Alles Alte ist besser als alles Neue?
von Tomasz Konicz
Das allgegenwärtige krisenbedingte Gefühl, dass etwas in Auflösung übergeht, dass verfestigte Strukturen und Lager in Bewegung übergehen und sich verflüssigen, hat längst auch die Sphäre des Politischen erfasst. Das etablierte politische Koordinatensystem rechts- und linksgerichteter politischer Parteien und Kräfte scheint hohl und kaum noch mit Substanz aufgeladen. Immer mehr Menschen sehen keine nennenswerten Unterschiede zwischen den einzelnen Parlamentsparteien. Im Internet und seinen in den sozialen Netzwerken herumirrenden Schwärmen werden etablierte politische Begriffe wie bloße Labels behandelt und, je nach Situation und Interesse, mit neuen Bedeutungen aufgeladen. Die Ansicht darüber, was nun politisch links oder rechts ist, kann in den ausgedehnten Wahnräumen des Netzes, wo die Neue Rechte ihre digitale Heimat hat, mitunter täglich, ja stündlich wechseln, was ja letztendlich nur auf die beginnende Auflösung des politischen Koordinatensystems hinweist.
Zum einen ist es die längerfristig wirkende neoliberale Hegemonie, die im Rahmen des „Sachzwang-Diskurses“ den politischen Spielraum immer weiter einengte, sodass in den vergangenen drei Dekaden de facto eine ganz große neoliberale Koalition durchregierte – was zur Unterschiedslosigkeit im Parlament beitrug. Doch eigentlich war der sozioökonomische Spielraum bürgerlicher Politik im Nachkriegszeitalter schon immer begrenzt. Auch von den 1950er- bis in die 70er-Jahre hielten sich alle Regierungsparteien, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, an die damals hegemonialen keynesianischen Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Aktuell kommt noch die Taktik der Neuen Rechten hinzu, insbesondere in den sozialen Netzwerken gezielt die Grenzen zwischen links und rechts zu verwischen („Linksfaschisten“, „Rote SA“ etc.), um so die Akzeptanz der populistischen und extremen Rechten zu erhöhen. Dennoch sollten hierbei Ursache und Wirkung nicht verwechselt werden: Die Rechte instrumentalisiert unbewusst eine gegebene Dynamik im Überbau spätkapitalistischer Gesellschaften.
Linker Egalitarismus und rechte Eliten
Ihren Ursprung hat die Einteilung der politischen Kräfte in linke und rechte Parteien – wie so vieles – in der Französischen Revolution. Schon die Sitzordnung der ersten französischen Nationalversammlung von 1789 bis 1791 war gekennzeichnet durch eine grobe Teilung in revolutionär und/oder republikanisch gesinnte Kräfte, die auf der linken Seite Platz nahmen, und konservative, monarchistische Kräfte, die auf der rechten Seite der Nationalversammlung beheimatet waren. Diese räumliche Bezeichnung verselbstständigte sich mit der Zeit: Diejenigen Kräfte, die die Dynamik der Französischen Revolution weiter anfachen wollten, wurden als die Linke bezeichnet, während die bremsenden, konservativen oder restaurativen Kräfte als die Rechte benannt wurden. Und diese Unterscheidung zwischen progressiven und konservativen Kräften bildet auch die zentrale Achse des seit dem 19. Jahrhundert etablierten politischen Koordinatensystems: Die Linke agierte politisch progressiv, fortschrittlich, vorwärtsdrängend, während die Rechte konservativ ist, den Status quo bewahrend, oder gar reaktionär. Die Linke betont das Werden, das Gemeinsame der Menschheit, die Zivilisation; die Rechte hält am bestehenden Sein fest, am Besonderen, an den Unterschieden, an der Kultur.
