Ist das Ich ein Ich oder tut es nur so?
von Franz Schandl
Das Ich ist nicht einfach gegeben. Das von uns beobachtete Exponat ist kein mündiges Exempel oder dergleichen, auch wenn viele es zum Egoisten oder zum Eigenbrötler bringen und sich einbilden, gerade hier ihr Ich gefunden zu haben. Gefunden wurden allerdings nur Rolle und Maske. Nicht mit Individuen haben wir es zu tun, sondern mit Subjekten, d.h. systemisch zugerichteten Domestiken.
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Die Frage, die das bürgerliche Subjekt sich zu stellen hat, ist nicht die Frage nach dem Ich, sondern die nach seiner Positionierung im gesellschaftlichen Getriebe. Also nicht: Wer bin ich?, sondern: Was bin ich?, bzw. umgekehrt: Was machst du? Wir fragen uns wechselseitig nach den Masken und wir erhalten dementsprechende Auskünfte. Die essenzielle Frage Wer bist du? erscheint im alltäglichen Zusammenhang als geradezu unverschämt, als Eingriff in die Intimität. Sie wirkt impertinent. Da wird einem tatsächlich zu nahe getreten.
Die Genügsamkeit, an das verdinglichte Was zu appellieren und das individuelle Wer einfach auszublenden, ist Konvention. Auftreten meint nicht bloß Präsenz, sondern Präsentation. Begegnungen sind keine profanen Erlebnisse, sondern Szenen mit verteilten Rollen. Dass es um Rollen zu gehen hat, steht dabei außer Zweifel. Es gilt, sich aufgrund von Positionen zu bestimmen und für deren Interessen einzutreten. Sämtliche Leben geraten in den Malstrom der Performance.
Das bedeutet nun gar nicht, dass eins auch immer mit seiner Rolle zufrieden wäre. Im Gegenteil, man strebt nach Rollen, die eine höhere Wertigkeit als die aktuelle aufweisen. Das nennt sich Karriere. Gemeinhin soll der Beruf als Berufung angesehen werden. Er ist der Ruf, dem man zu folgen hat. Verlangt wird Identifizierung. Man hat nicht nur eine Aufgabe zu erfüllen und deren Standpunkt einzunehmen, man hat sich subjektiv dazu zu bekennen.
Man ist, was man ist. Wenn es dann heißt, jemand sei in seinem Beruf aufgegangen, ist aus der Identifizierung eine Überidentifizierung geworden. Das abgedankte Ich wird hier sogar noch glorifiziert, keinesfalls bedauert oder beklagt. Es ist das vom Posten verschluckte Leben, das gepriesen wird. Auch in unseren Kontakten treten wir uns als Vertreter gegenüber, wir treffen uns nicht.
„Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ (Adorno) Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die egomanische Ichversessenheit als krude Ichvergessenheit. Wird das Ich axiomatisch, hat es sich bereits aufgegeben. Prototypisch geschieht dies durch die blindwütige Ausrufung und frenetische Anrufung des freien Willens.
Je schwächer das Ich, desto stärker die Idealisierung von Objekten. Wer nicht an sich glaubt, muss an etwas anderes glauben. Das machtlose Ich schreit nicht nach Erhebung, es lechzt nach Führung. Es will gar nicht raus, es will rangenommen werden: Pflicht und Tugend, Ehre und Vaterland, Leistung und Karriere, Arbeit und Werte. Das ist doch was! Der elende Sermon der Unterwerfung wird da angeleiert und abgefeiert. Ein spezifisches Potpourri diverser Kotzbrocken zeichnet die Singularität des jeweiligen Exemplars aus. Und es will auch aufschauen können, zu den Helden, Promis und Stars, zu den Persönlichkeiten schlechthin. Diese unermüdliche Anbetung hat gerade die spürbare Nichtigkeit des Selbst zur Prämisse. Was es in sich nicht spürt, aber spüren möchte, projiziert es in Leitfiguren, zu denen es aufblicken will. Fix ist die Fixierung, die eine fetischistische ist.
