Zur Aufgabe einer kategorialen Gesellschaftskritik
von Frank Engster
Wie in anderen westlichen Industrienationen, begann auch in Westdeutschland Mitte der 1960er-Jahre eine Rückkehr zu Marx, und wie in den anderen Ländern ging auch in Westdeutschland mit dieser neuen Marx-Aneignung eine neue Aneignung des Kapital einher, genauer gesagt: eine neue Lesart. Unter dem unscheinbaren Begriff Lesart sind regelrechte Methoden der Interpretation und der Kritik zu verstehen. So begann in Italien die operaistische und später die post-operaistische Kapital-Lesart, in Frankreich im Kreis um Althusser die strukturale und später die post-strukturale und dekonstruktive Lesart, und im angelsächsischen Raum begannen die großen sozial-historischen Untersuchungen der Cultural Studies und des Political Marxism. In Westdeutschland, z.T. aber auch in der DDR, wurde indessen die Re-Lektüre des Kapital zu einer umfassenden Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie (KdpÖ), und im Zuge dieser Rekonstruktion bildete sich eine formanalytisch-werttheoretische Lesart heraus, die mittlerweile auch als Neue Marx-Lektüre bezeichnet wird (und die wiederum zu unterscheiden ist von der explizit wertkritischen Lesart, wie sie etwa von der Krisis, Exit und den Streifzügen vertreten wird).
Dass in Deutschland die neue Marx-Aneignung mit dem Bedürfnis nach einer solchen Rekonstruktion der KdpÖ und einer Selbstverständigung über das Ökonomische einherging, hatte verschiedene Gründe. Der entscheidende Grund war aber wohl, dass die Kapital-Aneignung in der BRD durch die erste Generation der Kritischen Theorie vorbereitet wurde und dass die Aneignung im Umfeld der Studentenbewegung stattfand. Die Kritische Theorie hatte in Marx’ Gesellschaftskritik eine Art Vergesellschaftung der ungelösten Probleme und offenen Fragen der Philosophie gesehen und war darin ihrerseits von Georg Lukács und Karl Korsch beeinflusst worden. Zudem spielten bei ihr Überlegungen zur Methode der Kritik und der Darstellung sowie das Verhältnis von Hegel’scher zu Marx’scher Dialektik eine wichtige Rolle.
Allerdings blieb in der Kritischen Theorie, genau wie im Westlichen Marxismus insgesamt, der Umgang mit dem Kapital oft eher metaphorisch und assoziativ. Eine wirklich systematische Aufarbeitung – oder eben: eine Re-Konstruktion – war weitgehend ausgeblieben, und diese wurde nun von Studierenden im Umfeld der Kritischen Theorie in Angriff genommen; z.T. noch persönlich motiviert von den Vertretern der ersten Generation der Kritischen Theorie selbst.
Zudem hatte diese erste Generation die Rekonstruktion, trotz des unsystematischen Gebrauchs des Kapital, insofern regelrecht angeleitet, als sie die klassischen Lesarten in der Tradition der II. Internationale und des Marxismus-Leninismus bereits einer zumindest impliziten Kritik unterzogen hatte: Statt das Kapital vom Standpunkt der Arbeit und der Arbeiterklasse aus für den Klassenkampf zu erschließen, wurde es als Kritik warenförmiger Vermittlung ausgelegt. Indem in der Kritischen Theorie die Vermitteltheit der gesamten Gesellschaft durch die Totalität der Warenform – eingeschlossen die Arbeit und die Klasse, das Bewusstsein und die Subjektivität – Ausgangspunkt wie Grundzug der Gesellschaftskritik bildete, rückten bereits hier die Kategorien rund um die Wertformanalyse in den Mittelpunkt – und mit ihnen der Anfang des Kapital sowie vor allem das viel zitierte „Problem des Anfangs“.
Noch vor der eigentlichen Rekonstruktion und noch vor der Frage ihres Anfangs standen indes methodologische (Vor-)Überlegungen, wie Marx’ Kapital angemessen zu erschließen sei und wie im Kapital die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise mit ihrer wissenschaftlichen Darstellung übereinkomme. Für solche Überlegungen schien insbesondere die Wertformanalyse geradezu eigens von Marx verfasst und der eigentlichen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise vorangestellt worden zu sein, und so wurde die Marx’sche Wertformanalyse paradigmatisch für das methodische Verständnis und die Lesart des Kapital – im Gegensatz zu den bislang vorherrschenden Kapital-Lesarten, die, wenn sie die Wertformanalyse überhaupt zur Kenntnis nahmen, in ihr die Bestätigung einer „objektiven Arbeitswerttheorie“ bei Marx sahen.