Der Kampf zwischen linkem Egalitarismus und rechten Eliten kennzeichnet nach der Ausrufung der allgemeinen Menschenrechte die Geschichte des politischen Systems seit dem „Zeitalter der Revolutionen“ (Hobsbawm) im 19. Jahrhundert. Etablierte Machtstrukturen, die von der Rechten verteidigt wurden, sind von der Linken um der intendierten Emanzipation immer größerer Bevölkerungsteile willen bekämpft worden. In ihrer radikalen Avantgarde galten den Linken diese politischen Kämpfe auch als ein Mittel zur Überwindung des kapitalistischen Systems, insbesondere der Arbeiterklasse wurde dabei eine objektive historische Funktion als ein „revolutionäres Subjekt“ zugesprochen. In der Praxis lief aber dieser Emanzipationsprozess auf die rechtliche Gleichstellung und soziale Verbesserungen für zuvor marginalisierte oder verfolgte Gruppen innerhalb des kapitalistischen Systems hinaus. Die Hoffnung auf ein revolutionäres Subjekt innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft hat mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus einen historischen Rückschlag erlitten. Bei der Gleichstellung zuvor marginalisierter Gesellschaftsgruppen innerhalb des Kapitalismus wurden aber tatsächlich – zeitweilige – Erfolge erzielt: von der Arbeiterklasse, die spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg im Kapitalismus vollauf integriert wurde, über die Frauenemanzipation bis zu dem weiterhin andauernden Kampf gegen die Diskriminierung ethnischer oder sexueller Minderheiten.
Vollauf verständlich wird dieser historische – wenn auch unvollendete – politische und rechtliche „Emanzipationsprozess“, den die Linke binnenkapitalistisch geleistet hat, nur bei Berücksichtigung seiner Wechselwirkung mit der Sphäre der kapitalistischen Ökonomie. Die rechtliche Gleichstellung immer neuer Gesellschaftsgruppen ging mit deren Integration in das expandierende System der Lohnarbeit einher – solange auch das Kapital expandierte und immer größere Quanta Lohnarbeit verwertete. Die Linke brachte zumindest in den Zentren des Weltsystems somit Überbau und Basis in Einklang, indem sie überall dort die politischen und sozialen Rechte von Gruppen erkämpfte, die in der historischen Aufstiegsbewegung des Kapitals in das System der Lohnarbeit integriert wurden. Die Rechte hingegen wollte Ausbeutung ohne Rechte, ohne Gleichstellung, ohne soziale Teilhabe – sie wirkte zunehmend kontraproduktiv, vor allem im Nachkriegszeitalter, der goldenen Ära des Sozialdemokratismus, als Massennachfrage die extreme Expansion der Kapitalverwertung ermöglichte. Für das globalisierte Kapital sind somit alle gleich – als „Humankapital“, das im Optimalfall unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder sonstigen Nebensächlichkeiten möglichst effektiv ausgebeutet werden soll.
Krisenideologien
Doch zugleich ist es inzwischen evident, wie prekär diese „Fortschritte“ gewesen sind, die im Rahmen der widerspruchsgetriebenen fetischistischen Verwertungsbewegung des Kapitals erkämpft wurden. Die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die in der Tendenz eine ökonomisch überflüssige Menschheit fabriziert, macht die etablierte politische „Rollenverteilung“ unmöglich. Die rechtliche Gleichstellung von Minderheiten geht seit der neoliberalen Wende ja einher mit krisenbedingter sozialer Zerrüttung, mit massenhafter Prekarisierung. Sobald die historische Expansionsbewegung des Kapitals aufgrund ihrer inneren Widersprüche zu stocken begann, das Aufsaugen von Lohnarbeit in der Warenproduktion in deren Abschmelzen umschlug, brach die ökonomische Basis dieser linken binnenkapitalistischen Scheinemanzipation zusammen. Dasselbe widerspruchszerfressene Kapitalverhältnis, das keine Unterschiede bei der Ausbeutung von Menschen machen muss, heizt in seiner Krise die Konkurrenz und entsprechende Krisenideologien an, die sich gegen Minderheiten richten, die als Konkurrenten auf den Märkten wahrgenommen werden.
