Marx und das Ende des Kapitals „wie wir es kennen“

von Knut Hüller

 

Kapital ist alles und selbst Marx ist ein Teil davon

Als Titel der Ausgabe vom 5.5.2018 fiel dem Spiegel „Geld für alle!“ ein, und zwar – wie kleiner gedruckt darüber steht – „zum 200. Geburtstag von Karl Marx“. Darunter wird – noch kleiner – ein hehres Ziel vieler fortschrittlicher (?) Bewegungen formuliert: „Wie ein besserer Kapitalismus die Welt gerechter machen kann.“ Kompakter lassen sich kaum die Kernelemente der „Politische Ökonomie“ oder „Wirtschaftswissenschaft“ genannten Ideologie zusammenfassen: Kapitalismus ist gut und Fortschritt, letzterer besteht in „mehr“, und „viel“ misst sich in Geld. Es verblüfft, wie man solches Denken mit dem Namen seines prominentesten Kritikers verbinden kann. Ähnlich verblüfft das Titelbild: es zeigt moderne Menschen beim wohligen Bad in einem Meer aus Goldmünzen und Dollarbündeln. Das lässt sich ebensogut kritisch deuten (Geld ist ein Fetisch) wie affirmativ (Geld ist Basis des Wohlbefindens).

Ein ähnliches Schwanken des „doppelten Marx“ zwischen Verbesserung (implizit Affirmation) und Fundamentalkritik der Politischen Ökonomie thematisierte die Wertkritik von Beginn an, nicht zuletzt deshalb, weil eine sich „Marxismus“ nennende Strömung völlig auf die affirmative Schiene abglitt. Der Grund ist leicht zu verstehen: jeder Kritik muss Aufarbeitung vorangehen, und jeder Schritt dazu beinhaltet die Gefahr des Abgleitens in die Affirmation. Solche Prozesse will der Artikel sichtbar machen, sowohl an heute verbreiteten Denkmustern als auch an Marx’ Analyse der Ware im „Kapital“ Band I. Fokussiert wird dabei weniger auf positive Inhalte als auf Lücken und Schwächen. Thematisch wird sehr weit ausgeholt, da sich anders eine „kategoriale“ (Robert Kurz) Kritik nicht leisten lässt. Für Vertiefung wird auf andere (längere) Publikationen des Autors verwiesen (s. Literaturangabe am Textende).

Ökonomen denken beschränkt und positiv harmonisch

Der Spiegel-Titel enthält nichts anderes als das spontane Weltbild des Lohnabhängigen: mehr Arbeit bringt mehr Geld, und mehr Geld bringt mehr nützliche Dinge. Ähnlich sieht es der Kapitalist: lässt er länger arbeiten, entstehen mehr verkäufliche Güter, also mehr Einnahmen und mehr Gewinn. Ökonomen schließen, dasselbe müsse für das Gesamtsystem gelten, und formulieren quantitative Gesetze für dessen Heil. Es fällt ihnen nicht auf, dass jedes ihrer Modelle mindestens eines der drei genannten Elemente ausklammert. Marxisten erklären den für eine Ware zu zahlenden Geldbetrag (Tauschwert) für streng proportional zur darin verkörperten Arbeitszeit (Arbeitswert); die Nützlichkeit (Gebrauchswert) spielt nur noch die (qualitative!) Rolle einer Vorbedingung. Die Proportionalsetzung entfernt faktisch noch das zweite der verbliebenen zwei Elemente Tauschwert und Arbeitswert (alias Geld und Arbeit), denn danach verhalten sich beide wie der Tauschwert in zwei Währungen. Der neoklassische Mainstream geht umgekehrt vor; er verteilt die erzeugten Warenmengen nach der Produktion gemäß einem „utility“ genannten Kriterium, eliminiert also auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene die Arbeit – bis auf die stillschweigende Unterstellung des vorherigen Stattfindens. Völlig heraus aus dieser Form der Wertbestimmug fallen Produktionsanlagen und rein industriell genutzte Rohstoffe wie exotische Metalle und gefährliche Chemikalien. Am konsequentesten agiert – ohne es bisher zu bemerken – die im 20. Jhd. entstandene „neoricardianische“ Strömung, indem sie der Preisbildung einzig und allein das Prinzip „Ausgleich der Profitraten“ zugrundelegt. Da Profit(rate) wie Preise begrifflich rein der Geldebene angehören, erhebt sie damit Marx’ Kurzbeschreibung des Kapitalismus als GG’ zum erstrebenswerten Idealbild. Immerhin lässt sich in diesem Modelltyp aber jedes beliebige Produkt behandeln, selbst die von einer Söldnertruppe aus einem Wohnhaus hergestellte Ruine. Nicht wenigen immanent kritischen (auch marxistischen) Ökonomen gilt das als Fortschritt gegenüber der Neoklassik.