Tatsächlich lässt sich allein an der Interpretationsweise der Wertformanalyse bereits der Bruch mit den damals vorherrschenden Lesarten des Kapital festmachen. Es gab nämlich eine Kritik an der historisierenden Auslegung dieser Wertformanalyse und des Kapital insgesamt, wie sie schon von Engels in seiner Rezension von Zur Kritik 1857 (MEW 13, 475) und dann noch einmal in seinem Vorwort zur 3. Auflage des Kapital 1894 nahegelegt worden war. (MEW 23, 33-35) Die Kritik führte in Deutschland zu einer Auseinandersetzung darüber, ob die Entwicklung der ökonomischen Kategorien im Kapital logisch-systematisch oder historisch-logisch auszulegen sei.
Durch die Konzentration auf die Wertformanalyse und auf ihre methodische Bedeutung für die logisch-kategoriale Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise gerieten in Deutschland werttheoretische Überlegungen in den Mittelpunkt der neuen Kapital-Rezeption. In Deutschland zeichnet sich die Kapital-Rezeption seitdem durch eine mitunter geradezu obsessive Beschäftigung mit der Wertformanalyse, ihren Kategorien und generell mit werttheoretischen Fragen aus – obgleich es in anderen Ländern ebenfalls werttheoretische Debatten gab, bereits in den 1920er-Jahren beim russischen Ökonomen Isaak Rubin sowie in Japan, in den 1970er-Jahren dann im angelsächsischen Raum und in Frankreich bei Suzanne de Brunhoff.
Der kritische Ertrag der logischen Lesart
Diese logisch-kategoriale, auch formanalytisch oder werttheoretisch genannte Lesart der Wertformanalyse und des Anfangs des Kapital hatte einen klaren Ertrag, der sie von ihren bisherigen Interpretationen unterschied. Wird die Analyse nicht, wie in den historisierenden und soziologischen Auslegungen, als historisch-logische Rekonstruktion des Geldes aus einem einfachen Warentausch und einer „einfachen Warenproduktion“ (Engels) ausgelegt, sondern im Gegenteil als Scheitern der Verallgemeinerung und Totalisierung unmittelbarer Austauschverhältnisse, dann holt die Analyse im Geld auf eine rein logische Weise die Notwendigkeit eines gemeinsamen ausgeschlossenen Dritten ein. Die Analyse ist mithin als Kritik einer „prämonetären Ware“ und „prämonetärer Wertvorstellungen“ zu lesen; dies war das Ergebnis der logischen Lesart zunächst bei Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt; mittlerweile werden eine Einheit von Wert- und Geldkritik oder eine „monetäre Werttheorie“ aber von einer Reihe weiterer Autoren wie Michael Heinrich, Riccardo Bellofiore oder Fred Moseley vertreten. Dieser Einsicht zufolge setzt nicht nur das Verhältnis einer Ware zu einer anderen je schon das Geld voraus; vielmehr sind auch der innere Widerspruch der Ware (Gebrauchswert und Tauschwert) und der Doppelcharakter der Arbeit (konkrete und abstrakte Arbeit) sowie das Verhältnis von Form und Substanz des Werts (Ware und abstrakte Arbeit) nicht ohne das Geld angemessen zu bestimmen.
Auf eine logisch-kategoriale Weise in den grundlegenden Kategorien der politischen Ökonomie deren Bestimmung durch die Funktionen des Geldes einzuholen: Das ist etwas ganz anderes als eine Begründung dieser Kategorien durch eine Rekonstruktion, sei es eine Rekonstruktion aus der geschichtlichen Entwicklung oder aus der gesellschaftlichen Praxis. Es geht um, wie Marx selbst sagt, die Lösung des „Geldrätsels“ (MEW 23, 94 f.), und zu lösen gilt diejenige Lösung, die das Geld in der einfachen Wertform x Ware A = y Ware B im „x“ und „y“ auf eine ganz offensichtliche Weise vorstellt und doch zugleich als Rätsel aufgibt: nämlich dass das Verhältnis der Waren bereits quantitativ bestimmt und in objektive und empirisch „reine“ (im Kant’schen Sinne) Geltung gesetzt worden ist.
