Das Fremde, die Grenze und die Kunst des Nein-Sagens
Streifzüge 69/2017
von Rehzi Malzahn
Ein Gespräch mit der emeritierten Professorin und Ivan Illich-Schülerin Marianne Gronemeyer.
RM: Frau Gronemeyer, in Ihrem Vortrag zur „Macht der Bedürfnisse“ von 2011 kündigen Sie an, die Geschichte des Zaunes schreiben zu wollen. Was ist daraus geworden?
MG: Der Geschichte des Zaunes bin ich insofern näher gekommen, als ich angefangen habe, mich zwar noch nicht mit dem Zaun selbst, aber mit Türen und Fenstern, Schwellen und Wänden zu befassen. Mich beschäftigt das Verschwinden dieser Grenzen, welches die Unterscheidung zwischen Drinnen und Draußen unmöglich macht. Barrierefreiheit gilt als eine bedeutende soziale Errungenschaft, als ein Sieg der Menschenfreundlichkeit über die Rücksichtslosigkeit. Aber was sich für Rollstuhlfahrer als wahrer Segen erweisen mag, ist unter der Hand zu einer machtvollen gesellschaftlichen Norm geworden. Fast muss man sagen, dass die in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen dafür herhalten müssen, die rechtfertigenden Gründe zu liefern, damit die Beseitigung aller Irritationen, Hemmnisse und Verlangsamungen ungehinderten ihren Lauf nehmen kann. Es gibt eine Lust am Niederreißen der Grenzen, die Globalisierung ist im Grunde genommen ja nichts anderes als das.
RM: Ja, aber nur für die Ware. Für die Menschen ist das nicht gedacht, wie wir gerade an der europäischen Abschottungspolitik sehen.
MG: Das große Konzept, das dahintersteht, ist nicht die Frage der Mobilität der Menschen über diese ehemaligen Grenzen hinweg, sondern die weltweite Gleichmacherei, die Welteinheitskultur des Konsumismus. Und dazu müssen die Grenzen zum Verschwinden gebracht werden, denn Grenzen sind die Hüterinnen der Verschiedenheit. Es kommt alles darauf an, welche Vorstellung von der Grenze man entwickelt. Begreift man die Grenze als dasjenige, was das Eigene umschließt zum Schutz gegen ein Draußen, welches dieses Eigene negiert – die Grenze trennt das „Ich“ vom „Nicht-Ich“, das „Wir“ vom „Nicht-Wir“ – dann konstituiert sich das Eigene aus sich heraus und genügt sich selbst. Oder sieht man die Grenze, wie es früher selbstverständlich war, als bedingt durch das angrenzende komplementäre Andere. Dann konstituieren sich das Eigene und das Andere wechselseitig: Ich kann nur „Ich“ sagen mit Bezug auf das Andere. Ich bin auf das jenseitige Andere zu meinem So-Sein angewiesen. Grenzüberschreitungen hin und her sind dann notwendig, damit das Eigene und das Andere sich immer neu aneinander bilden, verwandeln und erneuern können. Und wenn ich über das Andere jenseits der Grenze als komplementär zum Eigenen denke, dann hat die Grenze eine ganz andere Funktion: Dann entsteht sie dort, wo Verschiedenes aneinander stößt, ohne dass sie als Bollwerk aufgerichtet werden muss. Die Verschiedenheit schafft die Grenze, und die Grenze behütet die Verschiedenheit. Das ist eine ganz andere Vorstellung von Grenze, und daraus ergäbe sich eine vollkommen andere Flüchtlingspolitik.
RM: Mir fallen dazu zwei Sachen ein, die beide mit Bayern zu tun haben: das eine ist eine wunderschöne Zornesrede von Heribert Achternbusch, in der er sagt: „Früher war hier Bayern …
MG: … und heute ist hier Welt.“ Den habe ich schon oft zitiert, ja.
RM: Und das zweite ist der bayrische Ausspruch „Mia san mia“, den Charlotte Knobloch kürzlich im Spiegel angesichts der Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen nicht als Ausdruck von Arroganz, sondern als „Freude am Ich“ ausgelegt hat, als eine Sicherheit des Selbst, die erlaubt, das Fremde anzunehmen, weil man weiß, dass es einen nicht verbiegt.
