Über den Horizont unserer Handlungen
ZUM ZEHNTEN TODESTAG
Streifzüge 41/2007
Anstatt noch einen weiteren Nachruf nachzureichen, haben wir uns entschlossen, einige Passagen aus den Briefen des André Gorz an Franz Schandl und Andreas Exner zu veröffentlichen. Gorz soll also noch einmal selbst zu Wort kommen. Die Auszüge wurden äußerst behutsam redigiert. Immer ist aber zu berücksichtigen, dass es sich um Briefe handelt, also um Entwürfe, wo spontane Reflexionen niedergeschrieben wurden. Vor allem dokumentieren diese kritischen wie selbstkritischen Texte von André das Interesse und die Freude, sich mit gar vielem auseinanderzusetzen. Die eckigen Klammern stammen von der Streifzüge-Redaktion. Weitere Details und Beiträge zu und von André Gorz sind auf unserer Website www.streifzuege.org nachzulesen. F. S.
3. Dezember 2003 an F. S.
Vielen Dank für die Auswahl von Streifzügen und Artikeln, die Sie mir am 13. 11. geschickt haben. Ich habe einiges davon gleich gelesen und bin ganz sicher, 1. dass ich ein mehrjähriges Abo beziehen möchte; 2. dass ich Ihnen und mir die Anrede „Herr“ und „Doktor“ ersparen kann. Dass es zwischen uns Differenzen gibt, stört mich gar nicht (möglicherweise weniger als Sie). Ich hatte seinerzeit Freunde bei den Situationisten und meine, dass absolut radikale Widerständler und Anarchokommunisten zur Umkrempelung des herrschenden Bewusstseins unbedingt nötig sind. Besonders begeistert hat mich das Zitat aus Ihrem „Der postmoderne Kreuzzug“ (Streifzüge 3/2002, S. 1) aus krisis 24, die ich mir beschaffen werde. Hier sind wir, scheint mir, ganz einverstanden: selbst ist eigentlich nur die Distanz, die er zum Anderen, zu dem er sozialisiert wurde, behält.
Ich gebe zu, in der Vergangenheit auch viel Blödsinn geschrieben zu haben (z. B. dualistische Wirtschaft). Dass man Warenbeziehungen nicht aufheben kann, wenn man nicht gleichzeitig Geldbeziehungen aufhebt, war mir schon immer klar, und auch dass ein bedingungsloses Grundeinkommen kein Transfereinkommen sein kann und alternatives Geld und alternatives Wirtschaften voraussetzt.
28. Dezember 2003 an F. S.
Von den Schriften, die Sie mir geschickt haben, hat mich Ihre „Metakritik des Tauschs“ [Streifzüge 4/1999, S. 17-27] besonders an- und aufgeregt. Ich will versuchen, Allain Callié, (Herausgeber der Revue de Mauss) für eine (etwas gekürzte) Übersetzung zu interessieren.
5. August 2004 an F. S.
Das Auseinanderklaffen von Reichtum und Wert ist auch für mich seit fünf Jahren ein zentrales Thema geworden. Ausgangspunkt waren für mich dabei die „Eigenwerte“, die par Definition kein Äquivalent haben, untauschbar und unvergleichbar sind. Sie beziehen sich auf die „Grundrisse“ S. 133, ich auf S. 387.
Ansonsten: Was eine Antiökonomie ohne Waren und Geldbeziehungen betrifft, erinnerte ich mich endlich an Ursula Le Guins „The Dispossessed“ (1974) (deutsch blöderweise: „Die Entrechteten“). Ich habe es vor 30 Jahren gelesen, öfter wieder gelesen. Trotzdem seit 10 Jahren vergessen. Es enthält mehr Warnungen als Lösungen. Immerhin ein schöner Roman. War vor 30 Jahren ein Kultbuch in Deutschland. Aber so alt sind Sie nicht.
In den ersten Septembertagen sollten Sie die Druckfahnen von „Wissen, Wert und Kapital“ bekommen. Ich habe die französische Fassung besonders in Kapitel 3 und Anfang Kapitel 4 überarbeitet. Im Kapitel 3 habe ich u. a. an Ihre (berechtigten, prinzipiellen) Einwände gegen das „Existenzgeld“ gedacht und ihnen Rechnung getragen, ohne die Idee ganz aufzugeben. Im Kapitel 4 hatte ich viel Spass damit, mich mit der These von meinem Freund und Ihrem ehemaligen Freund und Widersacher Erich Hörl auseinanderzusetzen. Ich las sie erst nach Erscheinen von L’Immatériell und fand in ihr viel food for thought.