In den 1970er-Jahren wurden in der westdeutschen Marx-Diskussion aus dieser logischen Lesart der Wertformanalyse noch zwei weitere Konsequenzen gezogen. Marx’ Analyse der Wertform schien nämlich außer für die Geldform noch für zwei weitere Formen relevant zu sein, und zwar zum einen, im Anschluss an die Kritische Theorie und Alfred Sohn-Rethel, für die Denkform, und zum anderen, in der sog. Staatsableitungsdebatte und, anschließend an den Russischen Marxisten Eugen Paschukanis, für die Rechtsform. In beiden Fällen ging es darum, eine Übereinstimmung zwischen der Form des Ökonomischen und der spezifisch kapitalistischen Formbestimmtheit sowohl der Erkenntnis und des abstrakt-rationalen Denkens als auch der bürgerlich-kapitalistischen Rechtsverhältnisse zu begründen.
Bereits Ende der 1970er-Jahre versandeten diese Diskussionen um die Wertformanalyse jedoch. Das war zum einen dem allgemeinen Niedergang einer am Kapital orientierten Theorieproduktion geschuldet; zum anderen schien die formanalytisch-werttheoretische Lesart aber auch erschöpft zu sein. Mehr noch, der Anspruch, über eine logisch-kategoriale Entwicklung Marx’ materialistische Umstülpung der Dialektik zu begründen und eine Vergesellschaftung der Hegel’schen Logik und des Geistes schlussendlich doch noch einlösen zu können – nicht über die Arbeit, wie im bisherigen Marxismus, sondern über die wertförmige Vergesellschaftung im Sinne eines „automatischen“ Subjekts (MEW 23, 168) – dieser Anspruch, den Kritiker ohnehin stets für überspannt und verfehlt gehalten hatten, schien auch den Verfechtern irgendwie undurchführbar. Jedenfalls schrak die Gesellschaftskritik fortan vor solch ebenso radikalen wie weitreichenden Ansprüchen zurück: Mit dem Niedergang der politischen Bewegung Ende des „roten Jahrzehnts“ der 1970er-Jahre und dem allgemeinen Rückzug der radikalen Gesellschaftskritik wurden auch die Ambitionen in der Theorie bescheidener.
Fixierung auf Warentausch, Tauschmittel und Tauschwert
Diese Situation der Erschöpfung verweist m. E. aber auch auf eine Art Selbstblockade. Es gibt nämlich neben dem genannten Ertrag der logisch-kategorialen Lesart der Wertformanalyse auch ein grundsätzliches Problem: Auch da, wo die Analyse im Sinne einer Einheit von Wert- und Geldtheorie und als Kritik prämonetärer Wertvorstellungen ausgelegt wurde, wird sie regelmäßig weiterhin wie ein Warentausch ausgelegt. Folgerichtig werden Geld und Wert dann aus einem unmittelbaren Warentausch abgeleitet und das Geld als Tauschmittel und der Wert als Tauschwert präsentiert. Mehr noch, das Kapitalverhältnis wird insgesamt aus einer regelrechten Ökonomie des Austauschs, einer Produktion für den Tauschwert und aus dessen Verselbständigung heraus erschlossen.
Daraus hat sich mitunter eine regelrechte Tauschlogik und Tauschmetaphysik entwickelt, von Georg Lukács und Alfred Sohn-Rethel über Adorno und die Kritische Theorie bis zu aktuellen Auslegungen sowohl im Umfeld der Neuen Marx-Lektüre als auch in der Wertkritik um Krisis, Exit, Streifzüge etc. Diese Tauschlogik kreist um einen Abstraktionsvorgang, der notwendig zu sein scheint, um qualitativ verschiedene und insofern unvergleichbare Gebrauchswerte sowie die „dahinter“ stehenden konkreten Arbeiten „realabstrakt“ gleichzusetzen; das Geld steht dann für diese Abstraktion im Tausch und ist gleichsam eine daseiende Abstraktion. Entsprechend wird die kapitalistische Ökonomie als eine Verallgemeinerung und Totalisierung der Warenform und als Verselbständigung des Tauschwerts und des „Tauschprinzips“ (Adorno) ausgelegt.