Marx widerspricht solchem Denken bereits zu Beginn seiner Warenanalyse, indem er das Element „Qualität“ gleichberechtigt neben die „Quantität“ stellt (MEW 23, 49). Er leistet dem beschriebenen Denken aber auch Vorschub, indem er die als Beispiele dienenden konkreten Waren „Rock“ und „Leinwand“ immer wieder auf die Rolle von Tauschobjekten beschränkt, und „die“ (jede?) Ware einem „Warenhüter“ zuordnet, der als ihr Agent fungiert (MEW 23, 99ff.). Formulierungen wie „Jeder Warenbesitzer will seine Ware …“ (MEW 23, 101) sind deutbar als Keimzelle eines methodologischen Individualismus der Waren, der sich zum spontanen methodologischen Individualismus der Subjekte gesellt. Der Marxismus sieht bis heute „den Wert“ Einzelware für Einzelware im Einzelbetrieb entstehen und verknüpft die dort lokal geleistete Arbeit direkt mit dessen Erlös und Gewinn. Konsequenterweise sollte dann der Kapitalismus als Anhäufung von Einzelkapitalen behandelbar sein, von denen ein „repräsentatives“ (oder jedes?) alle Eigenschaften des Gesamtsystems bereits in sich enthält. Unter Berufung auf eine „von Marx gewählte Abstraktionsebene“ gelang dieser (Fort-?)Schritt schließlich Michael Heinrich. (Vgl.: M. Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, 3. korr. Auflage Münster 2003, S. 330ff., wörtliches Zitat S. 339) Marx’ Ausführungen über „Vergesellschaftung“ überlas er wohl.

Einen anderen Ausfluss desselben „multiplen methodologischen Individualismus“ stellt die endlose Debatte in marxistischen und verwandten Strömungen um den Begriff der „produktiven Arbeit“ dar. Oft wird Dienstleistungen und geistiger Arbeit abgestritten, Wert zu bilden bzw. zu enthalten, und letzteres auf „anfassbare“ Produkte wie Leinwand und Rock begrenzt. Dabei gibt es simple, von der konkreten Form einer Ware völlig unabhängige Kriterien dafür, ob sie Wert verkörpert:

1) ihre Ersteller reproduzieren sich über Lohnarbeitsverhältnisse (zwingend über ein eigenes?)

2) sie wird gegen Geld profitabel auf dem Markt verkauft (und gekauft!)

3v) sie trägt zur Reproduktion der Arbeitskraft bei oder

3c) sie trägt zu einer anderen Produktion bei oder

3m) sie trägt zur Weiterentwicklung des Produktionssystems bei

Man erkennt unter 1 das Element „Arbeit“ aus Marx’ Wertbegriff, unter 2 das Element „Tauschwert“ und unter 3 die klassischen Formen der Warenzirkulation: variables Kapital, konstantes Kapital und (Investition von) Mehrprodukt. Ein Konzertbesuch kann wie ein Lebensmittel die Kriterien 1, 2 und 3v erfüllen, ein Ingenieurgutachten wie ein Werkzeug die Kriterien 1, 2 und 3c bzw. (alternativ) 1, 2 und 3m. Nichts rechtfertigt dann noch eine Unterscheidung zwischen physisch fassbarer und „immaterieller“ Ware (die Behandlung immaterieller Luxusprodukte wird als Übungsaufgabe gestellt).

