispiel dafür, wie die poetische Intuition des Autors ihn eine
Erkenntnis formulieren lässt, die ihm rational nicht zugänglich
ist. Derlei findet sich häufig bei Shakespeare und zeugt für sein
Genie.
Die
berühmte Gerichtsszene im IV. Akt ist mit ihren überraschenden
Wendungen raffiniert und spannend konstruiert wie Billy Wilders
Gerichtsfilm Zeugin
der Anklage. (By the
way: Lebte Shakespeare heute, würde er Filme drehen – Hitchcock
ein legitimer Nachfolger Shakespeares?) In dieser Szene funktioniert
die bereits eingespielte Sympathie- und Antipathie-Steuerung aufs
Allerbeste: hier der märtyrergleich geduldig in sein Schicksal sich
fügende Antonio, dort der unbarmherzige, rachsüchtige Shylock. Es
geht diesem nur um Rache an Antonio; dessen Fleisch, höhnt er, sei
ihm zwar zu nichts nutze, allenfalls
… zum Fische ködern –
wenn es sonst nichts nährt, so nährt’s doch meine Rache an ihm,
denn der hat mich entehrt, mir ‘ne
halbe Million verhindert, meine Verluste verlacht, meine Gewinne
verhöhnt, mein Volk mir geschmäht …
(III,1,47 ff.)
Sein
darauf folgender großer Monolog wird oft als humanistische
Beschwörung der Gleichheit aller Menschen im Sinne von Lessings
Nathan verstanden und wird von gutgesinnten Regisseuren und
Schauspielern entsprechend in Szene gesetzt, am bewegendsten wohl in
Ernst Lubitschs Filmkomödie Sein
oder Nichtsein von
1942, der Zeit der schrecklichsten Judenverfolgung. Shylocks Rede
lautet so:
Und was ist sein (scil.
Antonios) Grund? Ich
bin ein Jud. Hat nicht ein Jud auch Augen? hat nicht ein Jud auch
Hände, Glieder, Körper, Sinne, Sehnsucht, Leidenschaft? genährt
von gleicher Nahrung, verletzt von gleichen Waffen, anfällig
gleichen Leiden, geheilt durch gleiche Mittel, fühlt er nicht warm
und fühlt er nicht kalt vom gleichen Winter wie vom gleichen Sommer
ganz wie ein Christ? – wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? wenn
ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? wenn ihr uns vergiftet, sterben
wir nicht? und wenn ihr uns Unrecht tut, solln wir uns dann nicht
rächen? wenn wir sind, wie ihr in allem andern seid, dann wolln wir
uns auch darin ähneln. Wenn ein Jud einem Christen Unrecht tut, was
wird aus dessen Demut? Rache! Wenn ein Christ einem Jud Unrecht tut,
was sollt dessen Duldung sein nach christlichem Vorbild? – Rache,
ja was sonst! Die Schuftigkeit, die ihr mich lehrt, die will ich
ausführn, und’s wird hart angehn, aber ich Lehrling will euch
Meister übertreffen. (III,1,51
ff.)
Das
ist kein Appell an Humanität, sondern eine Begründung der Rache.
Nichts anderes.
Göttin
Justitia: blind, aber schlitzohrig
Unerbittlich
erweist sich Shylock bei der Gerichtsverhandlung. In ihr prallen
fundamental gegensätzliche Themen aufeinander: „Gnade und Recht;
Vergeltung und Vergebung; Rache und Erbarmen; Altes Testament gegen
Neues Testament.“ (Günther, S. 250)
Alle
Einigungsbemühungen, auch die doppelte Summe, die Bassanio von
seiner Braut Portia erhält, lehnt er ab. Selbst der Doge, die
höchste Autorität Venedigs, appelliert an Shylock, Gnade walten zu
lassen: Wie hoffst du
nur auf Gnade und übst keine?
(IV,1,88) Er spielt damit auf das Jüngste Gericht an und zielt auf
die göttliche Gnade, auf die letztlich jeder angewiesen ist und die
auszuschlagen wohl die schwerste aller Sünden ist. Vergebens.