Diese Fixierung auf eine Logik des Austauschs ist allein schon darum erstaunlich, weil solche Vorstellungen gerade die bürgerliche Ökonomietheorie auszeichnen, die ja ebenfalls ihre Vorstellungen von Rationalität und Objektivität und ihre politischen Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit ebenfalls aus dem Mythos eines einfachen Warentauschs ableitet. Damit sitzen ironischerweise sowohl die bürgerliche Ökonomietheorie als auch deren marxistische Kritiker genau dem Warentausch und derjenigen Tauschlogik auf, die als Schein des Geldes zu kritisieren wären. Denn Marx will ja gerade Austausch und Zirkulation samt den objektiven Denknotwendigkeiten und samt den bürgerlichen Idealen, die sie hervorbringen, als notwendigen Schein auf der Oberfläche der Gesellschaft durchsichtig machen, und um den Schein durchsichtig zu machen, stellt er dem Austauschprozess eine Analyse voran, die gerade nicht wie ein Austausch auszulegen ist. In der einfachen Warenform x Ware A = y Ware B steht kein unmittelbarer Warentausch zur Analyse an, sondern – und das ist im „x“ und „y“ eigentlich ganz offensichtlich – ein je schon rein quantitativ bestimmtes Verhältnis. Die Frage muss daher sein, warum eine solche Quantifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse überhaupt möglich ist, und mit ihr die Konstitution einer gesellschaftlichen Objektivität, die der quantifizierenden Naturwissenschaft entspricht und eine zweite, rein gesellschaftliche Natur hervorbringt. Diese Bedingung der Quantifizierung und der quantitativen Verwertung wird, so wird zu zeigen sein, durch die erste Funktion des Geldes als Maß des Werts und der Verwertung gegeben – und nicht durch seine zweite als Tauschmittel.
Marx hat das Problem im dritten Band des Kapital in einem einzigen Satz bündig zusammengefasst: „Die ganze Schwierigkeit kommt dadurch hinein, daß die Waren nicht einfach als Waren ausgetauscht werden, sondern als Produkt von Kapitalen.“ Demnach unterzieht Marx Warentausch und Warenzirkulation sogar einer doppelten Kritik. Zum einen ist dem Warentausch eine Analyse der Wertform vorangestellt, die als Notwendigkeit eines Maßes auszulegen ist und die mit dem Maß die Möglichkeit der Quantifizierung begründet. Und zum anderen wird im Anschluss an den Austausch und die Zirkulation durch die Entwicklung der Kapitalform und der Verwertung nachgewiesen, dass sich die Warenwerte und ihre Größen aus der Realisierung der Resultate eines Verwertungsprozesses ergeben – und nicht einfach aus einem geldvermittelten Austausch von Waren.
Gerade wenn der zentralen Einsicht der logischen Lesart der Wertformanalyse gemäß Wert, Arbeit und Ware immer schon als durch das Geld bestimmt dialektisch eingeholt werden müssen, dann müsste konsequenterweise wiederum das Geld, und mit dem Geld müssten die Arbeit und die Ware ebenfalls je als Kapital-bestimmt auf diese dialektische Weise eingeholt werden – ganz wie Marx das im Zuge der Entwicklung der Kapitalform und der Verwertung von Arbeit und Kapital> im Fortgang der Darstellung dann auch tut. Und das Kapital müsste wiederum vom Zusammenhang der Kapitale und vom „Gesamtkapital“ (Marx) her begriffen werden sowie von den Formen des finanziellen und fiktiven Kapitale her; diese Entwicklung geht Marx dann im zweiten und dritten Band an.
Es ginge somit um eine Geldtheorie des Werts, aber auch um eine Kapitaltheorie sowohl des Geldes als auch des Werts, d.h. beide sind von der kapitalistischen Verwertung durch Arbeit und Kapital her zu bestimmen. Das Kapital wäre schließlich von einer Theorie des GesamtKapitals sowie von den Formen und Techniken des fiktiven und finanziellen Kapitals her zu entwickeln.
Die Aufgabe nach der Neuen Marx-Lektüre
Die logisch-kategoriale Lesart der Wertformanalyse hat also einerseits mit der Notwendigkeit der Einheit von Wert- und Geldtheorie den Einstieg und geradezu den Schlüssel gefunden, um die weitere Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise auf eine logisch-kategoriale Weise zu erschließen; andererseits bleibt sie auf die Tauschmittelfunktion des Geldes und auf einen geldvermittelten Warentausch fixiert, kreist endlos um den Widerspruch von Gebrauchswert und Tauschwert und um die Notwendigkeit einer Abstraktion sowie um die Verselbständigung des Tauschwerts. Doch eine Produktionsweise, die sich durch das Prozessieren quantitativer Größen ins Verhältnis setzt und verwertet, reproduziert und ihre Produktivkraft steigert – eine solche Produktionsweise kann nicht durch eine „Tauschlogik“ und durch vermeintliche Abstraktionsvorgänge erschlossen werden. Solche Vorstellungen sind einer kapitalistischen Produktionsweise von vornherein unangemessen, deren Pointe gerade darin besteht, dass sie wie in einer Messung die zur produktiven Verwertung von Arbeit und Kapital maßgeblichen Größen ermittelt und sich durch die ermittelten Wertgrößen auf eine buchstäbliche Weise selbst angemessen wird.
