Unwiederbringlich
von Hermann Engster
Im Jahr 1848 beschreiben Marx und Engels in ihrem Manifest der Kommunistischen Partei die grundstürzenden Veränderungen, die in Deutschland und Westeuropa mit dem Siegeszug des Kapitalismus und der Herrschaft der Bourgeoisie einhergegangen sind. (In: Die Frühschriften, ed. Landshut, 1971.)
In ihrer kaum hundertjährigen Herrschaft hat die Bourgeoisie, so konstatieren die Autoren, „massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten“.
Ihre politisch-ökonomische Analyse und die darauf aufbauende geschichtsphilosophische Deutung sind geprägt von einem fortschrittsoptimistischen Elan. Mit der Entfesselung der Produktivkräfte durch Wissenschaft und Industrie, so stellen sie fest, sind auch zugleich die alten Feudalbande, welche die Menschen in Unfreiheit und Unterdrückung hielten, zerrissen. Alle Ausbeutung, die bislang von politischem und religiösem Nebel verhüllt war, tritt nun offen zutage und zeigt unmaskiert, was tatsächlich die Verhältnisse unter den Menschen bestimmt: „das nackte Interesse“. Hinter dem „rührend-sentimentalen Schleier“, mit dem die Menschen sich einhüllten, tritt nun das „reine Geldverhältnis“ hervor: „Alle bisher ehrwürdigen Tätigkeiten“ sind „ihres Heiligenscheins entkleidet“, die Bourgeoisie als Trägerin der neuen Ökonomie hat „den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt“. Diese Desillusionierung, so schmerzlich sie sich anfühlen mag, ist aber, so die Hoffnung der Autoren, die Voraussetzung dafür, dass die Ausgebeuteten und Entrechteten ihre Sache in die eigenen Hände nähmen und ihre Geschichte selbst bestimmten.
Irritationen
Uns Heutigen, da der Kapitalismus sich aller Fesseln entledigt hat und wir eingesperrt sind ins „stählerne Gehäuse der Rationalität“ (Max Weber) – nota: einer instrumentell verkürzten Rationalität – wird nunmehr die Gegenrechnung der von Marx und Engels konstatierten „Unterjochung der Natur“, der äußeren und inneren, präsentiert. Gewinn und Verlust stehen da einander gegenüber. Dichter haben, mit der ihnen eigenen Sensibilität, schon früh ihrer Verstörung über das andrängende ungewohnte Neue, über die „Entzauberung der Welt“ (Weber) und den Verlust der alten Welt samt ihren sinnlichen und emotionalen Dimensionen Ausdruck verliehen.
Einer von ihnen ist Goethe. Er besucht nach zwei Jahrzehnten Abwesenheit seine Vaterstadt Frankfurt wieder und reagiert irritiert über das, was ihm dort begegnet. Er findet das Haus seiner Großeltern Textor durch das französische Bombardement von 1796 zerstört vor. Nicht weniger als dieser Verlust befremdet ihn jedoch ein anderes, das er in Briefen aus Frankfurt vom August 1797 (an Friedrich Schiller und Karl August Böttiger) sowie in den Notizen seiner Reise in die Schweiz zur Sprache bringt: woher es denn komme, so wundert er sich, dass der vom Haus übriggebliebene „Schutthaufen (…) noch immer das Doppelt dessen wert (sei), was vor elf Jahren von den gegenwärtigen Besitzern an die Meinigen bezahlt worden“ (ist). (Dieses Beispiel und die folgenden zitiert nach: Goethe, Artemis-Gedenkausgabe, Reisenotizen in Bd. 12, Brief an Böttiger vom 17.8. 1997 in Bd. 19, an Schiller vom 16./17.8. in Bd. 20, an Zelter in Bd. 21.)
Obwohl als Finanzminister von Sachsen-Weimar ökonomisch versiert, sind ihm die abstrakten Marktgesetze noch fremd. Doch ahnt er, dass diese Wertsteigerung darin begründet ist, dass Frankfurt „aus dem beschränktesten, patriarchalischen Zustande (…) durch klug unternehmende Menschen zum nützlichsten Waren- und Marktplatz verändert wurde“, das heißt: zu einer Handelsmetropole in der sich entwickelnden Warenwirtschaft aufgestiegen ist. Was sich hier vollzieht, ist die Ablösung der alteuropäischen Ökonomie durch das moderne Marktprinzip.