28. Oktober. -1. November 2004 an F. S.
[A. G. bezieht sich auf die von F. S. angesprochene Fortführung der „Metakritik des Tauschs“]
Eigentlich habe ich wiederholt versucht, Dir über den „wunden Punkt“ Metakritik des Tauschs und weitere Projekte zu schreiben. Ich glaub(t)e mitzufühlen, was es heißt, mit einem ungeborenen „Kind“ im Bauch weiterzuleben. Ich hätte es unerträglich gefunden. Es wirkt wie ein schwarzes Loch, dachte ich, das alle Freuden im Leben einsaugt, zumindest teilweise, und den nächtlichen Schlaf mit allen möglichen Figuren des Scheiterns und der Trauer durchtränkt.
Allerdings, sagte ich mir dann, sind wir aber sehr verschieden. Ich wurde ab meinem 17. Jahr ein neurotischer Schreiber, der seine Existenz – alle Erfahrungen, Regungen, Gefühle – wegzuschreiben bemüht war, d. h. als Rohmaterial der Schreibtätigkeit behandelte und sich auf diese Weise von der Existenz (von sich) abspaltete. Nichts anderes galt. Meine Frau (Dorine, ohne die ich nichts wäre) zog zu mir in einer Zeit, als ich hoffnungs- und zukunftslos („heimatlos“ und ohne die immer so wichtigen Papiere wie Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung) in einem winzigen Zimmer ohne Wasser und Heizung lebte und teilte, frohen Sinnes, die Misere in der Zuversicht, dass mein Wegschreiben meiner Existenz schließlich in ein Sich-in-die-Existenz-Zurückschreiben umkippen würde. Ohne sie wäre das sicher nicht geschehen.
Nun bist Du aber, glaube ich, ein grundverschiedner Schreiber und Mensch. Das Schreiben scheint mir bei Dir mit richtiger Freude am Leben und am Handeln verbunden, es ist ein Handeln, nicht ein Mittel [beides bei Gorz unterstrichen] zu letzterem, also Selbstzweck. Die Streifzüge sind an sich ein Projekt, das lebensfüllend sein könnte und inwieweit es mit Deinen theoretischen-philosophischen Projekten konkurriert bzw. sie in sich aufsaugt und in kleinen Scheibchen restituiert, ist eine Frage, die gestellt werden muss.
(… )
In letzter Zeit habe ich öfters in alten Nummern herumgestöbert. Dabei fiel mir wieder der meiner Einschätzung nach hervorragende Artikel von Volker Hildebrandt auf (Weg und Ziel 1/1999). Derartige Artikel, die die Darstellung und Analyse von Geschehnissen oder Experimenten mit Theorie und Kritik verbinden, also von anderen Gesichtspunkten her beleuchten und analysieren, ohne dass Kritik in Polemik und Verwerfung sofort ausufert, vermisse ich. Sowie das Anknüpfen kritischer Theorie an die faktische Entwicklung u. a. auf sozial-kulturellem und ökonomisch-konjunkturellen Gebiet (FN Gorz: Aber da bin ich Dir ungerecht. Siehe Beitrag zu krisis 28 u. v. a. m. ). Die Weiterentwicklung von kritischer Theorie muss irgendwie von faktischen Entwicklungen gespeist werden, sonst kommt sie nicht weiter und beißt sich in den Schwanz. Kurz: Wie [bei A. G. unterstrichen] entwickelt sich die Krise weiter? Was macht Theorie verständlich und was bleibt ohne sie unverständlich? (FN A. G. : wechselseitig: wodurch wird Theorie verständlich(er) gemacht veranschaulicht? ) Da bin ich doch wieder ein Journalist.
Anregendes fand ich in Kurz‘ Artikel in den Streifzügen 3/2003, S. 23, wo von sekulärer Entwertung und vom „Obsolet Werden der abstrakten Arbeit“ (und folglich des herkömmlichen Wertbegriffs) die Rede ist. Letzterer greift nicht mehr so gut wie früher. Allgemeine Arbeit, General Intellect sind nicht auf abstrakte Arbeit rückführbar und kein ordinäres Kapital, zehren (ebenso wenig wie die positiven Externalitäten) von der Wertsubstanz und tragen, insoweit sie sich produktivitätssteigernd auswirken (wie der General Intellect), zum Abschmelzen der Wertsubstanz bei. Oder nicht? (Es scheint diesbezüglich eine Kontroverse in der krisis-Gruppe zu geben. ) Was meinst du?
