Mieterschutz und Bodenrevolution
von Franz Schandl
Wohnen könnte man beschreiben als das regelmäßige Dasein in einer Behausung, als exklusive Verfügung von Räumlichkeiten. Es geht um ein (in doppeltem Wortsinn) festes Zuhause in einem überschaubaren und abgeschlossenen Bereich. Die Wohnung ist der Fixpunkt des Lebens. Sie ist der Raum für die meiste Zeit, wobei der Schlaf hier wiederum das größte Kontingent darstellt. Im Wohnen drückt sich aus ein mächtiges Wo, welches das Wohin stets an das Woher verweisen will. Wohnen hat was von Zurückkommen und Zusichkommen.
„In seinen Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da“, schrieb Gaston Bachelard in seiner „Poetik des Raumes“ (1957). Die Wohnung bildet den sinnlichen Lebensmittelpunkt, die permanente Anlaufstelle, ist der Ort des Niederlegens und des Aufstehens. Zentral sind das Private und das Intime. Wohnungen gleichen Schutzburgen gegen die Welt da draußen. My home is my castle.
Besseres Leben ist ohne gutes Wohnen nicht zu haben. Gutes Wohnen jedoch kostet nicht bloß Geld, es kostet immer mehr Geld. Wohnen ist keine Selbstverständlichkeit, es verwirklicht sich nur über einen Rechtstitel, einen Miet- oder Kaufvertrag. Jedes Wohnrecht ist der Zahlungspflicht untergeordnet. Das gilt übrigens auch für andere Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, Kleiden. Sie sind den ideellen Menschenrechten (Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Religionsfreiheit) nicht gleich gestellt, werden von den bürgerlichen Gesellschaften nicht garantiert, sondern haben sich über den Markt zu realisieren.
Wohnen macht erpressbar. Ungleich anderen Waren, kann man nicht einfach die Marke oder das Geschäft wechseln. Man ist nur bedingt mobil. Auch kann auf das Wohnen nicht einfach verzichtet werden wie auf ein Schlauchboot, einen Seidenschal oder ein Zeitschriftenabo. Die verzichten müssen, die Obdachlosen, gehören zu den Stigmatisierten der Gesellschaft, zu den Outcasts, den absoluten Verlierern. Die tiefe Inhumanität einer Gesellschaft dokumentiert sich an ihnen. Obdachlosigkeit ist also nicht zu verwalten sondern schlicht abzuschaffen.
Die Wohnung ist keine gewöhnliche Ware, auch wenn der Markt sie so behandeln will. Warum?
Erstens: Wohnraum ist eine Immobilie, d.h. sie ist fest an einen Ort gebunden. Somit auch ihr Erwerber, d.h. er legt sich örtlich fest. Man holt die Ware nicht zu sich, sondern sich zur Ware. Daraus ergeben sich eine Unmenge von Konsequenzen. Man denke an die vergleichsweise hohen Kosten, die bei Kauf und Anmietung anfallen (Kaufpreis, Kaution, Provision, Vergebührung, Umzugskosten, Ausfallskosten), ebenso die dafür aufgewandten Zeiten und Energien der Übersiedlungen.
Zweitens: Wohnung ist eine langfristige Entscheidung, weil ihr Konsum meist ein langfristiger sein möchte. Nicht nur der Ort ist gebunden, auch die Zeit. Die Wahl für diese oder jene Wohnung ist eine andere als für diesen oder jenen Wein, dieses oder jenes Waschmittel. Kauf und Anmietung sind somit unabhängig vom Preis eine eminente Disposition, die weit über die unmittelbare Lebenslage hinauswirkt. Wir treffen damit Verfügungen für Zeiträume, die wir gar nicht kennen. Fehlentscheidungen fallen bei Wohnungen größer ins Gewicht.
Drittens: Die Wohnung ist ein unbedingter Gebrauchswert, der das Kriterium der Unverzichtbarkeit erfüllt. Das Wohnbedürfnis ist allgemeiner Natur, man kann sich kaum aussuchen, ob man wohnen will oder nicht. Dieser Mangel ist existenziell. Diese Not kann also nicht einfach durch andere Bedürfnisse substituiert werden. Gemeinhin werden Wohnungen nicht gesucht, weil man sie will, sondern weil man sie braucht.
Mieterschutz
Ein spezifisches Mietrecht ist erforderlich, weil Mieter am freien Markt besonders unter Druck stehen. Das ist zweifellos der Fall. Sowohl vor der Anmietung als auch nach der Anmietung. Durch die Miete bleiben Käufer und Verkäufer die gesamte Mietdauer aneinander gekettet. Es ist ein ungleiches Verhältnis, dieses ist nicht solide sondern vakant. Der Interessengegensatz zwischen Mieter und Vermieter löst sich im Geschäftsabschluss nicht auf, sondern bleibt bestehen. Das (und nicht das Finanzielle) ist auch der Hauptgrund, warum jene, die es sich leisten können sich für das Eigentum oder die Genossenschaft entscheiden.
