Sprünge im Spiegel

von Emily Philippi

Wenn das so ist, dann möchte ich auch verrückt sein?

Wie komme ich auf die Idee, von Unica Zürn und Dietmar Dath zu erzählen? Vom Mann im Jasmin und der Abschaffung der Arten?

Mein liebes „Ich“ befindet sich momentan in dem Alter, in welchem die Schonfrist vor dem sogenannten „Ernst des Lebens“ rapide abläuft. Im Hörsaal mahnt, wie einst die Lehrerin, der nette Professor zwar noch, Schals und Mützen nicht zu vergessen, doch am Himmel der „solang’s noch geht“-hedonistischen, in letzter Sekunde nochmal faulenzenden Studentenwelt stehen längst die Drohungen, die da heißen „Brotberuf“, „Wohnsituation“, „Lebensplanung“. Da hört der Spaß dann auch auf. Ich kenne bereits die Angst, die ihren Grund nicht mehr sieht, die vorgestellte Sicherheit und die nachgestellte Unsicherheit. Ich erinnere mich noch, denn so lange ist es nicht her, wie ich das Verdrängen von Wissen gelernt habe, das Fressehalten und das Aussprechen von Dingen, die nicht gesagt sein sollten, sowie natürlich das Vereinbaren auf Biegen und Brechen. In mir richten sich die Widersprüche der Gesellschaft, in der ich lebe, ein, und aus dem von außen-innen nach innen-außen gerichteten Misstrauen entsteht die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Eine Form, das ganz Andere zu vermitteln, ist die Sprache, der Stoff ist die Erzählung. Besonders nahe ans liebe „Ich“ bzw. auf seine flatterhafte Pelle gerückt sind mir dabei Unica Zürns Erzählungen und Dietmar Daths als Roman getarntes Werk „Die Abschaffung der Arten“. Oberflächlich betrachtet, handelt Unica Zürns Schreiben von einer Person, nämlich ihr selbst, während Dietmar Daths Romane ganze Welten erzählen, von „allen“ handeln. Ich will den Linien von der Verzweiflung der Einzelnen hin zu den Menschen, wie sie sein könnten, nachgehen, und die Spuren, die hoffend oder fürchtend ins Offene weisen, zu sortieren versuchen.

Auch hier geht es um die Forderung, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

Andere Verhältnisse schaffen andere Menschen. Andere Menschen schaffen andere Verhältnisse.

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1977, sieben Jahre nach ihrem tödlichen Sprung aus einem Pariser Fenster, erscheint Unica Zürns Roman „Der Mann im Jasmin“. Der erste Satz ist ein erster Satz im wahrsten Sinne des Wortes: „In ihrem sechsten Lebensjahr führt sie ein Traum in der Nacht hinter den hohen Spiegel, der in einem Rahmen aus Mahagoniholz an der Wand ihres Zimmers hängt. Dieser Spiegel wird zu einer offenen Türe, die sie durchschreitet“ (1992: 9).

Als wäre die Herausbildung des Ästhetischen aus dem Alltagsleben für sie kein mühseliger Prozess. Stattdessen tut sie, oder sollte man sagen, „geschieht ihr“ aus dem bürgerlichen Kinderzimmer heraus ein Sprung. „Die stille Gegenwart erteilt ihr zwei Belehrungen, die sie nicht mehr vergisst: Distance. Passivität.“ (Ebd.) Sie wird nicht dahin zurückgelangen, woher sie gekommen ist.

Während Unica Zürns Sprung im Kopf geschieht und man ihr diesen bald als Sprung in der Schüssel attestiert, springt Dietmar Dath in eine Zukunft, die sein könnte. Auch „Die Abschaffung der Arten“ beginnt damit, dass zwei, die keine Menschen mehr sind, erklären, wie sich die Voraussetzungen verändert haben:

„Iz: Also, wer sind wir, wer sind die Gente? […] Was ist die eindeutigste Veränderung, seit der Befreiung, das Handgreiflichste, Deutlichste?

Cy: Die Sache mit den Gerüchen, denke ich. Der Duft. Daß das überall ist, daß wir damit auf der ganzen Welt jederzeit wissen, was andernorts geschieht.“ (2010: 11)

In der Welt der Gente gibt es nämlich keine Informationsbeschränkungen mehr. Möglich ist dies durch die Nichtlokalität der Leitfelder eines Systems, das Elektronenverschränkung zur Übertragung von Informationen nutzt. Eine Folge davon ist, dass die Menschen nicht mehr aus ein paar anderen Menschen zusammengesetzt sind, sondern jede aus jedem.