Dann fand ich im Kurz-Artikel eine leider nur sehr kurze Bemerkung über die „strukturelle Überakkumulation“, ohne weitere Angaben. In den Beiträgen von Lohoff und Trenkle kommt die Idee (nicht aber der Begriff) der strukturellen Überakkumulation wieder, auch ohne weitere Angaben (siehe „Dead Men Working“, S. 71-73 und S. 33): „Der strukturelle ökonomische Grund dieser Entwicklung ist schlicht die stockende Akkumulation des Kapitals, die (… ) nicht mehr auf realökonomischer Grundlage in Gang kommen kann (… ).“ [Trenkle, a. a. O, S. 71-72] Die „Entwicklung“ um die es sich handelt, ist steigende Staatsverschuldung in den USA (und Auslandsverschuldung würde ich hinzufügen). Dass in den USA Konsumkredite und Spekulationsblasen die Akkumulation zu stützen suchen, wissen wir schon. Dass sie aber dennoch eine Überakkumulation in Gang halten, kann sich damit nicht erklären. Letztere hat scheinbar fantastische Proportionen erreicht. Die 374 Firmen des Standard&Poor Index verfügen über 555 Milliarden Reserven, Micrososft allein über 60 Milliarden, zu denen jährlich 11 weitere hinzukommen. Die Selbstfinanzierungsrate beträgt in den USA 115%, in Deutschland 110% (Frankreich 95%, Japan 130%). Dabei schütten die Firmen in den USA wie in Europa weiter 15% Dividenden aus (Frankreich 12%, +1% jährlichen Zuwachs) und suchen krampfhaft nach Verwertungsmöglichkeiten ihres (Finanz)Kapitals, die mindestens die gleichen fantastischen Renditen gewährleisten. So erklärt sich der „Selbstkannibalismus“, den Lohoff und Trenkle beschreiben.
Die Daten, die die Überakkumulation belegen, sind in den obigen Beiträgen nicht angegeben. Auch bleibt eine Erklärung darüber aus, wie u. a. auch in Europa, namentlich in Deutschland, noch nie da gewesene Profitquoten zustande kommen. Konsumentenkredite und Exportüberschüsse – d. i. Geldimporte – sind keine genügende Erklärung. Woher rührt die (fortschreitende) Überakkumulation bei schwindender Kaufkraft und Beschäftigung der Erwerbsbevölkerung und in Abwesenheit namhafter Staatshaushaltsdefizite?
Weiter: Warum [bei A. G. unterstrichen] ist ein Rückgriff auf keynesianische Umverteilungs- und Fiskalpolitik ausgeschlossen und machen wir uns über die Leute lustig, die behaupten „Geld ist genügend da“? Wir haben da ein kitzliges Problem. Wir müssten beweisen, dass keynesianische Politik unmöglich ist, um den Glauben zu zerstören, dass sich der Kapitalismus doch noch retten ließe. (In FN: Der Beweis der ökonomischen Unmöglichkeit bleibt weiter aus. In einer Überakkumulationskrise sollte doch keynesiansiche Umverteilung viel leichter sein. Ein Hindernis, das ihr entgegensteht, sind die „politischen Machtverhältnisse“, die globale Macht des überakkumulierten Geldes. Oder nicht? ) Wir wollen ihn weder retten noch sozialpolitisch stärken. Wir wollen, dass sein zukünftiger Zusammenbruch der Sinn, das Ziel, der Horizont unserer Handlungen sei. Aber wir dürfen zugleich nicht all die Menschen entmutigen und vor den Kopf stoßen, die gegen den Sozialabbau und die private Kapitalisierung des Gemeinwesens Widerstand leisten (wollen).
Da haben wir wieder die Antinomien, die in den 50er-Jahren die europäischen KPs fähig machten, Massen zu mobilisieren, aber damit nichts anzufangen wussten, die Aktionen müssen hoffnungsreich erscheinen, um stattzufinden, und hoffnungslose erscheinen, um sich zu radikalisieren. In den späten 50er-Jahren fand ich mit den „revolutionären Reformen“ einen Ausweg aus dieser Klemme. Dafür gibt es heute keine Vorbedingung mehr. Die einzige ausgesprochen antikapitalistische Bewegung, die sich effektiv in einen frontalen Konflikt mit der Kapitallogik umzusetzen versteht, ist die Freie Software-Bewegung (zum Teil zumindest). Ob Selbstversorgungskooperativen sich zu einer Bewegung entwickeln können, bleibt noch fraglich (ich war erleichtert zu sehen, dass sie Norbert Trenkle 1995 nicht prinzipiell verworfen hat; und Hildebrandt Jahre später auch nicht. )
Die Zukunft sollte der Umsonst-Ökonomie gehören (Existenzgeld als Umsonst-Geld begreifen weist geradezu auf eine geldlose Umsonst-Ökonomie hin), ich möchte glauben, dass wir in den nächsten [Jahren] immer von ihr hören werden. Deshalb scheint mir Deine Metakritik so wichtig und dringend.