Shylock setzt noch eins drauf. Er kompromittiert die Christen, indem
er ihnen ihre eigene Doppelmoral vor Augen hält (und Shakespeare
wäre nicht das einzigartige Genie, wenn er nicht auch dies dem
Bösewicht zugutehielte). Und Shylock spricht den Dogen mit
You/Yours/Sie/Euer
direkt herausfordernd an:
SHYLOCK
Tu ich kein Unrecht – was fürcht ich das Gericht?
Sie haben viel gekaufte Sklaven um sich,
Die Sie wie Ihre Esel, Hunde, Mulis
Für knechtische und niedre Dienste nutzen,
Weil Sie sie kauften. Soll ich Ihnen sagen,
Gebt sie doch frei, vermählt sie Euren Erben?
Was schwitzen sie vor Müh? gebt ihnen Kissen
Daunweich wie Ihres, kitzelt ihren Gaumen
Mit Speisen wie Ihren eignen? Da sagen Sie:
„Die Sklaven sind mein eigen“, – drum sag ich:
Das Pfund an Fleisch, das ich von ihm verlang,
Ist hoch bezahlt, s’ist meins, und ich will’s haben:
Wenn Sie’s mir weigern – gespien auf Ihr Gesetz!
‘s liegt keine Macht mehr in Venedigs Recht!
Ich wart aufs Urteil: – Antwortet! soll ich’s haben?
(IV,1,89 ff.)
Mittels eines sophistischen,
aber juristisch einwandfreien Tricks wird Antonio gerettet: Bassanios
Braut Portia, verkleidet als junger Rechtsgelehrter im Auftrag eines
hochangesehenen Juraprofessors, erklärt Shylocks Vertrag für
einwandfrei und gibt ihm zunächst recht. Die Szene ist von
ungeheurer Dramatik, von Hitchcock-gleichem Suspense: Antonio wird am
Stuhl festgebunden, seine Brust entblößt, ein Beißholz ihm
zwischen die Zähne gesteckt, Shylock nähert sich ihm mit blankem
Messer und setzt es an Antonios Brust an. In diesem Augenblick greift
der junge Jurist ein: Portia lässt eine Waage herbeiholen, auf der –
so erklärt sie streng – exakt ein Pfund von Antonios Fleisch
abzuwiegen sei – nicht ein Gramm zu viel oder zu wenig sei ihm
gestattet. Überdies, so erklärt sie, sei es Shylock bei Todesstrafe
verboten, auch nur einen einzigen Tropfen Christenblut – one
drop of Christian
blood (IV,1,308) –
zu vergießen. Dieser Coup hat seine höhere Weihe: Da nach der
Theologie des Paulus alle Christen durch Taufe und Christi
Erlösungswerk „ein
Leib in Christus“ sind (Röm.12,5 und 1 Kor 12,27), würde der
Jude, der eines Christen Blut vergösse, abermals Christus morden.
Paulus spricht vom Leib in einem geistlichen Sinn, doch wer schert
sich um solche Feinheiten, wenn es gilt, dem Juden eine Falle zu
stellen? Zwar ist von der Anklage des Gottesmordes im Stück nicht
die Rede, doch tönt diese gleichsam als Generalbass der
Judenfeindschaft unaufhörlich mit. Da kapituliert Shylock und
verzichtet auf die vertraglich festgelegte Buße.
Der
Gerichtsprozess hat seine eigene untergründige Symbolik. Der Jude
will aus des Christen Leib Fleisch herausschneiden um kalten Metalls
willen: lebendiges Fleisch gegen abstrakt gewonnenes, totes Geld;
„gutes“, in kühnen Unternehmungen eingesetztes Kapital gegen
spekulativ erworbenes „schlechtes“ Kapital; schaffendes Kapital
gegen raffendes Kapital.