Unica Zürn schreibt ihre Krankheit. Diese Krankheit nennen nicht nur die Ärzte, auch sie selbst Schizophrenie. Der Begriff leitet sich von σχίζειν s’chizein = „zerspalten, zersplittern“ und φρήν phrēn = „Geist, Seele, Zwerchfell“ ab. Der Begriff passt ihr gut.

(An dieser Stelle ist es mir wichtig anzumerken, dass ich keinerlei Psychologenhoheit oder Deutschlehrerinnenniedertracht annehmen möchte, Unica Zürns Krankheit zu deuten. Ich weiß von ihr nicht mehr als das, was sie selbst geschrieben hat. Alles, was ich betrachte, lese ich im Text, nirgendwo sonst. Und wenn ich von Unica Zürn „persönlich“ spreche, dann meine ich die Person, die ihre Bücher darstellen.)

Gang durch die Trennung

Unica Zürn geht also ins Haus der Krankheiten, in der Erzählung und in die Psychiatrie. Da kann sie arbeiten. Sie bemächtigt sich nicht der Krankheit, aber die kann sich auch ihrer nicht bemächtigen. Es ist eher eine Vereinbarung: „Ich weiß, warum ich dieses Buch anfertige: Um länger als gebührlich krank zu sein. Ich kann jeden Tag neue leere Seiten hineinlegen, die gefüllt werden müssen, so lange werde ich krank bleiben.“

Wenn sie erzählt, dann ist es, als würde sie verschwinden. Die Teilung ermöglicht es ihr, das, wovon sie erzählt, ganz zu zeigen. Es berührt sie ja nicht. Die große Angst macht, dass sie nicht berührt wird. Und doch erzählt sie. Die Wechselbeziehung ist, dass je weniger die Schreibende vom Geschriebenen berührt wird, umso mehr das Geschriebene sich selbst berührt. Wahrheit löst Wirklichkeit kategorisch ab. Es wird keine Innenperspektive eingenommen. Meistens schreibt Unica Zürn in der dritten Person Singular. Sie versucht gar nicht erst, sich von innen zu begreifen. Distanz und Passivität. Sie ist stets die Beobachterin. Zum Beispiel des Nachbarsjungen, der ebenfalls als verrückt gilt. Entzückt bemerkt sie, wie er im Garten „die Schlüsselmusik an sein Ohr hält“, und schon löst sich die Szene wieder.

Ihre Innerlichkeit erzählt weniger von Empfindungen als von Zuständen. Als sie nach Berlin zurückkehrt, fühlt sie sich „zu allem fähig“ (1992: 19). Die Betonung liegt auf „allem“. Und die schwarze Depression charakterisiert sie als: „Ihr Geist arbeitet nicht mehr“ (1992: 57).

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Die Logik der Verrückten ist streng. Unica Zürn schildert ein Gespräch zwischen zwei Selbstmörderinnen:

„In meiner Nähmaschine wohnen zwei oder drei kleine Menschen, kleiner noch als mein Daumen, und wenn ich nähe, dann beginnen sie furchtbar zu schreien und zu weinen, denn die Nähnadel sticht durch ihre Körper hindurch […] und selbst in der Nacht werde ich wach von ihrem Weinen in der Nähmaschine. […] Ich weiß nicht, was aus mir werden soll, denn mit dem Nähen von Kleidern verdiene ich mein Brot.“

„Welch ein Problem. […] Du hörst Stimmen, das ist alles.“

„Ich weiß sehr gut, was das ist. […] Aber Stimmen hört man nur in seinem eigenen Kopf. Ich höre die Stimmen in der Nähmaschine.“

„Dann musst du dir eine neue Nähmaschine kaufen.“

„Dazu habe ich aber kein Geld.“

„Dann musst du die Nähmaschine aufschrauben und die kleinen Wesen herausholen.“

„O nein. Stell dir einmal vor, wie entsetzlich sie aussehen werden, wenn man sie herausholt – so zerstochen und blutig, wie sie sind – das zu sehen, kann man nicht ertragen.“

„Dann musst du dich eben wieder aus dem Fenster stürzen.“ (1992: 50)

Es ist das Schöne und das Tragische, dass diese Frauen, im Gegensatz zu allen nicht Verrückten, mit dem Widerspruch nicht leben können.

Es entsteht eine eigene Sprache, eine eigene Logik, ein Spiel, dessen Regeln, wenn sie einmal gekommen sind, unerbittlich sind.