Gibt es den marxistischen Arbeitswert?

Indem man per Stechuhr Arbeitsstunden erfasst und sie durch die physische Produktmenge teilt, erhält man die in einer physischen Einheit verkörperte Arbeitszeit. Was könnte einfacher sein? Aber welche Warenmenge entsteht aus welcher Arbeit? Betrachten wir ein Heizkraftwerk. Welcher Teil der dortigen Arbeit wird für Strom geleistet und welcher für Heizwärme? Ökonomen mit Zugriff auf ein Physiklehrbuch könnten auf die Idee kommen, beides in kWh zu beziffern, und die Arbeit proportional zum Energieinhalt zuzuordnen. Scheitern würde dies aber schon an der Abwärme eines Hochofens: wie drückt man Eisen in kWh aus oder (Ab-)Wärme in Tonnen? Auch bei materiell fassbaren Gütern lassen sich unlösbare Beispiele finden. 25t tragende LKW liefern aus einem Industriedistrikt Armierungsstahl für Beton und Schaumstoff zur Gebäudeisolierung in ein Neubaugebiet. Sie werden mit 24t Stahl beladen, bevor der verbleibende (Groß-)Teil des Laderaums mit 1t Schaumstoff aufgefüllt wird. Marxist A lässt beim Laden wiegen und schließt, es werde zu 24/25 (oder 96 %) für Eisen gefahren und zu unbedeutenden 4 % für Schaumstoff. In diesem Verhältnis verteilt er Fahrerarbeitszeit, Diesel und Fahrzeugverschleiß auf beide Produkte. Marxist B verfügt am Fahrtziel nur über einen Zollstock, mit dem er abgeladene Eisen- und Schaumstoffhaufen vermisst. Er findet 3cbm Stahl pro 72cbm Schaumstoff und schließt, die Transportarbeit werde zu 96 % für Schaumstoff erbracht und zu 4 % für Eisen. Die von A und B gegründeten ökonomischen Schulen würden bis heute streiten, wäre die Sowjetwirtschaft nicht längst aus anderen (?) Gründen kollabiert.

Gemeinsam ist allen Beispielen das Entstehen von (mindestens) zwei Produkten aus demselben Arbeitsvorgang, in bürgerlicher Ökonomie „Kuppelproduktion“ genannt. Damit erscheint der Prozess der Vergesellschaftung auf eine Weise, die im quantitativen Marxismus ignoriert wird. Mittels der Begriffe des variablen und konstanten Kapitals kann er zwar mehrere Arbeiten einer Ware zuordnen, nicht aber mehrere Waren einem Arbeitsvorgang. Welche Reduktion des Menschen dieser Ausschluss ausführt, zeigt sich an komplexen Formen der Arbeit. Bei geistiger Arbeit ist oft schon nicht feststellbar, wo überhaupt eine Idee einfließt. Bei schöpferischer Tätigkeit (Arbeit?) wird der quantitative Arbeitswertbegriff noch sinnloser, denn kein Erfinder erfindet in doppelter Laborzeit das doppelte, und schon gar nicht erfindet er zweimal dasselbe.