MG: Ja, das passt sehr gut zu dem, was ich versucht habe zu sagen. Wenn wir heute über die vielen Menschen reden, die hierher kommen, dann denken wir in erster Linie an Inklusion, also an Einschluss und an Gleichmacherei, daran, dass sie untergehen sollen in der Unbemerkbarkeit. Auch das Wort Integration, das die Debatten um die Flüchtlinge beherrscht, wird ja nicht in seinem ursprünglichen Wortsinn aufgefasst: integer heißt unversehrt, unangetastet, unvermindert seiner ursprünglichen Beschaffenheit nach. Wenn ich jemanden integriere, dann nehme ich ihn auf, ohne seine Andersheit anzutasten. Wenn ich das über die Grenze Gesagte auf die Flüchtlinge anwende, dann könnte ich sagen: Nicht dass sie so fremd sind, nimmt uns gegen sie ein. Dass Problem ist, dass sie uns so ähnlich sind. Die Welteinheitskultur ist so weitgehend durchgesetzt, dass die Fremden längst wesentlich die Gleichen sind. Sie wollen das Gleiche wie wir: nämlich Teilhabe am Konsum. Unter solchen Gleichen kann es ein Verhältnis der Gegenseitigkeit, der gegenseitigen Ergänzung zu beiderseitigem Nutzen nicht geben. Die Gleichen sind unter den Bedingungen der Konsumgesellschaft unvermeidlich Rivalen.
Es käme also darauf an, die Fremden zu ihrer Fremdheit zu ermutigen. Das würde uns vielleicht ermöglichen, mit einem durch ihre Fremdheit verstörten Blick auf uns selbst zu sehen und uns durch das, was wir vollmundig „unsere Werte“ nennen, zutiefst befremden zu lassen. Es könnte uns helfen, unsere eigene radikal ruinöse Lebensart infrage zu stellen.
Das ist die einzige Chance, die ich sehe, wie man zu so etwas wie einer Ebenbürtigkeit im Miteinander kommen könnte, ohne sich voreinander zu fürchten. Also die Erfahrung der Andersheit zu stärken, anstatt sie zu schwächen.
RM: Mir fällt dazu François Jullien ein, ein französischer Sinologe, der versucht hat, das europäische mit dem chinesischen Denken zu konfrontieren, um es so anders und besser zu verstehen. Genau so eine Befremdung. Er suchte einen Ort, der dieses komplementär Andere zu repräsentieren vermochte. Ich habe darin viel gefunden, das uns in unserer heutigen Situation der Perspektivlosigkeit und Handlungsunfähigkeit, die aus dem Verlust der Zukunft entsteht, helfen könnte. Der Kapitalismus hat es geschafft, insbesondere nach dem Mauerfall, das Denken von Alternativen, überhaupt die Idee von Zukunft, von etwas, das außerhalb von dem ist, wo wir jetzt sind, unmöglich zu machen. Man braucht also eine neue Form, an die Dinge heranzugehen, um wieder eine Perspektive zu entwickeln. Da kann das chinesische Denken hilfreich sein. Anstatt des uns vertrauten Logischen und Dialektischen findet man dort eher die Paradoxalität oder das Umfließen, Ausweichen, Entziehen. Zum Beispiel gibt es diesen taoistischen Grundsatz, „nichts zu tun, während nichts nicht getan wird“. Der Weise handelt/nicht.
MG: Und das ist für uns unglaublich schwer zugänglich, aber wenn wir eine Ahnung davon hätten, dass darin etwas steckt, was uns abhanden gekommen ist, dann wäre ja schon viel gewonnen, weil es uns behutsamer machen würde in unserer Rechtschaffenheitsgewissheit.
RM: Was ich in Bezug auf das politische Handeln da so interessant finde, ist: der Widerstand macht den Gegner stärker, gibt ihm deine Widerstandsenergie. Veränderung muss man also anders angehen.
MG: Das gilt auch für die Kritik übrigens. In dem Augenblick, in dem ich Kritik an etwas äußere, ist die andere Seite schon damit beschäftigt, sie sich einzuverleiben und sie systemkonform zu machen. Die Systemkomplexität nährt sich aus der Kritik. Die Kritik läuft also ins Leere. Man kann heute manchmal nur noch schweigen, um nicht aufgesogen zu werden. Und ich glaube, dass Heimlichkeit eine ganz wichtige Tugend sein wird, um diesem gefräßigen Zugriff zu entgehen.
RM: Also es geht um das Nichtstun ohne nichts zu tun, um es chinesisch auszudrücken.