„Gnade
erniedrigt wie Schande.“ Laotse
Shylock
steht aufs äußerste kompromittiert da. Doch ist der Prozess noch
nicht beendet. Der Zivilprozess wandelt sich in einen Strafprozess
um; juristisch zwar unzulässig, doch Dichter nehmen sich die
Freiheit. Mit den Worten Damit
du siehst, wie andern Geists wir sind
(IV,1,366) schenkt der Doge ihm das Leben – sein Leben hat Shylock
wegen seines Mordversuchs an Antonio anscheinend verwirkt.
Allerdings, verfügt der Doge weiter, solle Shylocks Besitz zur einen
Hälfte Antonio zufallen, zur andern dem Staatsschatz. Shylock stürzt
in Verzweiflung: Eher solle man ihn töten, als ihn in den
materiellen Ruin treiben: Ihr
nehmt mein Leben, wenn Ihr die Mittel nehmt, wovon ich lebe.
(IV,1,375) Ohne Geld ist der Geldjude ein Nichts.
Doch
damit nicht genug. Der Gerichtsprozess erhöht sich zum Schauprozess.
Die Gnade des Dogen wird überreicht: Der Jude solle sich zum Dank
für die ihm erwiesene Gnade unverzüglich taufen lassen – for
this favour he presently become a Christian.
(IV,1,384f.) Tief resigniert willigt Shylock ein. Die Taufe bedeutet
für ihn als tiefgläubigen Juden die Auslöschung seiner geistigen
und religiösen Identität. Über den im Innersten vernichteten Juden
ergießen sich nun Hohn und Spott (und das Publikum hat seinen Spaß).
Für uns Heutige stellt diese Demütigung eine grausamere Strafe dar,
als selbst die Hinrichtung es wäre. Doch ist es, in christlicher
Sicht betrachtet, tatsächlich eine Gnade, die Shylock zuteil wird:
Denn durch die Taufe bekommt er die Chance, in den Stand der Gnade zu
kommen und vor der ewigen Verdammnis bewahrt zu werden. Theologie
hat ihre eigene Logik: Though
this be madness yet there is method in it.
(Hamlet,
II,2)
„Was
tun?“ W. I. Uljanow
Wie soll man dieses Stück heute spielen?
Ein literarischer Text, von seinem Autor in die Welt entlassen, gewinnt im Lauf der Geschichte ein Eigenleben, das unabhängig von seinem Autor sich entfaltet. Der Leser stellt an den Text neue Fragen, konfrontiert ihn mit Problemen, die sich aus den Erfahrungen der Geschichte ergeben haben, und so können im Text verborgene Sinnschichten sich eröffnen, solche, die der Autor nicht bewusst, sondern intuitiv gestaltet hat, ja, sogar auch solche, die im Widerspruch zu seiner Auffassung stehen. So lange dies geschieht, bleibt Dichtung lebendig.
Dies
aber ist das Problem beim Aufführen des Kaufmanns
von Venedig.
Shakespeare hat – ich wiederhole Günthers Auffassung – nicht ein
Stück über
einen Juden, sondern mit
einem Juden geschrieben. Zweifellos ist „die antijüdische Tendenz
des Textes eine gewollte Kernaussage des Stückes“; gleichwohl ist
Shakespeares Kaufmann
von Venedig „kein
antisemitisches Pogromstück“. (Günther, S. 215)
Doch
müssen alle gutgemeinten Versuche einer „Rettung“ des Stücks
durch eine bemüht positive Zeichnung des Juden Shylock an der
offenkundigen anti-jüdischen Tendenz des Stücks scheitern. Denn die
Erfahrungen der Shoah sind allzu erschütternd und überwältigend,
als dass es möglich wäre, dieses harte Bild eines bösartigen Juden
weich zu zeichnen.
Wie
soll man nun mit diesem Stück verfahren? Meine Meinung ist:
Theatermacher sollten es für hundert Jahre aus dem Spielplan
streichen und danach sehen, ob inzwischen eine Zeit eingetreten sei,
in der Juden sich nicht mehr fürchten müssen. Da mag man es dann
aufführen.