Bürgerliche Ökonomen haben zwar wenig Verständnis für den Kapitalismus, aber ein umso feineres Gespür für Schwächen der Marxisten. Ian Steedman hielt ihnen Systeme mit Kuppelproduktion vor, in denen bei marxistischer Handhabung des Arbeitswertbegriffs der Wert einer Maschine während ihrer Nutzung steigt statt fällt, sowie andere, in denen er zwar wie erwartet fällt, aber bis zu „ökonomisch unsinnigen“ negativen Zahlenwerten (Ian Steedman, Marx after Sraffa, London 1977). Die Marxisten konnten dem bis heute nichts entgegensetzen, weil sie sich dazu von der Vorstellung des zahlenmäßig eindeutigen Werts jeder Einzelware hätten lösen müssen. So fiel ihnen auch nicht die sich hier anbietende Retourkutsche ein: die Konstruktion von Systemen, in denen das von Steedmans neoricardianischer Schule vertretene „Gesetz“ des Profitratenausgleichs einen negativen Preis der Maschine erzwingt. Aus jeder Marxismuswiderlegung des Steedmanschen Typs lässt sich mit einem simplen und eindeutigen Verfahren eine solche Widerlegung des Neoricardianismus erzeugen. Das Verfahren kann hier nicht vorgeführt werden, wohl aber seine logische Basis. Laut klassischer Ökonomie entsteht der Profitratenausgleich, indem Kapital aus niedrig profitablen Branchen abgezogen wird. Dies senkt das Angebot und steigert den Preis der Ware, mit ihm die Rendite der Branche. Das Kapital fließt in hochprofitable Branchen, wo es das Gegenteil bewirkt. Dieser Mechanismus setzt voraus, dass die Produktion der betreffenden Waren unabhängig voneinander regulierbar ist. Soll er für alle Waren funktionieren, muss das für alle Waren gelten, d.h. eine einzige Kuppelproduktion wirft ihn bereits auf der logischen Ebene über den Haufen. Der Rest ist simples Rechnen mit den „richtigen“ Zahlen.

Der sich u.a. in der Zunahme von Kuppelproduktion zeigende Vergesellschaftungsprozess unterminiert so in einem Zug mehrere zentrale Begriffe der klassischen Ökonomie. Ökonomische Einzelbegriffe wie Lehrsysteme enthalten als Bestandteile des Kapitalismus dessen Verfallstendenz. Zu beachten ist dies auch bei der Lektüre von Marx’ Werk – und noch mehr bei seiner Exegese.

Gibt es „physische Mengen“?

Neben Arbeit und „Nutzen“ führen Ökonomen – insbes. neoricardianische – auch sogenannte „physische Mengen“ als Quellen des Werts an. Da sich Ökonomie im Wesentlichen mit Größenvergleichen befasst, insbes. mit der Rendite r (Profit/Kapital) bzw. dem Verhältnis 1+r (Output/Input) wäre als erstes zu klären, wie man die Größe zweier „physischer Mengen“ vergleicht. Marx erwähnt u.a. den verblüffenden (?) Umstand, dass so verschiedene Dinge wie ein Stück Eisen und ein Zuckerhut hinsichtlich ihrer Masse „gleich“ sein können (MEW 23, 71). Wie können sie einerseits „gleich“ und andererseits „verschieden“ sein? Gleich können sie sein, weil das Wiegen von allen anderen Eigenschaften als der Masse abstrahiert, und verschieden sind sie, weil sie mindestens eine weitere Eigenschaft besitzen, hinsichtlich derer sie dann „nicht gleich“ sind, wenn sie hinsichtlich ihrer Masse „gleich“ sind. Erst durch diese Vielfalt lassen sich Stoffe (Plural!) unterscheiden und wird die Kategorie „Stoff“ sinnvoll. Die Verschiedenheit kann rein qualitativer Art sein. Dem Eisen fehlt gänzlich ein „Nährwert“ und dem Zucker das (im Eisen zur Masse proportionale) spontane magnetische Moment. Sie kann aber auch quantifizierbar sein. Eisen und Schaumstoff besitzen sowohl „Masse“ als auch „Volumen“, aber in stark unterschiedlichem Verhältnis. Deswegen „sinkt“ Eisen, während Schaumstoff „schwimmt“. In diesem speziellen Zusammenhang ist die „spezifisches Gewicht“ genannte Kombination beider Eigenschaften wesentlich, eine einzelne hat keine Bedeutung. Mit genügend vielen kg oder Liter Eisen lässt sich alles versenken – aber genau das Gegenteil bewirken genügend viele kg oder Liter Schaumstoff.

