Ignoranz
Streifzüge 69/2017
von Maria Wölflingseder
Immer öfter beschleicht mich ein beklemmendes Gefühl. Ein Gefühl, verursacht von Menschen, die durchaus dem kritischen oder linksliberalen Milieu angehören, von Wissenschaftlern, Publizisten, von Angehörigen der sogenannten „kritischen Intelligenz“ (oder was davon übrig blieb). Von solchen, die auf ihrem Gebiet wegweisende Arbeiten vorlegen, aber dennoch auch große blinde Flecken offenbaren.
Wenn es um Populismus geht, stehen meist Ideologien, Politiker, Parteien und ihre Wählerschaft im Zentrum der Betrachtungen. Die tieferen Ursachen, warum Populismus zur Zeit auf großen Zuspruch stößt, bleiben häufig unterbelichtet. Vielfach wird lediglich in moralisch verwerflicher Manier gekontert, indem Rassismus, Irrationalismus, Fanatismus und Demokratiefeindlichkeit angeprangert werden. Beginnt hier die Ignoranz, die den auf der Strecke der Globalisierung Gebliebenen entgegengebracht wird? Ergebnissen der Ungleichheitsforschung zufolge (vgl. z.B. Branco Milanovic) sind die Reichen weltweit und die Mittelschicht in Asien Gewinner der Globalisierung, während zu den Verlierern die Arbeiterschicht und die Mittelschicht in den USA und in Europa gehören. Milanovic sieht darin einen wesentlichen Grund für den Populismus. – Durch die eigene Betroffenheit bin ich quasi zu einem Messinstrument geworden, das verstärkt wahrnimmt, wie die Umgebung auf die Abgehängten reagiert. Wie sich das Leben unter verschärften Bedingungen gestaltet, vielmehr verunstaltet, das wird von den anderen gekonnt ausgeblendet. Ein gespenstisches Gefühl, wie unter einem Glassturz. Doppelte Ächtung: je mehr einem die ökonomische Existenzgrundlage entzogen wird, desto isolierter.
In den Medien wird zwar gelegentlich erwähnt, dass die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter aufgeht. Aber was heißt das? – Wenn du zu jung und unerfahren, zu alt und überqualifiziert bist, oder wenn dein Name „süd- oder ostländisch“ klingt (auch wenn deine Familie längst in dritter Generation hier lebt) dann hast du wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Auch die Zahl der vollzeitbeschäftigten prekären Working Poor steigt stark. Viele „Neue Selbstständige“ werden durch Burnout oder Panikattacken außer Gefecht gesetzt. Und zur Strafe „Arbeitslosigkeit“ und „Prekariat“ bekommst du schließlich „lebenslänglich“: abzusitzen in der Armutsfalle „Pension zur tristen Aussicht“, Begnadigung ausgeschlossen. – Im Zuge der Globalisierung ist die Nachfrage nach Human Resources, nach dem Produktionsfaktor Arbeit stark gefallen. Besonders starrsinnige Ignoranz herrscht angesichts der Tatsache, dass die Weltgesellschaft durch die digitale Revolution längst zu reich für die armselige kapitalistische Produktionsweise geworden ist. Auf diese Weise alle Menschen zu verwerten, ist weder möglich noch wünschenswert. Hingegen stünde die Globalisierung des Reichtums dringend an. (Und selbstverständlich eine völlig andere Art der Produktion.)
Ab Februar 2000 wurde in Wien zwei Jahre lang Woche für Woche gegen die neue schwarz-blaue Regierung demonstriert. Als ob die vorangegangene rot-schwarze so toll gewesen wäre. Als ob nicht von den USA über England bis nach Deutschland und Österreich überall die linksliberalen Parteien in den 1990er Jahren dem Neoliberalismus Tür und Tor geöffnet hätten! Obendrein wurde von den Demonstranten die konkrete soziale Realität vieler außer Acht gelassen. Bis heute interessieren die bereits von Rot-Schwarz ersonnenen Schikanen der Arbeitsämter und Sozialbehörden gegen die Arbeitslosen niemanden. In den Medien gibt es kaum Berichte darüber – auch nicht in linksliberalen. Keine Gewerkschaft, keine Partei, auch nicht die Grünen machen sich daran die Hände schmutzig. – Merkwürdig, gegen die unweigerlichen Selbstzweifel hilft auch kein noch so großer Vorrat an Selbstsicherheit und Selbstvertrauen! Wen wundert es, wenn viele aus dem Gefühl von Ohnmacht, Minderwertigkeit und Scham anfällig für populistische Ideologien werden.
Die einzigen „Hilfen“, die von der Politik angeboten werden, sind all die blindwütigen Versuche von Antidiskriminierungsmaßnahmen bei gleichzeitig steigender realer Benachteiligung aufgrund ökonomischer Ungleichheit. Neben der Bildung allgemein stehen „Integration“ und „Inklusion“ hoch im Kurs. Jede und jeder Benachteiligte soll und muss eingegliedert werden. Selbst trotz eifriger Vermittlung von „Kompetenz“ und „Empowerment“ werden seit Jahren und Jahrzehnten immer mehr ausgeschlossen. Warum fällt denn dieser haarsträubende Widerspruch niemandem auf? Ist das übrigens nicht auch Populismus?
In den Medien ist öfter die Rede von der Angst, „den Lebensstandard nicht mehr halten zu können“. Im Gegenzug wird oft beteuert – viele Ratgeber handeln davon –, dass es sich doch ohne all den Überfluss an Materiellem viel besser leben würde. Dabei wird geflissentlich übersehen, es geht mitnichten um Luxus. Wohnen, Heizen, Essen – das können sich viele nicht mehr leisten!
Apropos Ratgeber: Hätte es der Neoliberalismus jemals so weit gebracht ohne die Gigatonnen Schmiermittel an esoterischen Ideologien? Hier feiert die Ignoranz gegenüber den sozialen Fakten seit 30 Jahren bei Reich und Arm gleichermaßen fröhliche Urständ. Die beliebtesten Mantren: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ „Du schaffst dir deine Realität selbst.“ „Probleme aller Art sind karmisch bedingt, also auf dein früheres Leben zurückzuführen.“ Oder: „Wenn es dir finanziell schlecht geht, musst du nur deine Geldblockaden auflösen.“
Wie schreibt Walter Grond treffend in seinem Buch „Mein Tagtraum Triest“ über die Situation vor dem Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie: „Vielleicht ist es das Glück der Gegenwart, sich ein Ende nicht wirklich vorstellen zu können, und doch ist es gerade der Verfall, der uns herausfordert oder gleichgültig macht.“
Ist die Präpotenz der Gleichgültigkeit nicht Zunder für den Populismus?
PS: Neulich sagte ich in der U-Bahn zu einem winkenden und Kusshände werfenden Kind: „Du bist aber charmant!“ Darauf seine Mutter in resigniertem Ton: „Leider wissen das die Wenigsten zu schätzen!“ – Das kann ich gut nachvollziehen: Wie durch Wasser schwebte ich früher durch Wien. Ein wonnig-nahrhaftes Bad in soviel schelmisch-verschmitztem Blickplankton. Das hat sich schlagartig geändert, seit die angespannte wirtschaftliche Lage und die Bretter vorm Kopf jede Aufmerksamkeit bannen.