Goethe ist ein sehr genauer Beobachter, nicht nur der Natur, sondern auch der sozialen Verhältnisse. So sei ihm „sehr merkwürdig aufgefallen“, wie er Schiller weiters mitteilt, „wie es eigentlich mit dem Publiko einer großen Stadt beschaffen ist. Es lebt in einem beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren, und das, was wir Stimmung nennen, läßt sich weder hervorbringen noch mitteilen. (…) Ich glaube sogar eine Art von Scheu gegen poetische Produktionen, oder wenigstens insofern sie poetisch sind, bemerkt zu haben, die mir aus eben diesen Ursachen ganz natürlich vorkommt.“
Was er suchend umschreibt als „Scheu gegen poetische Produktionen“, das meint die allgemeine Nüchternheit, bewirkt durch die um sich greifende Rechenhaftigkeit. Es ist der nüchterne Geist des kühlen rationalen Kalkulierens, der „Geist des modernen Kapitalismus“, wie ihn Marx (kritisch) und nach ihm auch Max Weber (affirmativ) beschrieben haben. Es dominieren, so stellt Goethe im Brief an Schiller fest, die Interessen der „Frankfurter Bankiers, Handelsleute, Agioteurs (d.h. Börsenspekulanten), Juden, Spieler und Unternehmer“. (Nebenbei: Goethe war kein Antisemit.) Resigniert stellt er in den (zur selben Zeit verfassten) Notizen seiner Reise in die Schweiz fest: „Der Frankfurter, bei dem alles Ware ist, sollte sein Haus niemals anders als als Ware betrachten.“ (Bd. 12, S. 99)
Ein Jahrzehnt später wird er weiter blicken, denn dann studiert er gründlich, wie man aus seinem Bibliotheksexemplar ersehen kann, Adam Smiths epochales Werk zur modernen Nationalökonomie An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations von 1776, das 1806 in deutscher Übersetzung erscheint.
In seinem Alterswerk Wilhelm Meisters Wanderjahre (erste Fassung 1821, letzte Fassung 1829) zieht er ein pessimistisches Resümee:
„Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt, muss ich halten, dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt (…) Haben wir doch schon Blätter (d.h. Zeitungen) für sämtliche Tageszeiten! (…) Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich, zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.“ (Neuschöpfung von Goethe, zusammengesetzt aus lat. velocitas – Geschwindigkeit und Luzifer.)
Und weiter: „So wenig die Dampfmaschinen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen (d.h. im gesellschaftlichen Leben) möglich; die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist.“ (Bd. 8, S. 312 f.)
Und schließlich in einem Brief an Zelter vom 6.6.1825: „Alles aber (…) ist jetzt ultra, alles transzendiert (d.h. durchdringt, übersteigt) unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt (d.h. tätig ist), niemand den Stoff, den er bearbeitet. (…) Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten (d.h. Einrichtungen, Bereitstellungen) der Kommunikation (…). Wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt.“ (Bd. 21, S. 634)
Heine – Deserteur und Totengräber
Um 1824, also just zu der Zeit, in der Goethe sein pessimistisches Resümee der Gegenwart zieht, schreibt Heinrich Heine sein Gedicht von der sagenhaften Lore-Ley. Dieses Gedicht ist nicht zuletzt deshalb zu einem seiner populärsten geworden, weil Friedrich Silcher bald darauf eine Schmonzette für Männerchöre komponiert hat, die seither die erregende Geschichte von der lasziven und männermordenden femme fatale aus vollem Brustton zu beschwören pflegen. Jedoch liegt hier ein Missverständnis vor.
Heine, geboren 1797, zu einer Zeit, als die Romantik in der Hochblüte steht, schreibt zunächst wundervolle romantische Gedichte wie z.B. das geheimnisvolle Der Tod, das ist die kühle Nacht (googeln!), wendet sich dann aber von der Romantik ab, weil sie ihm als poetisch abgenutzt gilt – Ein Bild! ein Bild! mein Pferd für’n gutes Bild! variiert er in komischer Verzweiflung Shakespeares Richard III. – und weil er sie überhaupt als eskapistisch verwirft, so in einem Gedicht, das den vielsagenden Titel Wahrhaftig trägt: Lieder und Sterne und Blümelein, / Und Äuglein und Mondglanz und Sonnenschein, / Wie sehr das Zeug auch gefällt, / So macht’s doch noch lang keine Welt. Er nennt sich selbst ironisch einen „entlaufenen Romantiker“, Eichendorff, der wohl bedeutendste Lyriker seiner Epoche, schmäht ihn gar als „Totengräber der Romantik“.
1831 flüchtet Heine vor Zensur und Verfolgung aus dem reaktionären Deutschland ins freiere Paris. Er wendet sich sozialen Problemen zu, lernt Marx, Engels, Lassalle, den Kreis der Frühsozialisten um Saint-Simon kennen, arbeitet an Marxens Zeitschriften „Vorwärts!“ und den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“ mit. In Paris lebt er zwölf Jahre, und was er dort im Exil vermisst, wie er in seinem Gedicht Nachtgedanken bekennt (Denk ich an Deutschland in der Nacht, / So bin ich um den Schlaf gebracht), das ist nicht das „Vaterland“, sondern seine alte Mutter – Die alte Frau hat mich so lieb, / Und in den Briefen, die sie schrieb / Seh ich, wie ihre Hand gezittert, / Wie tief das Mutterherz erschüttert.