Marx’ Formulierung von der Arbeit als der Substanz des Werts muss deswegen im logischen Sinn verstanden werden, nicht als Gleichmacherei, auch nicht in der scheinbar schwachen Form der Proportionalsetzung. Da es neben Tauschwert und Arbeit keine weitere allen Waren zwingend zukommende Eigenschaft gibt, führt das quantitativ-marxistische Herangehen direkt in die höchste Form der Substanzlosigkeit: es gibt nur noch eine einzige Eigenschaft und damit faktisch eine einzige bzw. gar keine Substanz, das (pseudo)natürliche Gegenstück zum perfekten Warensubjekt. Die (scheinbare) marxistische Harmonisierung von Arbeit und Tauschwert versperrt insbesondere jede Einsicht in Prozesse, wo beides sich real trennt und damit den klassischen Kapitalbegriff auflöst, wie sich in der Eine-Substanz-Welt der Substanzbegriff auflöst. Beispiele sind die im Finanzwesen stattfindende Wertaneignung ohne direkt damit verbundene Wertproduktion sowie diverse, bereits im industriellen Bereich mögliche destruktive (Wert vernichtende) Formen der Arbeit, die mittlerweile bis zu kommerzieller Kriegsführung reichen.

Was ist eigentlich das paradoxe „konstante“ Kapital?

Zentral in aller Politischen Ökonomie ist die Fiktion vom gerechten Tausch. Auch Marx springt sofort nach der Einführung „der Ware“ anhand der Beispiele „Rock“ und „Leinwand“ in die Thematik des Austauschs beider. Dabei spielt Tausch allenfalls in Subsistenzwirtschaften eine nennenswerte Rolle. Im Kapitalismus wird Ware gegen Geld und Geld gegen Ware gehandelt, so dass dem Geld eine (in der Ideologie des Austauschs von Gebrauchswerten geflissentlich ignorierte) eigenständige Rolle zukommen muss. Ein beliebter, auch von Marx „der Vereinfachung halber“ (MEW 23, 109) eingeschlagener Weg zum Überspielen dieser Frage ist die Einführung des „Wertstandards Gold“. Indem Gold je nach Bedarf als allgemeines Äquivalent oder als gewöhnliche Ware angesehen wird, lässt sich die Frage nach Rolle und Besonderheiten des Geldes umgehen.

Anders als Adam Smith’ Beispiel von Hirsch- und Biberfell enthält Marx’ Warenpaar „Rock und Leinwand“ aber einen Ansatzpunkt, die Tauschideologie aufzubrechen. Die Felle können zumindest noch im Hirn ausgetauscht werden, nämlich bei der Wahl, was man erwerben möchte. Dasselbe gilt zwischen Rock und Weste, kaum aber zwischen Rock und Leinwand. Es gibt sogar Leinwand, die aus rein physikalischen Gründen nie gegen den Rock getauscht werden kann, nämlich diejenige, woraus der Rock gefertigt wird. Solange es diese Leinwand gibt, gibt es keinen Rock, und sobald der Rock vorhanden ist, ist die Leinwand verschwunden.

Der Rockfabrikant kann zwar zwischen verschiedenen Lieferanten wählen, aber nach dieser Wahl besteht zwischen beiden eine durch die Art der Waren fixierte technisch/physische Beziehung: die Leinwand fungiert in der Rockfabrikation als konstantes Kapital. Während die Geldumsätze mit dieser Warenkategorie diejenigen mit Endprodukten (Röcke) längst um ein Vielfaches übersteigen, behandeln Ökonomen sie immer noch bevorzugt auf physischer Ebene, z.B. durch die Darstellung als produktivitätssteigernde Maschinerie. Es ist deswegen lehrreich, sie durch eine simple Operation verschwinden zu lassen: Weben und Schneidern erfolge in einer Firma. Es gibt keinen Grund, weshalb sich dann die (konkrete wie abstrakte) Arbeit vom alternativen Fall der separaten Weberei und Schneiderei unterscheiden sollte, so dass in reiner Form Effekte der Geldebene erscheinen sollten. In beiden Fällen sollen 10 Arbeiter tätig sein, jeder 10 Taler erhalten, und 10 Röcke entstehen, die für eine noch unbekannte Anzahl e (für: Endprodukt) Taler über die Theke gehen. Ökonomisch: der Rockfabrikant schießt 100T variables Kapital vor und erzielt bei Erlösen von e einen Gewinn von e-100T. Was könnte nach Abtrennung einer Weberei von der Schneiderei beide daran hindern, diesen Erfolg nachzuvollziehen?