Der zweite Abschnitt des Editorials in krisis 28 kommt meinen kritischen Bemerkungen und Ängsten zuvor: namentlich der letzte Absatz S. 9-10 und der zweite Absatz auf S. 10: „dass das diskursive Moment bei der Theorieverarbeitung und -präsentation künftig stärker zur Geltung kommen soll“. Wenn alle über alles einig erscheinen wollen, verlieren sie die kritische Distanz zu sich selbst. Auch das führt durch Selbstabgrenzung zur Sektenbildung.
Lieber Franz, ich komme nicht mehr nach Wien, weil meine Frau ein Herzleiden hat, das mich beängstigt und ich sie keinen Tag allein lassen will. Sie ist übrigens auch reiseunfähig (Luftreisen sind ausgeschlossen). Und schließlich, ich war in Wien nie zu Hause. Bin in Ober-St. Veit aufgewachsen und kam nie [bei A. G. unterstrichen] in die Innere Stadt, in das Kunstmuseum, die Sezession usw. Meine Familie war ganz „ungebildet“, was ich heute von Wien weiß, habe ich in Paris erfahren und dann sehr spät als Tourist besichtigt.
[Anhang 2. November] Zu „Dead Men Working“ wollte ich bemerken, dass Lohoffs berechtigte Kritik der „Dualökonomie“ offensichtlich (auch) auf einige meiner Schriften trifft, er aber seine Kritik eher freundlich formuliert und es unterlässt, Namen zu zitieren. Das Gleiche gilt für Exners Beitrag zu Attac. Beide vermeiden es, Andersdenkende zu Feinden zu stilisieren, wo man doch vielleicht noch hoffen kann, sie für ein Umdenken zu gewinnen.
2. Juni 2005 an F. S.
Die Streifzüge 32 und 33 habe ich mit großem Interesse gelesen. Lohoffs Artikel in Nr. 32 fand ich hervorragend in seiner Bezugnahme auf „stofflich-sinnlichen Reichtum“ und seinen Schlussbetrachtungen auf S. 20, die die Fragen des Übergangs (Transition) aufnehmen, die von den radikalsten Befürwortern der Geld- und Arbeitslosigkeit vernachlässigt werden. Ebenso fand ich in Nr. 33, im Artikel von Rätz, S. 8 und im Artikel von Exner und Grohmann, S. 37-38, Überlegungen, die mich freuen und denen ich beistimme.
Dieser Tage studiere ich wieder, was von und über Negri geschrieben wird. Es ist höchste Zeit, meine ich, sich mit dem Unfug zu befassen, den er und seine Anhänger erfolgreich betreiben. Ich meine vor allem ihr Lob der „Selbstverwertung“ und der „Selbstunternehmer“ und ihre verschwommene Werttheorie. (FN A. G. : Anselm Jappe hat sich mit der Kritik an Negri befasst, aber sie ist noch nicht gründlich genug und zu polemisch, um wirksam zu sein. Negri müsste ernsthaft diskutiert werden, und die Tatsache anerkannt werden, dass nicht alles, was er schreibt, falsch ist. ) Ich habe keinen Text gefunden, der klärt, was unter „Selbstverwertung“ zu verstehen ist. Negris wichtigster französischer Vertreter verbreitet in letzter Zeit die Finanzierung eines universalen Sozialeinkommens durch die Besteuerung von Wissens- und Informationsaustausch (im Net), in welchem er die wichtigste Quelle von Wertschöpfung erkennen will!
Der wachsende Einfluss der Negristen macht sich auch im deutschsprachigen Raum bemerkbar. Die Zeitschrift Grundrisse scheint ganz negristisch zu werden, auch Gottfried Oy (Frankfurter Rundschau) hat sich bekehrt. Cyborg Religion, Künstliches Leben und Intelligenz-Mystik führt dazu, dass Entsinnlichung gefeiert und jegliche Kritik der Technologieentwicklung, wie sie heute betrieben wird und des Konsummodells, der Marketingindustire, als konservativ und nostalgisch denunziert wird. Der auch von Dir verehrte Günther Anders ist hier der zu vernichtende Feind. Es ist kein Zufall, dass ich mich auf ihn beziehe, resp. stütze, im 4. Teil meines Büchleins. Er hat Kaczynskis These der „totalitären Maschine“ vorausgeahnt.
2. August 2005 an F. S.
Die widerwärtigen Seiten von Robert Kurz [gemeint ist „Das kleine linke Arschloch“] habe ich gelesen und gleich weggeworfen. Seine Beschimpfungen sind im Grunde Selbstverherrlichungen. Hast Du diesen Größenwahn schon in seinen frühen Stadien kommen sehen? Althusser ist mir da noch lieber: in seiner Autobiographie („Die Zukunft ist lang“) gibt er zu, ein Schwindler zu sein (sein doppelter Marx ist ja, im Unterschied zu Kurzens, eine Erfindung) und wundert sich darüber, dass die anderen auf seinen Schwindel hereinfallen. Immer hat er in der Angst gelebt, als Betrüger bloßgestellt zu werden.