Um zu verstehen, auf welche Weise die kapitalistische Produktionsweise geradezu maßgeblich wird für sich selbst, muss in die Interpretation des Kapital mit der ersten Funktion des Geldes eingestiegen werden. Wird die Analyse der Wertform statt als Genese eines Tauschmittels als „Abgeben“ eines (Wert-)Maßes ausgelegt, dann geht auch die gesamte weitere Entwicklung in eine ganz andere Richtung. Wird nämlich die Realisierung der Warenwerte als eine Messung ausgelegt, so stellt der Darstellungsgang des Kapital heraus, dass das Geld in den Waren die Resultate einer Verwertung realisiert – und eben keine bloße Austausch- und Äquivalenzrelation! Mehr noch, im Zuge dieser Realisierung werden wie in einer Messung die zur Warenproduktion notwendigen Größen ermittelt und im Geld selbst im Wortsinn heraus-gestellt. Genauer gesagt, werden diejenigen Wertgrößen ermittelt, die für die produktive Verwertung der beiden Bestandteile der Warenproduktion, Arbeit und Kapital, maßgeblich sind. Was ein Austausch- und Zirkulationsprozess zu sein scheint, ist also die gesellschaftliche Form einer ebenso bewusstlosen wie objektiven Messung. Die Warenzirkulation, von Marx formalisiert als Ware-Geld-Ware, und die Kapitalbewegung Geld-Ware-Geld’ sind als ein gesamtgesellschaftlicher Messprozess auszulegen, der wie in einer bewusstlosen Reflexion die zur Verwertung von Arbeit und Kapital maßgeblichen Größen erschließt. Dabei werden zudem durch das Geld aus der vergangenen Verwertung von Arbeit und Kapital – und das macht die dynamische Selbstbezüglichkeit der kapitalistischen Produktionsweise aus – diejenigen Größen ermittelt, die für die produktive Verwertung des Geldes selbst maßgeblich sind, also für die Verwandlung des Geldes in die Bestandteile der Warenproduktion. Und schließlich leiten sich aus der Verwertung diejenigen Größen ab, die für die Verwendung von Kreditgeld und für die Formen des finanziellen und fiktiven Kapitals maßgeblich sind und die sich mit Marx unter der Form G-G’ zusammenfassen lassen: der „Mutter aller verrückten Formen“ (Marx). Diese Formen werden von Marx zwar aus der Verwertung ebenso abgeleitet, wie sie diese Verwertung zu ihrer Bedingungen haben; sie bleiben also auf die Form G-W-G’ bezogen. (Folgerichtig behandelt Marx sie erst, nachdem er die Verwertung von Arbeit und Kapital entwickelt hat, vor allem im dritten Band des Kapital.) Andererseits gehen sie der Verwertung chronologisch ebenso voraus, wie sie die Verwertung, wenn auch indirekt, gleichsam nach sich ziehen und in Kraft setzen müssen; denn nach Marx müssen in letzter Instanz alle Formen der Geldvermehrung durch die produktive Verwertung von Arbeit und Kapital gedeckt werden – oder es stehen Prozesse der Entwertung, der Kapitalvernichtung und der Krise an.