Mythos reloaded
Aus alten Märchen winkt es / Hervor mit weißer Hand, so beginnt eines seiner Gedichte. Diese Hand weist ihn auf eine alte Geschichte, die Sage von der Lore-Ley am Rhein. Um einen schroffen Felsen, heute Loreley-Felsen genannt, macht der Rhein eine scharfe Biegung. Er ist an dieser Stelle nur 200 m breit, und es gibt dort Riffe, Untiefen, Strudel, die immer wieder Schiffen zum Verhängnis wurden. Bald bildeten sich Sagen, die von Elfen und Nixen erzählten, die den Schiffern Unglück brächten.
Die eigentliche Sage von der Lore-Ley entstand erst um 1800, als Clemens Brentano die Geschichte von der Lore Lay (so Brentanos Schreibung) erfindet und sie in eine Ballade kleidet, in die er Motive der antiken Mythen von den Sirenen und von Narcissus und Echo einarbeitet.
Die Geschichte geht so: Eine junge und außergewöhnlich schöne Frau in Bacharach am Rhein liebt einen Ritter, der sie jedoch verlässt. Viele Männer werben um sie, doch in ihrer Trauer um den verlorenen Geliebten weist sie alle ab, und das stürzt die Männer ins Unglück. Sie gerät in den Verruf, eine Zauberin zu sein, welche die Männer verhext. Sie selbst ist unglücklich darüber und übergibt sich verzweifelt dem Urteil des Bischofs. Dieser jedoch verfällt selber ihrer Schönheit. Er verurteilt sie nicht als Hexe, sondern weist sie um ihres Seelenfriedens willen in ein Kloster ein, wohin drei Ritter sie begleiten sollen. Auf dem Weg dorthin will sie noch einmal den Felsen ersteigen, um von dort ein letztes Mal das Schloss ihres Geliebten zu sehen. Sie erklimmt die Felswand, und als sie oben steht, erblickt sie unten einen Kahn, in dem sie ihren Liebsten zu erkennen glaubt. Sie stürzt sich sehnsüchtig hinunter und ertrinkt. Die drei Ritter, die ihr in die Felswand gefolgt sind, stürzen gleichfalls zu Tode.
Das ist die Geschichte, die Heinrich Heine um das Jahr 1824 zu seinem Gedicht von der Lore-Ley inspiriert hat. Es steht im Buch der Lieder, erschienen in der ersten Auflage bei Campe in Hamburg 1827 (hier zitiert nach der Düsseldorfer Heine-Ausgabe, Bd. 1/1, S. 206, Rechtschreibung modernisiert). Später haben Herausgeber dem Gedicht den Titel Die Lore-Ley gegeben. Ob Heine die Sage als alt auffasste und ihm nicht bekannt war, dass es sich um eine erst von Brentano geschaffene Kunstsage handelt, verschlägt hier nichts: Der Text suggeriert dem Leser ein Märchen aus alten Zeiten.
Die Lore-Ley
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar;
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh’.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Ley getan.
Viermal gibt sich in dem Gedicht ein Ich zu erkennen: dreimal (inkl. des Dativs mir) in der ersten Strophe, dann erst wieder in der letzten. Das Ich des Sprechers setzt in der ersten Strophe zögerlich und stockend ein, so wie jemand, der nach Worten sucht, um etwas schwer Fassbares auszudrücken: Es ist eine Erinnerung aus ferner Vergangenheit, die in ihm hochsteigt. Er ist traurig, aber das ist nicht eine momentane Anwandlung, sondern es ist eine Trauer, die tiefer verborgen ist; er weiß nicht, woher sie rührt und was sie bedeuten mag, und er versucht ihre Ursache zu ergründen. Eine Geschichte bedrängt ihn, kommt ihm nicht aus dem Sinn; es ist ein Märchen aus alten Zeiten, aber nicht ein Kindermärchen, sondern hier schwingt noch das mittelhochdeutsche Wort mӕre mit, wie es zum Beginn des Nibelungenlieds heißt: Uns ist in alten mӕren / wunders vil geseit – Geschichten aus verflossener Zeit.
„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
Er fasst sich, verdrängt das Gefühl der Trauer, und er beginnt die Geschichte, die ihm im Kopf herumgeht, zu erzählen – vielleicht ist sie der geheime Grund seiner Trauer …
Sprechhaltung und Tonfall ändern sich, die anfangs unsichere Stimme wird fest, das suchende Tasten der Worte weicht dem Duktus einer berichtenden Erzählung, die in dreihebigen Versen mit sich abwechselnden Jamben und Daktylen im lockeren Balladenton vorgetragen wird. In zwei Versen wird durch den Eindruck von Kühle und beginnender Dunkelheit – Die Luft ist kühl und es dunkelt – eine Abendstimmung erzeugt, Ruhe und Frieden breiten sich aus: Und ruhig fließt der Rhein. Die Nacht steigt die Berghänge hinauf, doch ein letztes einsames Leuchten lenkt den Blick in die Höhe: Der Gipfel des Berges funkelt / Im Abendsonnenschein.