Nehmen wir als einfachsten Fall an, pro Rock reiche genau eine Leinwand, und es werde je die Hälfte der Arbeitskräfte für Weben und Schneidern benötigt. Über den Tauschwert der (gesamten!) Leinwand sagt dies nichts aus; wir nennen ihn vorläufig c und erhalten:

Bilanz der Weberei: Lohnkosten 50T, Einnahmen c, Gewinn c-50T

Bilanz der Schneiderei: Lohnkosten 50T, Leinwandkosten c, Einnahmen e, Gewinn e-50T-c

Der Gesamtgewinn beider Firmen (Summe der Einzelgewinne) folgt als c-50T+e-50T-c=e-100T, dasselbe Ergebnis wie zuvor in der vereinigten Firma. Das wundert den klassischen Ökonomen noch nicht, denn es wurde weder an der Arbeit noch an den Löhnen noch an Warenpreisen oder Warensorten etwas geändert. Halt: Letzteres stimmt nicht, und das verblüfft den Ökonomen. Mit dem Ankauf von Tuch erscheint eine neue Warensorte (nicht aber eine neue Sorte Dinge!), und mit ihr eine Zahlung im Umfang c, die es zuvor nicht gab. Um c hat sich das Gesamtkapital (die vorzuschießenden Kosten) erhöht, wie sich zeigt, sobald man den Beitrag 50T der Weberei zum Beitrag 50T+c der Schneiderei addiert. Gleicher Gewinn bei vergrößertem Kapital bewirkt eine Minderung der Rendite, hier der Gesamtrendite, definiert als Summe aller Einzelgewinne dividiert durch die Summe aller Kapitalvorschüsse. Obwohl diese Größe nirgends in betriebswirtschaftlichen Rechnungen erscheint, setzt sie den betrieblichen Renditen Grenzen, da nie alle Einzelkapitale eine größere (und ebensowenig alle eine kleinere) Rendite erzielen können als die Gesamtrendite. Dies stellt Heinrichs Ansatz vom Kopf auf die Füße: die Gesamtrendite setzt den Einzelrenditen Grenzen, statt dass sie aus Eigenschaften eines „repräsentativen Einzelkapitals“ abgeleitet werden kann. Die Gesamtrendite ist stets kleiner als die Ausbeutungsrate M/V, wobei M den Anteil der Lohnarbeiter und V den Anteil der Kapitale am Gesamt-Endprodukt darstellt. Nicht der Preis von Gold oder irgendeiner anderen gewöhnlichen Ware ist als Fixpunkt der Rechnung(en) zu behandeln, sondern derjenige der Arbeitskraft.

Geld ist (Verrechnungs-)Zwang und konstantes Kapital ist Kampfplatz

Ökonomen würden nun Gesetze für Rock- und Leinwandpreis und damit für die Geldbeträge e und c suchen. Wir verzichten auf solche Verfeinerungen und betrachten die Röcke als das Gesamt-Endprodukt eines kapitalistischen Systems, die mit c bezahlte Leinwand als allereinfachste Form konstanten Kapitals, und stellen als erstes die (qualitative) Frage, warum es den Geldfluss c überhaupt gibt. Er existiert, weil die Weberei ihre Kosten an die Schneiderei durchberechnen muss. Daraus folgt sofort der Mindestumfang des c: die Höhe der Lohnkosten oder das variable Kapital der Weberei. So viel muss sie mindestens von der Schneiderei verlangen, d.h. das von der Weberei vorgeschossene variable Kapital muss die Schneiderei erneut vorschießen, nun als konstantes Kapital c. Auf der Geldebene stellt konstantes Kapital daher einen mehrfachen Vorschuss variablen Kapitals dar. Die Vervielfachung ist tendenziell unbegrenzt, weil dasselbe für die Aufteilung der Arbeit gilt. Hieraus entsteht die Fähigkeit des konstanten Kapitals zu unbegrenztem Anwachsen – und die zugehörige Tendenz zum Fall der Profitrate. Als nächsten Schritt könnte man aus der Weberei einen Baumwollanbau ausgliedern. Der dort gezahlte Lohn müsste dann insgesamt dreimal vorgeschossen werden, um letztendlich die Röcke fertigzustellen, das erste Mal als variables Kapital und dann noch zweimal als konstantes.