(… )
Die Weise in der Ernst Lohoff den anti-ökonomischen Begriff des „wahren“, d. i. „sinnlich-stofflichen“ Reichtum ausarbeitet, gefällt mir … sehr. Ist er sich der Kluft bewusst, die sich zwischen seinen Beiträgen zu den Streifzügen Nr. 32 und 34 auftut? In Nr. 32 schreibt er:
„Eine Emanzipationsbewegung kommt nicht umhin, diesem traurigen Umstand Rechnung zu tragen. In Sachen Reichtumsproduktion ist sie aufgerufen, gesellschaftlichen Reichtum vor der Kommodifizierung und Monetarisierung zu bewahren und kommodifizierten und monetarisierten Reichtum zu dekommodifizieren und zu demonetarisieren. Solange aber ein Großteil des gesellschaftlichen Reichtums indes Warengestalt annimmt, muss sich ihr Augenmerk natürlich auch darauf richten, wie mensch selbst im dekommodifizierten Zustand doch zum notwendigen allgemeinen Äquivalent, alias Geld, kommt. Das Offensivprojekt Dekommodifizierung der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion ist ohne ein parallel geschaltetes Defensivunternehmen gar nicht zu denken, das die Geldversorgung der im kapitalistischen Sinne Überflüssigen sicherstellt und ihnen einen hinreichenden Zugang auch zum Warenreichtum ermöglicht. Nur in dem Maße, wie gesellschaftlicher Reichtum tatsächlich frei zugänglich wird, entkoppelt sich die Frage des Auskommens vom Einkommen und erübrigen sich alle monetären Verteilungskämpfe auf dieser Ebene.
Dieses Defensivunternehmen knüpft, zumindest in den Metropolen, natürlich an den Sozialstaat an. Genauer gesagt, es kann nur Konturen annehmen, indem soziale Bewegungen sich gegen die derzeit auf Hochtouren laufenden Angriffe auf das traditionelle Zwangssozialversicherungswesen und ihr Ergebnis formieren.“ (Streifzüge 32, S. 20)
In Nr. 34 (zum Konzept des Grundeinkommens) ist davon nicht mehr die Rede. Oder behandelt er im zweiten Teil das Problem des Übergangs (Transition), dessen Wichtigkeit er in Nr. 32 hervorhebt? Ist er denn so sicher, dass es keine Form des Grundeinkommens in den nächsten Jahren geben wird – bzw. jetzt schon in mehr oder minder heimlicher Form (Niederlande, Dänemark, Frankreich) gibt?
Das Gespräch mit Franz Nahrada (Streifzüge 34, S. 18-22) hat mich begeistert. Da werden mehrere Fäden verknüpft. Da erscheint die Lösung des Problems des Übergangs in der Dynamik liegen zu können, mit der die HighTechEigenProduktion sich entwickelt und ausbreitet, hegemonial zu werden beansprucht und die Warenbeziehungen überrundet.
Fritjof Bergmann ist auf theoretischem Gebiet ganz ungebildet, er hat von Marx und Sozialismus die Vorstellung eines US-amerikanischen Kleinhändlers, scheint mir stark katholisch geprägt, aber eben seine Ungebildetheit und Unkenntnisse befähigen ihn, gegen das Lohnverhältnis der Verschwendungen und Verwüstungen und Erniedrigungen der Warengesellschaft wütig herzuziehen und praktische Ansätze einer radikalen Alternative zum Kapitalismus zu finden. Er wendet sich an einfache, aufrichtige Menschen, überzeugt sie, dass er sie versteht und sie ihn verstehen müssen. Die Ausführungen über die Armut der Begierde sind wunderbar. Aber 400 Seiten sind zuviel (für Intellektuelle wenigstens).
Lieber Franz, du fragst mich nach meinem Verhältnis zu Österreich: ich habe keines. Zu meinem „roten“ Volksschullehrer, Franz Spiroch, habe ich noch eines, von Liebe und Dankbarkeit. Er war fantastisch. Nach ihm kamen „schwarze“, blöde Gymnasialprofessoren, bei denen man überhaupt nichts lernte; sie waren wirr und langweilig. Dann war ich 10 Jahre in der Schweiz, absolutes Ausland.