Die Rechte identifiziert sich mit dieser Krisenkonkurrenz, indem sie sie mit Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Kulturalismus etc. auflädt und der Mehrheitsgesellschaft die ideologischen Legitimationen für die krisenbedingte Marginalisierung von Minderheiten liefert. Die Inklusion schlägt in ihr Gegenteil, die Exklusion, um (der rechte Hass auf „Gutmenschen“ speist sich aus dem auch in der Krise von aufrechten Linken betriebenen Kampf um Gleichstellung von Minderheiten). Die reell ins Barbarische treibende Krisendynamik erzeugt somit den Anschein, als ob die Rechte jetzt vorwärtsdränge, als ob sie voranschreite – sie tut es nur auf den Abgrund zu. Weite Teile der Linken, die den Krisenprozess weiterhin nicht in seiner Tiefe erfassen wollen, sind jetzt rückwärtsgewandt, konservativ; sie wollen entweder zurück in die „heile“ kapitalistische Welt der keynesianischen Nationalstaaten der 50er- oder 70er-Jahre oder zurück in die DDR und Sowjetunion. Die Uhren sollen – ein absurder, unrealisierbarer und letztendlich selbstmörderischer Anachronismus – zurückgedreht werden. Schon der Zusammenbruch des real existierenden Staatssozialismus – der eigentlich nur der Vorschein der gegenwärtigen Krisenära war – hat eine regelrecht konservative Linke hervorgebracht, die angesichts der neoliberalen Offensive eine bekannte Brecht’sche Maxime einfach umkehrte. Frei nach dem Motto: „Alles Alte ist besser alles das Neue“. Da der anachronistische Zug in eine idealisierte Vergangenheit an der Krisenrealität zerschellen muss, drohen diese konservativ-linken Kräfte ähnliche Krisenideologien auszubilden, wie sie innerhalb der Rechten ausgebrütet werden: wo die Personifizierung der Krisenursachen (Ausländer, Juden, Muslime, Russen, Amis, Außerirdische etc.) mit einer Naturalisierung der Strukturen, Formen und Vermittlungsebenen des Kapitalismus einhergeht. Zumeist wird in dieser nach „rechts“ umfallenden, postsozialdemokratischen Linken argumentiert, dass der Sozialstaat nur im nationalen Rahmen, bei geschlossenen Grenzen, aufrechterhalten oder ausgebaut werden könne.
Notwendige Transformation
Der Krisenprozess lässt keinen sozialen „Fortschritt“ im Rahmen des Kapitalismus mehr zu – deswegen bricht diese politische Frontstellung auseinander, deswegen müsste die Linke zu einer kategorialen Kritik des Kapitalismus, zu einer transformatorischen Praxis übergehen. Der direkte oder vermittelte Terror gegen eine beständig anwachsende, ökonomisch überflüssige Menschheit ist der einzig gangbare barbarische Weg innerhalb des im Zerfall begriffenen Systems. Dessen zivilisatorisch überlebensnotwendige Überwindung ist somit kein linker „Radikalismus“, sondern blanke praktische Notwendigkeit, die sich aufgrund der Eigendynamik der eskalierenden Widersprüche unabhängig vom Bewusstseinsstand der Massen oder den konkreten politischen Kräfteverhältnissen quasi von selbst stellt. Nicht der Blick zurück, sondern der Blick nach vorn, über den Kapitalismus hinaus, könnte noch den tiefen Absturz in die Barbarei verhindern. Die Linke müsste also vor allem in Reaktion auf die zunehmenden ökonomischen und ökologischen Krisentendenzen eine breite Debatte über eine postkapitalistische Gesellschaft initiieren, anstatt an den überkommenen, ohnehin in Auflösung befindlichen Gesellschaftsformen festzuhalten. Nicht weil es radikal wäre, sondern weil es objektiv notwendig ist, weil das System seiner Krisendynamik gemäß in die Barbarei führt – aus der ins Extrem getriebenen Systemlogik heraus.
Von Tomasz Konicz erschien zum Thema Krise zuletzt im Konkret-Verlag das Buch „Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft“.