Diese Metaphorik von Licht und Glanz beherrscht die folgenden Strophen und lässt die Stimme des Erzählers mit zunehmender Erregtheit anschwellen. Denn eine Erscheinung – wunderbar – schlägt ihn in Bann: Dort auf dem Gipfel erblickt er die schönste Jungfrau – das Attribut schön hier nicht als Superlativ, sondern als Elativ gebraucht im Sinne von „unübertrefflicher Schönheit“. Licht und Glanz werden in dieser Strophe gleich vierfach metaphorisch beschworen: golden – Geschmeide – blitzet – goldenes Haar.
Es ist eine Beschwörung, die ein verschwindendes Licht, das von der Höhe des Berges noch herüberscheint, festzuhalten sucht. Die Magie des leuchtenden Goldes verschmilzt mit der Magie der Sagenfigur, beides steigert sich in der nächsten Strophe: Sie kämmt ihr goldenes Haar mit goldenem Kamme, und zur Magie der Bilder kommt als drittes zauberisches Element die Musik hinzu: Sie singt ein Lied dabei, und dieses hat – wie die Lieder der antiken Sirenen – eine wundersame, gewaltige Melodei. Gewaltig bedeutet hier „überwältigend“, wie es von den Gesängen der Sirenen überliefert wird, die den Seefahrern zum Verhängnis werden und denen Odysseus durch seine List mit knapper Not entrinnt. Das Wort Melodei hat nicht des Reimes willen seine altertümliche Gestalt, sondern evoziert in ihr das Archaische, Dämonisch-Bannende dieser Musik.
Den Schiffer im kleinen Schiffe / Ergreift es mit wildem Weh: Es ist der Schmerz des Liebesbegehrens, das den von der Frauenschönheit, dem Goldglanz und der Musik betörten Schiffer nicht auf die Felsenriffe achten, sondern gebannt in die Höh’ schauen lässt.
Sein Verhängnis wird in der letzten Strophe, in der das Ich wieder unmittelbar hervortritt, mit knappen, nüchternen Worten erzählt. Doch wie sollte man diese Verse sprechen?
Das Ende vom Lied
Es gibt zwei Möglichkeiten zum Verständnis der Schlussstrophe, die von der Deutung der einleitenden Worte Ich glaube abhängen.
Man kann sie im Tonfall überzeugter Gewissheit sprechen, gleichsam wie ein Credo in unum Deum. Das folgende deiktische und durch Hebung herausgehobene das im Vers Und das hat mit ihrem Singen wäre folgerichtig als Bekräftigung einer Tatsache zu verstehen: So war es.
Schlüssiger erscheint aber eine andere Möglichkeit, die sich ergibt, wenn man die letzte Strophe mit der ersten zusammenschließt. Deren unsicher tastendes Ich weiß nicht wird von dem Ich glaube der Schlussstrophe wieder aufgenommen. Dieses ich glaube konnotiert ein „vielleicht“, „möglicherweise“, „kann sein“. Das deiktische das wäre dann eher fragend, zweifelnd zu sprechen, und die beiden Schlussverse müssten dann in einem schwebenden Tonfall und mit einem verborgenen Fragezeichen ausklingen. Die Musik könnte es wohl ertönen lassen. Einem Friedrich Silcher war solches zu komponieren nicht gegeben, einem Robert Schumann sehr wohl, der kongenial die Doppelbödigkeit Heine’scher (und Eichendorff’scher) Verse in Töne zu setzen verstand.
Die Trauer der ersten Strophe mischt sich mit dem Abgesang der Schlussstrophe. Der Erzähler weiß nun, was es bedeuten soll, dass er so traurig ist: Das Märchen aus alten Zeiten hallt nur noch aus der Ferne zu ihm herüber. Die „Unterjochung der Natur“ durch den Menschen und dessen Einzug in das „stählerne Gehäuse der Rationalität“ künden von einer neuen Zeit. Die alten Zeiten sind vorbei, und mit ihnen eine universale Weltauffassung, eine – fern aller theologischen Dogmatik – mythisch-religiöse Haltung zur Welt: unwiederbringlich vergangen. Das Gedicht endet in Wehmut, einer Wehmut, wie sie 1825 – fast zur selben Zeit, als Heine seine Lore-Ley dichtet – in Goethes Brief an Zelter erklingt: „Wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt.“