Du fragst mich auch über eine eventuelle Neuauflage vergriffener Bücher. Ich weiß gar nicht, welche vergriffen und welche nicht vergriffen sind. Die deutschen Verleger sind stumm, sind Händler. Im Unterschied zu guten Verlegern verlegen sie Bücher, nicht Autoren. Für beinahe jedes Buch musste ich einen Verleger finden. Der allerschlechteste war Rowohlt, dann Suhrkamp. In seinem Katalog war „Der Verräter“ [Der Verräter, Vorwort von Jean-Paul Sartre, edition suhrkamp, Frankfurt am Main 1980] unter „Gewerkschaftspolitik“ oder so etwas zu finden. Den im Jahr 2000 bei Suhrkamp (auf Betreiben von Ulrich Beck) erschienenen Band „Arbeit zwischen Misere und Utopie“ musste ich ein zweites Mal übersetzen lassen und dazu selbst einen Übersetzer finden, denn die erste Übersetzung war unbrauchbar, und der Redakteur hat 15 Monate behauptet, er sei dabei, die Übersetzung zu richten, sei bald damit fertig. Hat aber nie damit angefangen. Rotpunkt Zürich ist, von Rotbuch während der Tätigkeitsperiode von Otto Kallscheuer abgesehen, der beste „deutsche“ Verleger, den ich je hatte.
22. Dezember 2005 an F. S.
Habe mich aber endlich auch an Robert Kurz‘ jüngste Veröffentlichungen herangemacht und meine, dass ich so einiges verpasst habe. „Der Weltordnungskrieg“ enthält insbesondere in seinem 2. Kapitel die geradezu geniale Begründung von Zusammenhängen, die den Tausenden von Soziologen, Nationalökonomen, Sozialpsychologen, Polizisten, Psychoanalytikern usw. usw. , die sich mit dem „Aufstand der Vorstädte“ in Frankreich befassten, verborgen geblieben sind. Der von Kurz bei Hannah Arendt gefundene Begriff der „Weltverlorenheit“ und der „Selbstverlorenheit“ erlaubt es, vieles zu entschlüsseln und verständlich zu machen, er ist so ein „existenzialer“ Begriff, den es überhaupt nur im Deutschen geben kann.
Anschließend habe ich „Das Weltkapital“ in Angriff genommen und finde dort die Klärung einiger Fragen, die ich nicht müde werde auch in meinen Briefen zu stellen. Der Mann (Kurz) ist fantastisch. Schade, dass er verrückt wurde. Worüber ist eigentlich die krisis-Gruppe auseinandergebrochen? Welche Kritik an welcher seiner Thesen konnte Kurz nicht ertragen?
Nebenbei frage ich mich auch, warum er sich statistische Daten in Wirtschaftszeitungen und bei Ramonet holen muss, wo sie nur fragmentarisch erscheinen, statt in den maßgebenden statistischen Quellen; warum er keine anderen Krisentheoretiker (etwa Robert Benton, Giovanni Arrighi, David Harvey usw. ) zitiert und auch der Name Postone bei ihm nicht vorkommt. Wer – Postone oder Kurz – hat eigentlich mit der Wertkritik angefangen (in der Negri Ende der 70er-Jahre schon viel weiter gekommen war, als er heute ist)? Haben sich die beiden nicht seit langem gekannt? Wieso ist Postone hauptsächlich in Deutschland bekannt und Kurz nur ins Italienische und Portugiesische (Brasilien) übersetzt?
(… )
Der Begriff des Eigenwerts (meine Übersetzung von „valeur intrinseque“) stammt von Gabriel Tarde. Er sagt z. B. , dass ein Buch als materielle Ware wohl einen Arbeits- und Tauschwert hat, sein literarischer Inhalt und [die] übrigen Kunstwerke (das steht auch bei Marx) kein Warenäquivalent haben, nicht teilbar, tauschbar usw. sind, sondern ihrer selbst willen etwas „wert sind“, das sich nicht in ökonomischen Kategorien messen lässt. Also: Nicht-Waren. Die können natürlich trotzdem vermarktet werden, wobei ihr Eigenwert zugunsten eines spekulativen Sammlerwerts entwertet bleibt. Ob alles Gute und alle Güter Eigenwerte sind, denen der Warencharakter nicht passen kann, ist für mich so generell nicht entscheidbar.
Ich habe bemerkt, dass Du in den letzten Streifzügen [Nr. 35] mir punkto Existenzgeld einen besonderen Raum einräumst. Das war sehr lieb von Dir. In „Wissen, Wert und Kapital“, dort, wo es am Ende des 3. Kapitels um Existenzgeld geht, wird es gar nicht mehr als universales Verteilungsmittel und Tauschmittel begriffen, sondern als Verteilungsmedium von Reichtümern, deren Herstellung nicht lokal und kooperativ als Gemeinwesenunternehmen möglich ist, also ihrem Wesen nach rar bleibt. Ich habe schon früher bemerkt, dass für Dich wie auch für Stefan Meretz aller Mangel behebbar ist. Daran glaube ich nicht. Das würde voraussetzen, dass alles Nötige in ausreichenden Mengen erzeugbar ist. Nun, wo das nicht der Fall ist, ist Geld das falsche Verteilungsmedium: Es würde allein den Tauschwert der Mangelgüter in die Höhe treiben. Das richtige Verteilungsmedium wären Gutscheine. Du hast die Rationierung alles Lebensnotwendigen in der (Nach)Kriegszeit nicht erlebt. Dank ihr gab es endlich die Gleichheit – gleiche materielle Rechte – aller (sofern kein schwarzer Markt da war, und den gab es in England nicht).