Will die werttheoretische und wertkritische Diskussion ihre Selbstblockade überwinden, wären Wert und Verwertung also vom Geld her zu entwickeln, und zwar ausgehend vom Maß des Werts und der Verwertung. Die Hauptfunktionen des Geldes wären als Technik auszulegen; als Technik, um die Verwertung ebenso in Kraft zu setzen wie zu bewältigen. Nur durch die Funktionen, die Kreisläufe und die quantitative Bestimmung des Geldes ist die Technik gegeben, mit der produktiven Kraft der Verwertung von Arbeit und Kapital umzugehen. Diese Verwertung wäre wiederum in eine „Ökonomie der Zeit“ (Marx) zu übersetzen. Oder vielmehr sind die Geldfunktionen diese Übersetzung. Die Verwertung des Werts wird von Marx explizit als zeitliches (Selbst-)Verhältnis analysiert, nämlich als vergangene, in den Gestalten des Kapitals akkumulierte Arbeitszeit und gegenwärtige, lebendige Arbeitszeit in Gestalt der Ware Arbeitskraft. Dieses Verhältnis setzt aufseiten der Ware Arbeitskraft wiederum das Verhältnis von notwendiger und zusätzlicher Arbeitszeit in Kraft. Entscheidend für diese Ökonomie der Zeit aber sind das Maß und ihre Quantifizierung: Die kapitalistische Ökonomie unterscheidet sich radikal von allen vor- und nicht kapitalistischen Gesellschaften, weil das Quantitative ihrer Ökonomie nichts mit einer Abstraktion vom Gebrauchswertigen oder mit einer Reduktion auf das Quantitative zu tun hat, auch nichts mit einem Zählen oder Rechnen im rein mathematischen Sinne. Vielmehr resultiert das Quantitative aus der In-Wert-Setzung von Arbeit und Kapital durch die Messung der Produktivkraft ihres Verhältnisses. Und die Zeit wiederum kann nicht zum Maß der Verwertung werden und eine Ökonomie der Zeit im Verhältnis von Arbeit und Kapital in Kraft setzen, ohne dass das Geld für die Zeit einspringt und für sie eingesetzt wird, und ohne dass die Zeit durch die ökonomischen Werte je auf eine quantitative Weise eintritt und anwesend wird.
Die ermittelten Werte ergeben daher auch keine Tauschwerte und kein Äquivalenzverhältnis – das ist nur der Schein der Oberfläche der Zirkulation. Vielmehr sind aus der vergangenen Zusammensetzung der Verwertung diejenigen Durchschnittsgrößen gesellschaftlich gegenwärtig notwendiger Arbeitszeit ermittelt, die zur zukünftigen Verwertung der beiden Verwertungsbestandteile maßgeblich sind. Die Wertsubstanz wäre daher, der objektiven Arbeitswertlehre und allen substanzialistischen Vorstellungen entgegen, als zeitliches Verhältnis auszulegen. Das Wertverhältnis ist letztlich das zeitliche Selbstverhältnis der kapitalistischen Gesellschaft, verkörpert in den Gestalten von Arbeit und Kapital und buchstäblich in Kraft in ihrer „organischen Zusammensetzung“. Dieses Auslegen ist keine Aufgabe nur der Theorie und Kritik. Vielmehr ist Aufgabe der Kritik zu zeigen, auf welche Weise es das Geld ist, das durch seine Funktionen und seine Kreisläufe dieses zeitliche Selbstverhältnis im Realisieren und Übertragen von Werten sowie durch seine Verwandlung G-W-G’ auf eine ganz praktische Weise auslegt und in den ermittelten Wertgrößen expliziert.
Ich habe mich u.a. in meinem Buch Das Geld als Maß, Mittel und Methode dieser Aufgabe gewidmet.
Der Schein des Geldes
Um es noch einmal klar zu sagen: Das Problem aller Geldtheorien und das Problem der Kapitalismuskritik schlechthin ist, dass die Technik des Quantifizierens und Verwertens gesellschaftlicher Verhältnisse nicht über die Maßfunktion des Geldes bestimmt wurde. Die Technik des Messens kam mithin gar nicht erst in den Blick und wurde zum blinden Fleck der Geldtheorie und der Kapitalismuskritik.
So konnte es auch geschehen, dass die Verwertung von Arbeit und Kapital in der Weise gedacht wurde, als ob sie vom Geld durch die realisierten Werte lediglich repräsentiert würde. Das Verhältnis wurde nicht von der Technik des Geldes und seines konstitutiven Status her gedacht, sondern als ob das Geld den gesellschaftlichen Zusammenhang lediglich neutral und passiv wiedergibt, einen Zusammenhang, wie er ohne Geld wäre. Besonders schlagend und darum beispielhaft ist etwa Moishe Postones Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, wo es scheint, als würde die Arbeit unmittelbar, ohne Dazwischenkunft des Geldes, auf die Zeit bezogen und gleichsam durch die Uhrzeit gemessen – obwohl es doch das Geld ist, durch das es scheinen muss, als würde eine abstrakte, homogene Zeit als Maß der Verwertung von Arbeit und Kapital in Anspruch genommen. Und auch die Verhältnisse, die aufseiten von Arbeit und Kapital in Kraft treten, können nur durch das Geld in Wert gesetzt und quantifiziert werden und darüber der Verwertung zur übergreifenden Form werden. Kurzum, nur durch das Geld ist diejenige „Ökonomie der Zeit“ gegeben, die aufseiten der Verwertung von Arbeit und Kapital in Kraft gesetzt wird.