Auf der Arbeitsebene dagegen ist konstantes Kapital eine Etappe auf dem Weg zum Endprodukt, und auf der physischen Ebene, wo Ökonomen bevorzugt agieren, steht es für eine von vielen möglichen Organisationsformen. Es ist offensichtlich, dass jeder Versuch einer Harmonisierung der drei Ebenen ins Absurde führen muss, beginnend mit den „Wertgesetzen“ der Ökonomen. Es lassen sich aber logische Grenzen der Preisbildung finden. Im obigen Beispiel muss c mindestens 50T betragen, da sonst die Weberei pleite wäre. Bei c=50T erzielt sie noch keinen Profit; dafür ist derjenige der Schneiderei maximal in Höhe von e-50T-50T, derselbe Gewinn, den der vereinigte Betrieb erzielt. Steigt c über 50T, fällt ein (größerer) Teil des im Gesamtprozess erzielten Mehrwerts der Weberei zu, während der Anteil der Schneiderei sinkt. Erreicht c den Zahlenwert e-50T, bleibt der Schneiderei nichts mehr, und die Weberei streicht den Gesamtgewinn e-100T des Systems ein. Letzterer ändert sich im Verlauf der Prozedur nicht.

Bemerkenswert ist hier, dass über den Preis der Güter des konstanten Kapitals Mehrwert zwischen den Kapitalen verteilt wird, und dass diese Verteilung sich ändern kann, ohne dass sich etwas an der Arbeit und der physischen Gestalt der Güter ändert. Der Marxismus akzeptiert dies ohne weiteres beim Preis der Arbeitskraft. Er wird abhängig gemacht vom Aufwand für ihre Reproduktion, der ein gesellschaftliches (Marx: „moralisches“) Element beinhaltet, also (neuökonomisch formuliert) „sehr flexibel“ ist. Erreicht die Lohnsumme (Tauschwert der Gesamtarbeitskraft) den Tauschwert des Gesamt-Endprodukts, besteht letzteres vollständig aus variablem Kapital V; ist die Lohnsumme niedriger, zerfällt es in einen Anteil V der Lohnarbeiter und einen Anteil M der Kapitale. Offen ist an dieser Stelle noch, welches Kapital sich welchen Anteil von M aneignet. Dies regelt die Preisbildung der Güter des konstanten Kapitals. Die dort auszutragenden Interessenkonflikte sind völlig analog zum Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital. Warum versteift der Marxismus sich an dieser Stelle auf „objektive“ Gesetze für die Bildung der Warenpreise? Weil er den Kapitalismus als eine auf quasi-naturgesetzlicher Grundlage funktionierende Maschine sehen will statt als einen permanenten Kampf aller gegen alle?

Genese des Finanzwesens

Ein quantitatives Wertgesetz wurde bisher auch deshalb nicht angewandt, weil es ein Problem gibt, das keines lösen kann. Für das Endprodukt – die Röcke – steht bisher nur die Kaufkraft der Lohnarbeiter in Höhe von 100T zur Verfügung. Ein vollständiger Verkauf ist also nur bei einem Rockpreis von 10T/Stück bzw. e=100T möglich, was den Gesamtgewinn des Systems auf null senkt. Überleben kann es dann nur, wenn beide Firmen mit der Rendite null agieren; dies erzwingt c=50T. Marxisten wie Neoricardianer erzielen in diesem Spezialfall der „physisch einfachen Reproduktion“ übereinstimmend die genannten Zahlenwerte für e und c, weil der Spezialfall des allgemeinen Nullprofits so wenig mit realem Kapitalismus zu tun hat wie ihre Theorien (aus demselben Grund ist er auch bei Vertretern anderer ökonomischer Richtungen beliebt).