MG: Das ist das, was ich meine, wenn ich vom Widerstandswort Ohn-Macht spreche: „Lass mich mit deinem Kram in Ruhe, ich will es nicht, Danke nein.“ Die selbstgewählte Ohn-Macht ist inmitten des Machtgerangels radikal widerständig. Canetti hat gesagt, er habe noch nie jemanden kennengelernt, der die Macht attackierte, ohne sie für sich zu wollen. Ohnmacht setzt, anders als die Gegenmacht, die Spielregeln der Macht außer Kraft. Sie begehrt nichts von dem, was die Macht verwaltet, am allerwenigsten die Macht selber. Sie sagt im Angesicht der Macht: „Du kannst mich vernichten, aber beherrschen kannst du mich nicht“. Bei Elias Canetti findet sich eine wunderbare Beschreibung der Ohnmacht: „Wenn die Bakairi mit ihrem Häuptling unzufrieden sind, verlassen sie das Dorf und bitten ihn, alleine zu regieren.“
RM: Wobei ich mit dem Begriff Ohnmacht ein ganz grässliches Gefühl der Verzweiflung verbinde.
MG: Sie ist nicht apathisch oder resignativ. Es ist eine kraftvolle Haltung, wenngleich auch nicht eine, die sich in Tatendurst umsetzt. Wenn man so ein Wort mal um seine eigene Achse dreht, entdeckt man plötzlich eine andere Bedeutungsmöglichkeit. Marcuse sagt, unsere Sprache ist eindimensionalisiert und wir haben unseren Begriffen ihren kritischen Gehalt geraubt. Deswegen muss man ihre verlorenen Bedeutungsanteile suchen und ihnen ihre Ambivalenz zurückgeben. Auch Wörter haben die Fülle ihrer Bedeutung dadurch, dass sie das komplementäre Andere ihres geläufigen Wortsinns mit einschließen.
RM: Das Nichts-tun, das Nicht-produktiv-Sein als letzte Form des Widerstandes. Es ist interessanterweise das, was im Individuum die größten Schuldgefühle hervorruft und in der Gesellschaft den Volkszorn, die Hetze gegen die sogenannten Sozialschmarotzer. Das Nichts-tun ist ein Tabu. Das finde ich, ist ein guter Hinweis darauf, dass da was dran sein könnte.
MG: Allerdings. Und der Verlust der Zukunft hängt damit zusammen, dass wir unsere Möglichkeiten nur noch im Bereich dessen, was wir technisch in den Blick nehmen können, verorten. Das Mögliche, das wir uns vorstellen, ist das, was wir aus unserer Fähigkeit zu machen, ableiten. Aber die Zukunft ist dasjenige, was auf uns zu-kommt, das sind ja gerade die ungeahnten Möglichkeiten. Das Nicht-Ahnbare, Nicht-Vorwegnehmbare, Nicht-Prognostizierbare. Wenn unsere Möglichkeiten nur in dem bestünden, was wir uns in unserem kläglichen bisschen Verstand vorstellen können, dann gäbe es keine Hoffnung mehr. Sie liegen also nicht in dem, was wir leisten können, sondern eher in dem, was wir unterlassen können; vielleicht auch in dem, was wir erleiden, aushalten, tragen können.
RM: Da stellt sich mir ganz massiv die Frage, wie das geht. Es ist ja nichts, was individuell zu lösen ist. Wenn ich einfach beschließe, nichts mehr zu tun, habe ich vermutlich sehr schnell ziemlich viele Probleme und es ändert sich gar nichts. Es ist also etwas, das entstehen muss als eine soziale Bewegung.
MG: Die Kunst des Unterlassens ist natürlich eine Kunst, die geübt werden muss. Unterlassen kann man nicht einfach so. Ivan Illich nennt die Leute, die dieses Unterlassen, die Verweigerung praktizieren, „Refuseniks“, die „Danke-nein-Sager“. Sie wollen nichts von dem, was eine entmündigende Expertenkaste ihnen gewährt, um sie zugehörig zu machen. Sie wollen nicht diagnostiziert, kuriert, sozialisiert, erzogen, untergebracht, zertifiziert, gefördert, geschützt werden, also all diese Zuwendungen, die heute den mächtigen Dienstleistungssektor am Leben erhalten. Das lehnen die ab und sagen: Danke, nein. Und Illich sagt, die Drop-outs können das besser als wir Arrivierte, weil wir so bedürftig sind und so viel zu verlieren haben. Er sagt natürlich nicht, dass alle Drop-outs so sind, sondern einige von ihnen können diesen Weg gehen, und mit denen sollten wir kläglich Saturierten kooperieren und teilen.