Wie immer stellt sich für die Abschaffung der Geld- und Warenbeziehungen die Frage des Übergangs. „Wenn genug da ist für alle… „, schreibst Du. Aber wird genug da sein für alle, wenn die Warengesellschaft zusammenbricht? Wenn die Produzenten nicht mehr Waren ihres Geldwerts zuliebe erzeugen können, werden sie weiter Güter im heutigen Ausmaß erzeugen? Oder werden sie dafür sorgen, dass es nur noch Mangelwaren gibt, die einen überhöhten Tauschwert erreichen? Das hatten „wir“ bis in die 50er-Jahre in Frankreich und Deutschland.
„Was gilt es zu ermöglichen und zu garantieren? „, schreibst Du, „das Leben oder das Kaufen? “ That’s the question. Die einen kaufen sich ihr Leben, die anderen verkaufen es, um – paradoxerweise – nicht zu krepieren. Wie können wir die Überlegenheit einer Gemeinwohlökonomie praktisch beweisen? Bevor es zu spät ist?
10. August 2006 an A. E.
Wenn es Ihnen Recht ist, werde ich den Abschnitt „Die Vielgestaltigkeit von Existenzgeld“ im Kapitel III/4 von „Wissen, Wert und Kapital“ [Rotpunkt Verlag, Zürich 2004] wiederaufarbeiten. Ihre Kritik an den meisten Vorstellungen vom Grundeinkommen teile ich durchaus.
7. November 2006 an F. S.
Sei mir bitte nicht böse. Meine Frau und ich haben die miserabelsten sieben Monate unseres Lebens hinter uns. Beide waren wir aus unterschiedlichen Gründen in einem Zustand der Erschöpfung, von der Umgebung abgesondert. Deine wiederholten Versuche, den Kontakt wieder aufzunehmen, habe ich geschätzt sowie die besondere Stellung, die Du mir in der Debatte über Grundeinkommen und Existenzgeld eingeräumt hast. Dafür danke ich Dir jetzt verspätet. Zur Zeit hatte ich nicht einmal genug Kraft, um täglich die Zeitung zu lesen. Jetzt erholen wir uns in diesem Thermalort. Es wird schon für einige Zeit wieder weitergehen.
In Deinem letzten Brief ging es unter andrem über die Möglichkeit einer Neuausgabe einiger vergriffener Bücher von mir. Ich hab sie mir kurz angeschaut und bin der Meinung, dass sie neben noch Gültigem viel (zu viel) Obsoletes enthalten. Lieber sollte ich versuchen, eine Auswahl von Texten zusammenzustellen, und zwar thematisch geordnet auf höchstens 300 Seiten. (… ) Aber es werden Monate vergehen, bevor ich diese Zusammenstellung fertig habe. Solltest Du diesbezügliche Anregungen oder Wünsche haben, wäre ich Dir dankbar dafür. Einige meiner Schriften kennst Du ja besser als ich!
Lieber Franz, ich hoffe in einiger Zeit den „Ideenaustausch“ (wie es auf Französisch heißt) mit Dir wieder aufzunehmen. Die Streifzüge sind mir sehr wichtig, es freut mich zu hören, dass sie an Boden gewinnen.
13. Jänner 2007 an A. E.
Entschuldigen Sie bitte die Verspätung – und vielen Dank für Ihre Geduld. Das Papier hat ca. 18.000 Anschläge. Wenn Ihnen ein seriöserer Titel lieber ist und einfällt, werde ich nichts dagegen haben. Der Artikel hier [gemeint ist sein Buchbeitrag „Seid realistisch – verlangt das Unmögliche“ in „Grundeinkommen. Soziale Sicherheit ohne Arbeit“, hg von A. Exner, W. Rätz, B. Zenker, Deuticke-Verlag, 2007, Vorabdruck in Streifzüge 40, den er zugleich mit einem Begleitschreiben, aus dem Obiges zitiert ist, übermittelte] ist eher eine Diskussion mit einigen Gegnern und mit mir selbst. Er entspricht nicht mehr dem, was Sie von mir erwarteten. Gegenüber der (auch hier zitierten) Stellungnahme im 2000 bei Suhrkamp erschienenen Band [Arbeit zwischen Misere und Utopie, Suhrkamp Edition Zweite Moderne (Hg. Ulrich Beck)] habe ich meine Meinung geändert. Das kam schon am Ende von „Wissen, Wert u. Kapital“ zum Ausdruck. Die wenigsten bemerkten es.