Aber wie kann das reale System Mehrwert realisieren, beispielsweise bei einer Gesamtlohnsumme von 100T die Röcke zu insgesamt 110T verkaufen (die Gesamtrendite wäre dann 10 %)? Man muss hierzu nur den Prozess der physischen Aneignung des Mehrprodukts bzw. Mehrwerts spiegeln. Er beinhaltet – entgegen der Tauschideologie – einen Warenzufluss an die (Gesamtheit der) Kapitale ohne geldliche Gegenleistung von deren Seite. Also benötigt der Verkauf der Mehr-Röcke einen Akteur, dem Geld zufließt, ohne dass er dafür Waren liefern muss. Irgendwo muss Geld geschöpft (vulgärökonomisch: „gedruckt“) werden. Um diesen Prozess und die in ihm enthaltenen Widersprüche näher zu analysieren, fehlt hier der Raum, aber seine Verselbständigung in Gestalt eines „Finanzwesens“ ist mittlerweile von niemandem mehr zu übersehen.

Angelegt ist die Verselbständigung des Finanzwesens bereits darin, dass der Handel mit konstantem Kapital Wert-Umverteilungen zustandebringt, ohne dass parallel Veränderungen an Arbeit oder Physis der Ware nötig sind. Dann sollte sich auch Wert zuteilen lassen, ohne dass Arbeit und physische Ware überhaupt beteiligt sind. Arbeit erklärt zwar den nackten Fakt der Existenz von Ware und Wert, nicht aber deren Verteilung, im Fall des Mehrprodukts beginnend mit der einmal notwendigen unbezahlten Aneignung. Die Verteilung besorgt das Geldwesen und zwar logisch in zwei Stufen: die Relation zwischen Wert der Gesamtarbeitskraft und Wert des Gesamt-Endprodukts verteilt die Endproduktmenge V+M zwischen Arbeit und Kapital, die Preise der c-Güter bewirken die Feinverteilung des M unter die Kapitale.

Ökonomen, die im Kapitalismus den harmonischen Dreiklang von Arbeit, Geld und physischer Ware suchen, müssen die dabei entstehenden Konflikte ausblenden. Daraus entsteht u.a. die Charaktermaske des „guten industriellen“ Kapitalisten, der Mehrwert nicht nur aneignet, sondern auch an seiner Entstehung mitwirkt. Kapitalistisch ist es allerdings höchst irrational, Aufwand für die Produktion von Ware zu treiben, wenn man sich Mehrwert ohne dies aneignen kann. In diesem Sinne ist das Finanzkapital fortgeschrittener als das Industriekapital. Das Ansinnen, es möge „der Realwirtschaft mehr abgeben“, passt etwa so gut in die Systemlogik, wie von klassischer Industrie eine allgemeine Lohnerhöhung zu erwarten.

Resumée

Der kurze Streifzug durch einige verhärtete ökonomische Denkfiguren stieß immer wieder darauf, dass sich erst in einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung sinnvolle Erkenntnis gewinnen lässt. Im Gegensatz zur Ökonomie, die kapitalistische Gesamtsysteme aus Einzelsubjekten zusammenbauen will, ist vom Fixum Gesamtarbeit auszugehen und zu untersuchen, welche Folgen dessen Teilung in Einzelarbeiten hat. Das reale System verfolgt beide Tendenzen gleichzeitig; die Arbeitsteilung erzeugt immer mehr Warensorten, macht zugleich aber durch das Wachsen des konstanten Kapitals immer mehr Produktionsprozesse voneinander abhängig. Dies hebt die Produktion des Werts auf die gesamtwirtschaftliche Ebene, ein wichtiger Unterschied gegenüber einfacher Warenproduktion. Bereits diesen Schritt kann die Ökonomie kaum noch nachvollziehen, und endgültig scheitern ihre Vertreter an der Verselbständigung des Finanzwesens, welche die Mehrwertaneignung auf dieselbe Ebene hebt. Nächster Vergesellschaftungsschritt müsste die Aufhebung der Warenwirtschaft sein.

Literatur

Knut Hüller: Kapital als Fiktion (Paperback Hamburg 2015)

ders.: Immer mühsamer hält sich die Profitrate (demnächst im Internet)