Anmerkung zu „Gebrauch“
Streifzüge 70/2017
von Lorenz Glatz
Χρῆμα (Chrêma) schreibt Aristoteles, wenn er „etwas“ meint, das als für Menschen brauchbar, nützlich gilt, zur Grundlage des Lebens und möglichen Reichtums zählt. Es ist ein vom Verb χράομαι (chráomai) – (ge)brauchen, sich etwas zunutze machen – abgeleitetes Substantiv, „Gebrauchswert“, „Nützling“ gewissermaßen. Dieser Gebrauch ist ein Akt herrschaftlicher Verfügung über ein κτῆμα (ktêma), über „etwas, dessen eins sich bemächtigt hat“, ein Vorgang der Versachlichung, Objektivierung, wer oder was immer das Gegenüber auch ist. Die Chremata sind nicht bloß Unbelebtes, sondern Herrschen und Beherrschtwerden ist für Aristoteles die Struktur der lebendigen Natur und findet sich in der (Herstellung und Wahrung der) „Harmonie“ als entsprechendes Bauprinzip auch in der unbelebten. Aktiv – Passiv und Subjekt – Objekt sind – vielleicht erst im Patriarchat entstandene – sprachliche (und damit auch das Denken prägende) Formen, in denen sich diese kosmische „Natur“ festigt. Mann über Frau, Vater über Kinder, Herr über Sklaven – das sind „natürliche“ Dominanzverhältnisse unter den Menschen. In der belebten Natur im Ganzen stehen die Pflanzen den Tieren zur Verfügung, unter diesen aber sind die Menschen Herren. Die unbelebte Natur schließlich dient der belebten. Reichtum ist ein genügender Vorrat (αὐτάρκεια) an für ein gutes Lebens notwendigen und für die Haus- und Polisgemeinschaft nützlichen „Gebrauchswerten“ (Chremata), die u.a. auch durch (gerechten) Krieg zu verschaffen sind. Die Verfügung darüber, die Kunst des Gebrauchs (χρηστική – chrestiké), ist top-down organisiert. Geschieht sie nicht naturgemäß, muss sie korrigiert werden, aktiv vom Herrn am passiven chrêma / ktêma.
Bald zweieinhalb Jahrtausende später ist diese statische Sicht, was die Menschenwelt betrifft, spezifisch dynamisiert. Das lange Zeit in einer hierarschichen Gesellschaft lebende ζῶον πολιτικόν (zôon politikón) erscheint nunmehr verwickelt in die Kämpfe von Klassen (am bekanntesten durch den Marxismus) und anderer sozialer Pole der Herrschaftsverhältnisse, es ist ein unentwegter Kämpfer im bellum omnium contra omnes (Krieg aller gegen alle, Thomas Hobbes), auf dem Schauplatz blutiger Gewalt ebenso wie im kleinlichen Hickhack der alltäglichen Konkurrenz in allen Bereichen des Lebens.
Herren „von Natur aus“ und Reichtum im „naturgemäß“ begrenzten Rahmen menschlichen Nutzens sind obsolete Konzepte. Der für Aristoteles noch „widernatürliche“ Reichtum unendlicher Anhäufung von Geld hat sich als die Welt be-Herr-schende Ordnung etabliert und sich der „Chremata“ bemächtigt. Dieser Herr erscheint geisterhaft in den nur in stetem Wachstum „göttlich lebendigen“ Quantitäten gebuchten Gelds und verkörpert sich im souveränen, freien Ich seiner Sklaven. Deren Zugang zum Geld, dem Götzen und Herrn auch alles dessen, was ihnen als nötig und „brauchbar“ im Leben erscheint, hängt ab von ihrer eigenen (und sei sie noch so indirekten) „Brauchbarkeit“ für die auf Unendlichkeit angelegte Anverwandlung der beherrschten „Natur“ an den Weltherrscher Geld. Und „Natur“ ist für das Geld-Ich alles, vom eigenen Leib bis zu den Sternen hoch.
Wo Herrschaft ist, lebt auch Befreiung. Schon in der Antike fanden Sklaverei und Patriarchat oft erbitterte Gegner. Auch die Geschichte des Kapitals ist zugleich eine der Bemühung um seine Überwindung, eine Geschichte auch des Denkens, was und wie denn eine Welt ohne Herrschaft wäre. Das Denken der Befreiung muss jedoch angesichts der inneren Schranken der Kapitalverwertung und angesichts des allseitigen Zerstörungswerks der modernen Herrschaft noch stark an Radikalität gewinnen. So hat z.B. noch Karl Marx, der stellenweise durchaus die ökologische Destruktivität der kapitalistischen Produktionsweise benannt hat, unter den positiven Folgen von deren Überwindung „die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl wie seiner eignen Natur“ (MEW 42; 395 f.) genannt. Hier erweist sich „Befreiung“ noch als ein viel zu enges humanoides Konzept. Auch wenn nach einer Überwindung des Kapitalismus nicht mehr bei jedem „Zugriff“ auf die Natur (κτάομαι / ktáomai sich einer Sache bemächtigen – siehe oben κτῆμα / ktêma) allein schon der Gedanke an negative Folgen als Störung des Fortschritts gilt, so ist doch die Betrachtung des „Rests der Welt“ als „Chrema“, als Gegenstand der Gebrauchs / der Beherrschung durch den Menschen absolut inadäquat. Wir sind keineswegs ein privilegierter Teil der Natur. Die Folgen unseres Handelns im Gesamtzusammenhang (in der συμπάθεια τῶν ὅλων / sympátheia tôn hólon der Stoiker) sind prinzipiell nicht absehbar geschweige denn beherrschbar. Der heute weithin übliche Umgang mit unseresgleichen, den anderen Tieren, den Pflanzen und der sogenannten anorganischen Welt (die wir nur negativ benennen können) ist nicht erst seit dem Kapitalismus herrschaftlich-zerstörerisch, sondern wird es bei jeder Praxis, die von „Beherrschung der Natur“ ausgeht, auch nach ihm bleiben. Es geht nicht mehr um den „Zugriff“, um den „Gebrauch“ im Stil des Schmalspurdenken von alter Herrschaft und neuem Götzendienst, sondern um eine immens ausgedehnte (Be)Achtung und Wahrnehmung der menschlichen und der mehr-als-menschlichen Mitwelt, um Vor- und Rücksicht, um Einfügen statt „Gebrauchen“ und um ein Wissen und eine Technik mit solchen erkenntnisleitenden Prämissen.
Hier steht ein Bruch mit nicht weniger als einer in Jahrtausenden gewachsenen Weise des Handelns, Denkens und Fühlens im Umgang mit der Welt an. Dieser Bruch wird sich gerade bei unserem Teil der Menschheit, der sich heute als „entwickelt“ und „fortgeschritten“ begreift, unserer „eigenen Natur“ nicht auf„herrschen“ lassen, soweit damit auch unser seelischer und intellektueller Zustand gemeint sein kann. Es geht um eine Art Neufindung unseres Weltverhältnisses, weg von der Dominanz des Kalküls des „Nutzens“ hin zu mehr Freude und Lust an uns selbst und allem und jedem, was und wer da mit uns ist.