Einen „radikalen Mieterpreisschutz“, wie ihn etwa Andrej Holm zurecht fordert, den hat es in Österreich bis in die Achtzigerjahre hinein gegeben. Wien galt viele Jahre als Refugium des Mieterschutzes. Die Errungenschaften gehen freilich mehr auf die Erste als auf die Zweite Republik zurück. In der Zwischenkriegszeit betrieb das sozialdemokratische Rote Wien eine offensive Wohnbaupolitik. Die Gemeinde war sowohl Bauherr als auch Vermieter und drückte damit auch die Preise im privaten Segment. Allein zwischen 1923 und 1934 entstanden mehr als 65.000 Wohnungen. Wie der Mieterschutz hatte der Gemeindebau zurecht einen guten Ruf. Finanziert wurde dieser durch eine gesonderte kommunale Wohnbausteuer, die vor allem Reiche zur Kasse gebeten hat. Jede vierte Mietwohnung in der Stadt gehört gegenwärtig noch der Stadt. Aktuell gibt es 200.000 Gemeindewohnungen.
Für viele Jahrzehnte musste die Immobilienwirtschaft ihre Geschäfte in einer kaum lukrativen Nebenkammer der Profitwirtschaft erledigen. Die Leute zahlten wenig (insbesondere in Gemeindewohnungen), die Verweildauer war lang. Umziehen war die Ausnahme. Wenig ist von dem geblieben. Mittlerweile wurde das Mietrecht durchlöchert, aufgeweicht, ausgehöhlt. „In den letzten 35 Jahren blieb denn auch mit der Liberalisierung des Mietrechts im Wohnungssektor kein Stein auf dem anderen, sowohl den Wohnungsmarkt als auch die Stadtentwicklung betreffend. Die Mietpreise haben sich vervielfacht, der Wohnungsaufwand beträgt heute oft mehr als die Hälfte des Familieneinkommens. Die Stadt hat sich durch soziale Entflechtung und Bildung von Ausländergettos gravierend verändert. Alles im allem hat sich die Wiener Stadtstruktur durch diese Entwicklungen zum Nachteil für die Bewohner/innen geändert“, schreibt Günter Schneider von der Mieterinteressensgemeinschaft MIG.
Zwischen 2004 und 2016 wurden auch keine Gemeindebauten mehr errichtet. Aktuell fehlen kleine billige Einheiten, daher werden wohl kleine teure auf den Markt kommen. Tatsächlich ist es ja so, dass je größer Wohnungen sind, der Quadratmeterpreis eher sinkt als steigt. Wer sich 200 m² leisten kann, fährt besserer als mit 80. Doch wer kann sich das schon leisten? So werden jene am meisten abgecasht, die es sich am wenigsten leisten können. In Wien werden seit einiger Zeit mehr Wohnung geteilt als zusammengelegt. Dadurch werden sie allerdings nicht günstiger, betrachten wir den Quadratmeterpreis. Im Gegenteil, die Immobilienwirtschaft erwartet dadurch höhere Spannen. Aus der Fluktuation zieht sie extraordinäre Gewinne durch die Multiplizierung der gesetzlich garantierten Provisionen und Kautionen. Es ist auf jeden Fall so, dass auch in Österreich in den letzten Dekaden die Mieten deutlicher gestiegen sind als die Preise anderer Waren und Dienstleistungen. Wohnen ist ein Preistreiber.
War früher die durchschnittliche Verweildauer der Mieter eine meist sehr lange, so wird dies in der Zwischenzeit immer kürzer, auch aber nicht nur aufgrund befristeter Mietverträge. Die Kosten steigen auch auf dieser Ebene, bedenkt man, was so ein Umzug an Geld, Zeit und Energie erfordert. Während die Verweildauer nominell sinkt, steigt die Aufenthaltsdauer in den Wohnungen graduell an. Das hat damit zu tun, dass viele Menschen arbeitslos sind oder von zu Hause aus arbeiten (müssen). Was wiederum bedeutet, dass man neben der (bezahlten) Arbehttp://www.krisis.org/itskraft auch den Arbeitsraum und Arbeitsmaterialien zur Verfügung stellt, unbezahlt selbstverständlich. Man übernimmt oder bezuschusst selbst einen Teil der Gesamtarbeitskosten.
Bodenrevolution
In Wien möchte man diesem unseligen Trend nun gegensteuern. Die Ende November im Gemeinderat von Rot-Grün beschlossene neue Bauordnung soll zu starken Reglementierungen der Bodenpreise führen, vor allem bei Aufwidmungen zu Bauland sollen zwei Drittel der entstehenden Wohnungen für den mietzinsbegrenzten, geförderten Wohnbau reserviert werden. Funktionieren soll die Gegenrechnung so: Der Wohnbau wird von der Gemeinde gefördert, dafür darf die Miete eine gewisse Höhe nicht überschreiten. Öffentlichkeit soll Leistbarkeit garantieren.