In Ihrem Streifzüge-Artikel (von 2004, Nr. 32) zitieren Sie den Artikel von Robert Kurz in krisis 19. Ich habe mich immer gewundert, wie er sich einen graduellen, glatten Übergang zum Post-Kapitalismus, mit einer dual-ökonomischen Übergangsphase vorstellen kann. Vor 10 Jahren (und 20 Jahren) wagte ich das auch, kam jedoch zum Schluss, dass das Unsinn ist. Man kann den Kapitalismus nicht heimlich abschaffen, ohne dass er das gleich erkennt. Das krisis 19 Heft muss ich mir jetzt unbedingt beschaffen.
2. April 2007 an A. E.
Vor einiger Zeit hat mir Bammé zwei seiner (noch nicht veröffentlichten? ) Artikel geschickt (FN A. G. : Arno Bammé: Arbeiten, Lernen, Leben. Zur aktuellen Begrifflichkeit sozialhistorischer Entgrenzungen (20 Seiten; 2005); Wahrnehmen, Denken, Handeln. Zur Soziologie der Handlungsträgerschaft von Technik (40 Seiten; 2005)). Sie sind interessant. Seinen sie begleitenden Brief habe ich verlegt, kann folglich seine Anschrift nicht finden. Das 1983 erschienene Buch, in Zusammenarbeit mit anderen Autoren verfasst, war bahnbrechend… (FN A. G. : Arno Bammé u. a. : Maschinen-Menschen, Menschmaschinen. Rowohlt, 1983)
5. Juli 2007 an A. E.
Vielen Dank auch für die Kasette. [Gemeint ist der Mitschnitt einer Ö1-Radiosendung (Sendereihe „Diagonal“, ORF) anlässlich der Publikation von „Brief an D. Geschichte einer Liebe“, Rotpunkt-Verlag, Zürich 2007), am 7. Juli 2007. ]
(… )
Die Sendung [war] hauptsächlich biographisch, wobei die im „Verräter“ befindlichen Seiten über die Tage nach dem „Anschluss“, die sklavische Unterwerfung der Wiener, die plötzlich alle mit Hakenkreuzen auf der Brust und „Heil Hitler“ im Mund herumliefen und ihre arische Überlegenheit in der sadistischen Behandlung älterer jüdischer Frauen bewiesen, natürlich nicht zitiert wurden.
Lieber Andreas, ich bemerke, dass Sie 50 Jahre jünger sind als ich, gerade geboren waren, als Illich in „Technologie und Politik“ Nr. 1 einen 1972 verfassten Text veröffentlichte, der mich begeistert hat. [Ivan Illich: Ansatz zu einer radikalen Kritik des Industriesystems, Technologie und Politik, aktuell-Magazin Nr. 1, S. 3-11, Rowohlt, 1975 (hg. von Freimut Duve). André Gorz war Mitarbeiter dieser Zeitschrift. ] Seither habe ich auch viel Blödsinn geschrieben, zuletzt (1996) über Tauschkreise. Viel zu spät habe ich die „Wertkritischen“ entdeckt, das verdanke ich Stefan Meretz.
Für krisis 19 muss ich mich noch einmal bedanken. Dass die Überwindung des Kapital-/Warenverhältnisses damit beginnen kann, Gebiete dem Kapitalismus zu entziehen und in ihnen selbstorganisierte Selbstversorgung jenseits von Markt und Geld zu betreiben und von den entzogenen Gebieten stromaufwärts andere, komplementäre zu besetzen, erinnert mich an den schwedischen Meidner Plan. Die Frage ist: Wie lange werden sich das die herrschenden Mächte ansehen? Bergmann hat die Frage aufgeworfen. Norbert Trenkle auch (in krisis 15). Machbar dürfte dieser „lange Marsch“ nur in Situationen des Zusammenbruchs sein, wenn bereits Kristallisationskerne einer Antiökonomie bestehen. Immerhin – der Kurz-Essay in krisis 19 bekräftigt mich in der Meinung, dass die Trennung zwischen Produktion und Konsumtion – Produzenten und Konsumenten – das größte Hindernis auf dem Weg aus dem Kapitalismus hinaus ist. Was ich diesbezüglich geschrieben habe, gibt es nur auf französisch und z. T. englisch.
20. September 2007 an F. S.
Die letzten Streifzüge und krisis-Hefte fand ich besonders interessant.
Leb wohl mein Freund, und mach weiter so.
Sei umarmt, André
Am 24. September ist André Gorz gemeinsam mit seiner Frau Dorine aus dem Leben geschieden.
(1. NOVEMBER 2007)