Genauer gesagt, ist diese Ökonomie der Zeit zwar durch das Geld gegeben. Aber sie entzieht sich einerseits ins Geld und in die Werte, die es aufseiten der Waren realisiert, überträgt und in die Gestalten von Arbeit und Kapital (zurück)verwandelt, und andererseits scheint sie, eben darum, in der Arbeit und in den Produktionsmitteln auf unmittelbare und selbständige Weise in Kraft zu sein. Erste Aufgabe für die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft wie für die Idee des Kommunismus wäre daher, diese Verschränkung eigens zum Gegenstand zu machen. Stattdessen gingen die wenigen konkreteren Entwürfe einer nicht-kapitalistischen, sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft unglücklicherweise von einer Ökonomie aus, die zwar bereits, wie es sich für eine immanente Kritik nach Marx gehört, durch das Geld bestimmt und in ein spezifisch kapitalistisches Verhältnis gesetzt und vermittelt wurde – aber ohne diese Vermitteltheit zum eigentlichen Problem zu machen. Damit ist ihnen ausgerechnet diejenige gesellschaftliche Technik entgangen, für die das Geld im Kapitalismus steht, und mit dieser Technik ist ihnen die spezifisch kapitalistische Formbestimmtheit der Gestalten entgangen, die vermeintlich von sich aus produktiv sind und die es für den Kommunismus anzueignen gilt, ja, in denen er gleichsam schon angelegt sein sollte.
Die Technik des Geldes ist nicht nur für das Bewältigen und ständige In-Kraft-Setzen der Produktivkraft entscheidend, sondern auch für das Freisetzen und ihren Ursprung, und hier lässt sich das Problem einer kommunistischen Übernahme der Produktivkraft auf den Punkt bringen. Es ist geradezu die Pointe des Marx’schen Begriffs der Produktivkraft, dass sie gerade nicht, wie gemeinhin angenommen, den Gestalten von Arbeit und Kapital entspringt. Sie entspringt im Gegenteil ihrer radikalen Trennung. Nach Marx entspringt die produktive Kraft der kapitalistischen Produktionsweise der Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln; beide werden durch die Trennung als Bestandteile einer Verwertung freigesetzt und, ineins, der Notwendigkeit der Verwertung ausgesetzt. Sie erhalten dadurch einen ganz neuen Status, nämlich den von Arbeit und Kapital. Marx besteht denn auch darauf, dass das eigentliche Resultat der Verwertung nicht die berühmte „ungeheuere Warensammlung“ ist. Das eigentliche Resultat der Produktion ist das Produktionsverhältnis selbst, also die fortgesetzte Trennung und Akkumulation von einerseits Arbeitskräften und andererseits Kapital.
Sowohl das Trennen als auch das Vermitteln von Arbeit und Kapital, beides wird durch die Geldfunktionen übernommen und steht keiner kommunistischen Aneignung und Anwendung zur Verfügung. Diese Technik des Geldes kann nicht kurzerhand angeeignet und in Eigenregie übernommen oder ersetzt werden, weder durch eine zentrale politische Planung noch durch den Gegenpol, die rätedemokratische und basisdemokratische Vernetzung und Kommunikation. Beide Varianten einer Vergesellschaftung der Produktivkräfte: entweder „von oben“, zentral über Partei und Verwaltung, Staat und Institutionen, oder basisdemokratisch dezentral „von unten“ über Räte, Vernetzung und Kommunikation – beide Varianten laufen ins Leere, weil kein sozialistischer Staat und keine politische Institution, kein Kollektiv und keine rätedemokratische Vernetzung kurzerhand auf sich nehmen oder gar ersetzen könnten, was das Geld für uns und die Gesellschaft als Ganze macht. Beide Varianten würden nur versuchen, das spezifisch kapitalistische Wesen durch die Politik zu übernehmen und irgendwie durch Planung, Bürokratie, Vernetzung, basisdemokratische Kommunikation, Absprachen usw. eine gesellschaftliche Totalität und eine produktive Kraft zu kontrollieren, zu bewältigen und auszurechnen, die unverfügbar ist. Sie sind nicht nur für den Kommunismus unverfügbar, sondern auch der jetzigen kapitalistischen Gesellschaft, denn wir befinden uns in der Verlegenheit, dass dieselbe produktive Kraft, die uns durch quantitative Größen gegeben ist und mit der wir mittels des Geldes produktiv umgehen, uns zugleich entzogen und im Geld unverfügbar gehalten ist.