In der Widmungskategorie „Gebiete für geförderten Wohnbau“ ist ein Quadratmeterbruttopreis von 188 Euro festgeschrieben. „Das ist in der Tat ein erheblicher Eingriff in die Marktmechanismen am Wiener Immobiliensektor“, urteilt Samuel Stuhlpfarrer in der Straßenzeitung Augustin. 4,87 Euro darf in Zukunft der Nettomietzins pro Quadratmeter ausmachen. Mit den exorbitanten Renditen auf Kosten der Mieter soll also Schluss sein. Der Anteil von sozialen Wohnungen in Bauprojekten soll wiederum zwei Drittel erreichen. Christoph Chorherr, der umtriebige Planungssprecher der Wiener Grünen, spricht gar von einer „Wiener Grund- und Bodenrevolution“.
Bodenspekulation soll eingedämmt werden. Zweifellos ist die Bodenfrage ein entscheidendes Kriterium. „Grund und Boden ist jedoch ein besonderes Gut, das nicht vermehrbar ist – mehr Nachfrage führt daher zu massiv steigenden Preisen“, heißt es in Planungsgrundlagen zur Widmung „Gebiete für geförderten Wohnbau“ der Gemeinde Wien. Im Spannungsfeld zwischen Markt und Staat ist es aktuell nur möglich (wenn überhaupt) über die Politik Wohnen sozialer zu gestalten, was meint, erträglich Mietpreise zu dekretieren und Rechte zu etablieren oder zu erhalten, sodass restriktive Übergriffe der Eigentümer und ihrer Vertreter sich in Grenzen halten. Das Arsenal der Bedrohungen ist nämlich keineswegs zu unterschätzen. Willkür und Drangsalierung seitens der sogenannten Hausherren nehmen zu.
Der Gentrifizierungsdruck ist nicht ausschließlich ökonomischer Natur. Neben den monetären sind es mentale Probleme, die insbesondere die Altmieter in ihren Wohnungen unter Druck setzen. Verursacht werden sie durch rücksichtslose Vorgangsweisen diverser Hausverwaltungen, Verweigerung und Verzögerung der den Mietern zustehenden Rechten und rigorose bauliche Eingriffe in die Objekte. Hinausekeln ist Trumpf. Auch wenn manches juristisch nicht gedeckt ist, verfehlen diese Akte offener Feindseligkeit doch nicht ihren Zweck. Wohnen wird dadurch zusehends unwirtlich. Dauernd gibt es Scherereien.
Umbauten (Verkleinerung von Wohnungen) und Aufbauten (Dachgeschosse) sind für die Bewohner eines Hauses oft extrem belastend. Ein Mitbestimmungsrecht gibt es ja nicht einmal in Ansätzen. Im äußersten Fall leben die Betroffenen viele Monate auf einer Baustelle und können bestenfalls einen Abschlag bei der Miete durchsetzen. Doch das ist nicht risikolos und gelegentlich mit Anwalts- und Gerichtskosten verbunden. Wer sich nicht wehrt, zahlt drauf, wer sich jedoch wehrt, darf Kosten, Mühen, Ärger nicht scheuen. Die Bereitschaft sich das anzutun, hält sich in Grenzen, noch dazu geht es für den Einzelnen des öfteren um nicht allzu große Beträge, etwa bei den notorischen Fehlbrechungen der Betriebskosten. Für die Eigentümer hingegen akkumulieren sich diese Posten sehr wohl zu stattlichen Summen.
Ein Problem sind aber auch die Mieter selbst, die als vereinzelte Monaden schwer zu Solidarisierung und Auseinandersetzung bewogen werden können. Sie führen maximal individuelle und sporadische Abwehrkämpfe, oft nehmen sie die Schikanen fatalistisch hin oder schlucken den Ärger hinunter. Falls sie es sich leisten können, ziehen sie aus. Mieterrevolten hat es hier schon lange keine mehr gegeben. Auch die kleine Hausbesetzerszene der Donaumetropole konnte sich nie zu einer Bewegung ausweiten. Eine kollektive Praxis in Bezug auf Mieterinteressen findet selten statt.
Gutes Wohnen darf jedoch nicht unter die Kategorie der Leistbarkeit fallen, sondern muss als gemeinsamen Bedürfnis aller Menschen artikuliert werden. Aufstand statt Rückzug wäre angesagt. „Die Reform des sozialen Wohnungsbaus ist ein großer Brocken“, sagt Andrej Holm. Wie solch ein Brocken verdaut werden kann oder auch nicht, wird man in Wien in den nächsten Jahren sehen. Inwiefern die Wiener Anstrengungen einen „Meilenstein“ (Chorherr) darstellen, wird sich weisen. Dem Markt Bewirtschaftungsmuster vorzuschreiben ist ihm jedenfalls wesensfremd, doch im Sinne der Grundbedürfnisse dringend geboten, sollen Wohnbedürftige nicht noch mehr unter die Räder kommen. Letztlich geht es aber nicht nur um die Einschränkung des Marktes, sondern darum, ihn als Allokation und Distribution von Gütern überhaupt in Frage zu stellen. Riecht das nicht nach Kommunismus? Zweifellos, aber es duftet noch viel zu wenig.