Unica Zürn liebt Anagramme. So wie ihr Lebensgefährte Hans Bellmer den weiblichen Körper anagrammatisch bearbeitet – und Unica Zürn ist die Verkörperung von Bellmers Körpern –, treibt sie es mit der Sprache. Auffällig ist die Ähnlichkeit zwischen den sprachlichen und den körperlichen Vorgängen. Glieder wie Buchstaben werden zerlegt, vertauscht und neu kombiniert. Unica Zürn hofft dabei, dass eine Umordnung das Verborgene zum Vorschein bringt. Alles ist schon da, nur die Anordnung stimmt noch nicht. Oft sucht sie tagelang nach Sätzen.

In ihren Sätzen werden Körperteile geworfen, verlegt oder gehen wandern. Verhältnisse und Situationen werden umgeordnet. So oft in der Literatur ist die Stadt eine Frau, aber Unica Zürn will eine Stadt gebären. Sie schließt nicht nur von der Stadt auf die Frau, sondern kann auch mal von sich auf Berlin schließen.

In Unica Zürns Wortwelt ist der Körper mehr als ein Körper. Die Augen betreiben Gaunerei. Weibliche Augen, so schreibt sie, haben sie dazu gebracht, sich in zwei Hälften zu teilen. „Die eine Hälfte, wegen ihrer Unerfahrenheit, ihrer Neigung zum Stolpern verachtet, […] bekam es gründlich auf den Kopf. Die andere Hälfte hingegen beobachtete.“ (1997: 131) Die Distanz ist ihr Instinkt und sie erkennt in ihr eine Technik, die sich für die Zerlegungen eignet. Allerdings kann man wohl kaum sagen, dass ihre Spiele frei sind. Der Grund, auf dem sie sich befinden, ist ja, dass etwas nicht stimmt. Trotzdem versucht sie mit ihren Techniken genauer herauszufinden, was es ist.

Im Haus der Krankheiten sagt der Arzt zu ihr:

„Das ist ein Meisterschuss: Er hat Ihnen nicht das Herz im Auge durch die Brust geschossen, nein. Er hat mit seinen Schüssen die Herzen aus ihren Augen einfach herausgeblasen. […] Ich habe nicht einmal einen Knall gehört. Und Sie?“ (1997: 153)

Was ihr angetan wird, wird dem Körper getan. Vielleicht, weil es sie physisch am wenigsten berührt? Sie bewegt sich in einem Haus der Krankheiten. Und das Haus besteht aus Räumen, die körpergeteilt sind. Da gibt es das Kopfgewölbe, den Saal der Bäuche, die Busenstube und das Kabinett der Sonnengeflechte. In diesem Haus bewegt sie sich, erforscht die Räume. Was passiert im Kabinett der Sonnengeflechte, der „goldenen Mitte des Leibes, wo alles ruht, außer im Zustand der Liebe und des Bösen?“ (1997: 154)

Sie will ihr Geschlecht loswerden, um „wieder zu mir oder zu dir zu kommen“. „Wäre es gerecht zugegangen …“ So beginnen ihre Mutmaßungen über das Seinsollen. „Wäre es gerecht zugegangen“, sagt sie über eine Wittenauer Patientin, die man heute transgender nennen würde, „wäre sie als Junge auf die Welt gekommen.“ (1997: 67)

Es geht nicht. „In Wirklichkeit, in meiner Wirklichkeit habe ich mich schweigend davongemacht“, erklärt sie. „Der Körper hat es dann auszubaden.“ (1997: 137) Ihr Körper ist wie die Wirklichkeit, die sie einholt. Sie beschreibt einen eisernen Ring, der sich um ihr Gehirn legt.

Auch der Wahnsinn, der sie einholt, kommt oft instant aus der Wirklichkeit: In Wittenau schreit eine Frau in der Nacht und Unica Zürn schreibt: „Das Thema hat etwas Empörendes, etwas Grauenerregendes. […] Die Vergangenheit, die sich hinter den Mauern der Irrenanstalt Wittenau abgespielt hat.“ Die Frau erzählt, dass „die Ärzte und Wächter Verbrecher gewesen waren und sich in unerhörter Weise an den Verrückten vergangen haben“. Der ganze Krankensaal hört voller Entsetzen zu, dann wird der Frau eine Beruhigungsspritze verpasst. (Vgl. 1997: 50) Offensichtlich spricht die Frau von der Aktion T4, den 2000 aus den Wittenauer Heilanstalten deportierten und ermordeten Patienten, den Zwangssterilisierungen und dem Luminal. Zwischen 1939 und 1945 verzeichnet Wittenau 4607 Patienten mit ungeklärter Todesursache.