Jede potenzielle Stärke des Ich negiert sich in der Personalisierung durch Außersichsetzung in Anderem. Die misslingende Selbstliebe des Ich wird systematisch ausgelagert. Das Subjekt ist zu beschreiben als das atomisierte und uniformierte Wesen. Es ist sich allein, aber es sind ihrer viele. Der Wahn hat den Traum substituiert. Und der ist kein Spiel, sondern Ernst.
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Es ist immer wieder dasselbe: Befreiung wird nicht als ständige Aufgabe, sondern Freiheit als solide Grundlage angenommen. Das Ich ist jedoch ein Trugbild, dessen wir bedürfen, eine Selbsttäuschung, die wir nötig haben, eine Bürg(er)schaft, der wir uns versichern. So die Gesetze der Matrix. Im vorausgesetzten Ich ersetzt das Projektive das Reflexive. Als Zumutung empfindet das Subjekt, wenn ihm das Ich abgesprochen wird, denn in seinem Ichwahn wird dieses als konstitutiv und konsolidiert angesehen. Derlei Kritik muss scharf und schroff zurückgewiesen werden. Einwürfe dieser Art werden als persönliche Angriffe gewertet, nicht als sensible Einwände betrachtet.
Das Passiv des bürgerlichen Subjekts hat als Aktiv eines menschlichen Individuums zu erscheinen. Das Wesen des Reaktiven wird aktuell übersetzt als Initiative und Autonomie. Indes, die meisten Entscheidungen, die wir fällen, die fallen uns schon vorab zu oder noch schlimmer: über uns her. Der freie Wille ratifiziert und erhöht sodann diese Willigkeit. Der Raum, den man vielleicht haben könnte, wird gelegentlich verwechselt mit einem Posten, den man hat. An unsere Freiheit nicht zu glauben, fällt uns allerdings schwer. Doch diese Illusion sollten wir uns partout nicht gönnen, sie ist Kennzeichen von Selbstaufgabe und Affirmation. Der Ichwahn ist allgegenwärtig. Größenwahn und Kleinheitswahn sind seine Ausgeburten. Doch bloß wenn das Ich seine chronische Nichtung begreift, wird es wirklich eminent. Es sollte daher nicht a priori deklarieren, was erst zu kreieren wäre.
Nicht die normative Behauptung eines Ich ist zu negieren, wohl aber, dass es sich schon behauptet hätte. „Die Menschen, keiner ausgenommen, sind überhaupt noch nicht sie selbst“, schreibt Adorno. Fürwahr. Das Ich ist eine Fiktion. Zumindest weitgehend. Über das kleine Ich-bin-Ich kommt dieses Ich kaum hinaus. Wie denn auch? Woher sollte die Instandsetzung rühren? Ich-Schwäche ist strukturell. Ein Ich kommt also lediglich in jenen Momenten zum Vorschein, wenn Menschen sich gegen ihre Rolle sträuben, ja sich gegen sie auflehnen.
Tatsächlich gelte es das „Ich seines Ichs“ erst zu werden, wie Henry Miller einmal feststellte. Das Ich hat zwar keine apriorische Qualität, aber der vitale Keim einer Potenz ist allemal evozierbar. Das Ich ist nicht einfach vorhanden, aber es kann sich entwickeln. Es zu stacheln, ist Aufgabe der Kritik. Das Ich entsteht nicht aus dem Nichts, sondern aus dem Nein. Das Ich ist immer vakant, es ist keine Position, sondern steht stets zur Disposition. Solch Ich vermag sich nur zu setzen, wenn es die Aggregatsformen der Masse, Herde und Horde, überwindet. Gerade weil das kategorisch unmöglich erscheint, sollte man es sich wirksam erlauben. Täglich.