So lässt sich mit Marx’ Fetischbegriff, demzufolge gesellschaftliche Verhältnisse als Werteigenschaften reflektiert werden müssen, zeigen, dass die bisherige Idee des Kommunismus noch als spezifisch kapitalistisch zu kritisieren wäre. Es bleibt eine spezifisch kapitalistische Idee des Kommunismus anzunehmen, dass die produktive Kraft in den Produzenten und Produktionsmitteln gleichsam materiell schon da sei und dass auch der produzierte Reichtum mittlerweile ausreichend vorhanden und die Produktivkraft ausreichend gesteigert sei, damit genug für alle da ist und Arbeitszeit sogar massiv gekürzt werden könnte. Wird die Möglichkeit oder gar die Reife einer anderen, kommunistischen Gesellschaft an der Produktivkraft der Arbeitskräfte einerseits und an den Produktionsmitteln und -bedingungen andererseits festgemacht, so scheint die Revolution folgerichtig in der Aneignung und der kollektiven Anwendung der Produktionsmittel und -bedingungen durch die Produzenten zu liegen. Es scheint, als müssten die vorhandenen Produktivkräfte, die Produktionsmittel und der produzierte Reichtum nur noch von ihrer kapitalistischen Form befreit und gebrauchswert- und bedürfnisorientiert zum Nutzen aller angewendet werden – obwohl sie doch gerade durch diese Form erst in ein ebenso produktives wie spezifisch kapitalistisches Verhältnis gesetzt werden und ihre produktive Bestimmung erhalten, und obwohl diese Form doch gerade ihrer Trennung entspringt.
Die bloße Übernahme der Produktionsmittel würde daher gerade nicht deren kapitalistische Bestimmung und die damit einhergehende Notwendigkeit eines produktiven Umgangs überwinden. Im Gegenteil, mit den Produktionsmitteln müsste genau das kapitalistische Produktionsverhältnis, das im Produktionsmittel in Kraft ist, übernommen werden. Das lässt sich am kapitalistischen Produktionsmittel schlechthin ausweisen: der Maschine. Die Maschine, ob industrielle physikalische Werkzeugmaschine, Haushaltsgerät oder Rechenmaschine, ist Marx zufolge nur produktiv, wenn sie in das gesellschaftliche und spezifisch kapitalistische Verhältnis der Umwandlung von notwendiger in zusätzliche Arbeitszeit eingeht, wenn sie also zur Reduzierung der Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft beiträgt und Mehrwert freisetzt. Kurz, sie ist produktiv, wenn Arbeitskräfte und Produktionsmittel quantitativ ins Verhältnis gesetzt werden und sich dadurch im Maß einer quantifizierten Zeit produktiv verwerten. Dass dieses produktive Verhältnis, das in Mensch und Maschine in Kraft ist, wiederum nur durch die Technik des Geldes übernommen werden kann, lässt sich gerade an der Produktivkraftentwicklung und am gesellschaftlichen Fortschritt ausweisen, mithin am eigentlichen Reichtum der Gesellschaft: an der Reduzierung notwendiger Arbeitszeit. Denn nur durch das Geld kann die Umwandlung von notwendiger in zusätzliche Arbeitszeit, also der Mehrwert, als solcher angeeignet und ausgebeutet werden; nur das Geld kann diejenige zusätzliche Arbeitszeit, die durch die kapitalistischen Reproduktionskreisläufe hindurch gewonnenen wird, in einem Quantum aufbewahren. Dieses Quantum muss, um erhalten zu bleiben, zwar wieder in die Gestalten der Verwertung zurückverwandelt werden; aber die ausgebeutete Arbeitszeit kann wiederum nur durch das Geld so in die Produktions- und Verwertungsbestandteile (zurück-)verwandelt werden, dass die Gesellschaft in die Erweiterung ihrer eigenen Reproduktion überführt wird.
Auch wenn die Technik des Geldes hier allenfalls angedeutet und nicht entwickelt werden konnte, wird doch hoffentlich deutlich, dass die Gesellschaftskritik es mit dieser Technik aufnehmen muss. Die Produktionsmittel und Produzenten kommunistisch zu vergesellschaften und zusammen mit ihnen die gesellschaftliche Reproduktion – das würde verlangen, es mit dem Universalismus und mit der Ökonomie der Zeit aufzunehmen, die durch das Geld gegeben ist.