Nazis als Wärter in Gefängnissen und Psychiatrien, Bilder und Abbildungen von Gewalt suchen Unica Zürn immer wieder heim. Ihre schlimmsten Halluzinationen sind gar keine.

Die Teilung, das Davonmachen, ist das Wunderbare und die Teilung funktioniert nicht. Ein Knacks trennt das „schon da“. Eine Wand trennt das „noch nicht“. Sie tut etwas, das „noch gar nicht geht“. Das, was ein Roman kann, kann Unica Zürn nicht.

Ordnung der Bedeutung

Leben wie Unica Zürn, ohne verrückt zu sein. Das sollte einmal möglich sein. Und davon erzählt Dietmar Dath. Wie gut könnte ich mir Unica Zürn in der Welt der Gente denken.

Da sehen die Augen anders:

„Cy: Schau direkt in die Sonne, Deine Augen können das. Die Augen der Menschen früher konnten das nicht. […] Es wird einen besseren Ort geben […]. Ein schöneres, wahreres Zwielicht.“ (2010: 449)

Und Cordula Späth erklärt:

„Monismus, Epiphänomenalismus … Emergenz – das waren tastende Versuche gewesen, dem Problem der Verkörperung von sogenannter Intelligenz gerecht zu werden, aber immer von der fetischisierten Intelligenz her gedacht statt von der raumzeitlichen Körperlichkeit. Vom Kopf auf die Füße gestellt haben das dann die Gente … aus der richtigen Epistemologie lässt sich per Inferenz tatsächlich die richtige Ontologie schälen.“ (2010: 461)

Die Gente basieren auf der Theorie des Inferentialismus, der Auffassung, dass die Bedeutung von Ausdrücken nicht auf einer empirischen Wirklichkeit basiert, sondern im Zusammenhang eines begrifflichen Beziehungsgefüges. Somit sagt jeder Satz, wo er herkommt und wo er hinwill.

Im Falle der Gente kann auch das Bewusstsein einer Person, eine handlungsfähige Summe von Bedeutungen, das Substrat wechseln. So wie Zeichen nur eine Rolle in einer Folge von Ketten und Schlüssen spielen, gilt das auch für Information, im Besonderen für die genetische. Die Gente können ihr Erbgut modifizieren, ihre Gattung und ihr Geschlecht wechseln, Kopien ihrer selbst erstellen, die sich in unterschiedlichen künstlichen Körpern manifestieren. Es gibt keine Vorgaben, aber Begriffe bringen Begriffsgeschichte und Zukunft mit sich.

Das erinnert sehr an Unica Zürns Zerlegungen. Auch in ihrer Welt gibt es Wahrheit im Denken, wirkliche Strukturen und Vermittlungen. Doch während Unica Zürn ein Haus der Krankheiten ist, das sie, je nach Geschick, betreten und verlassen kann, ist das „Ich“ der Gente ein mnemotechnischer Gedächtnispalast.

Gemeinsam ist ihnen das nichtlokale Schauplatzsein. Und auf den persönlichen Gemeinplätzen werden Geschichten erzählt. „Jede wirklich gute Geschichte muss sehr persönlich sein und gleichzeitig subjektübergreifend“, sagt die wirklich schlaue Cordula Späth. (Ebd.)

Und wirklich denkt man, hier würden gute Geschichten zu Persönlichkeiten und Persönlichkeiten Geschichten werden. So eine Persönlichkeit kann dann auch ein purer Datenstrom oder ein Gründerschwarm gescheiter Insekten sein.

Und auch Unica Zürn ist gar nicht und ganz eine gute Geschichte. Sie unterhält sich im Spiel mit den Ärzten, die sie heilen werden, die einmal Kranke waren. Sie plaudert mit dem Implex. She waits for herself to arrive but first she has to embark, würde die Gedichtmaschine Frederick Seidel sagen.

Natürlich ist da ein Spalt zwischen Wahrheit und Wirklichkeit.

Die Widersprüche, die ihn erzeugen, können nur konkret, historisch und sozial zur Lösung gebracht werden. Einen Hinweis, wie das werden kann, gibt die exakte Schönheit der Sprache von Dietmar Dath und Unica Zürn. Begriffe, die ich längst verwende, Begriffe, die ich nicht verwende, die sich in den Geschichten neu begreifen, die können mich heute schon die Sprache, wie sie sein kann, schmecken lassen.

Wenn das so ist, dann möchte ich ein Wolf sein.

Und ich ein Rabe.

 

Literatur

Unica Zürn: Der Mann im Jasmin, Frankfurt/M., Ullstein, 1992.

Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten, Frankfurt/M., Suhrkamp, 2010.