Mein doppelter Alltag
von Ilse Bindseil
1
„Der Alltag hat uns wieder“: ein trister Befund, der nicht selten mit einer gewissen Zufriedenheit konstatiert wird, was auf Ambivalenz deutet. Sind wir so abgerichtet, dass wir uns eins fühlen mit dem, was uns unterdrückt?
Der Alltag hat uns. Aber seine große Stunde hat er, wenn sich Außerordentliches unser zu bemächtigen droht, Krankheit oder Tod. Da kehrt er seinen Pakt mit dem Leben, seine Zugehörigkeit zur Biologie heraus: Alltag ist Leben. In der Grenzerfahrung wird aus dem tristen Kompromiss mit dem Leben, wie es nun einmal ist, das Leben an sich.
Ich erinnere mich an den unsäglichen Rohrgeruch in der Schule, die mein Arbeitsplatz war, wie er nach finsterer Krankheit vom Inbegriff einer trüben Fremdbestimmung zum Beweisstück des Überlebens mutierte: Ich bin wieder da, nicht zu glauben, aber ich bin wieder da! Ich erinnere mich – und das ist lange, lange her –, wie ich mit einer kritischen Benachrichtigung in der Tasche zur unseligen Mittagszeit Unterricht hielt. Um die aufflammende Panik zu verbergen, ging ich nach ganz hinten bis zur letzten Reihe, wo ich mich an Philipps Stuhllehne festhielt. Auf diese Weise stabilisiert, warf ich einen Blick über die Reihen unruhiger Achtklässler und dachte: Wenn ich wieder herkommen könnte, das wäre der Himmel.
Alltag ist in nicht geringem Umfang Arbeit. Wenn die Bedrohung elementar genug ist, wird er in mythologischer Umkehrung seiner Monotonie zur Lebensgarantie. Was ständig ist, kann doch nicht aufhören, sagt man sich. Ihm fehlt ja der innere Antrieb, das Kippmoment.
Bei der Unterredung mit einem Onkologen, an der ich nur als Begleitung teilnahm, kam es zu einem Augenblick wundersamer Intimität, als der Arzt, nachdem er den ausnehmend günstigen Zwischenbefund mitgeteilt hatte, auf die dringliche Frage meiner Freundin nach Wiederaufnahme der Arbeit, Wiederherstellung des Alltags, antwortete: „Machen Sie das, wie Sie es möchten. Aber ich sage Ihnen: Der Krebs kommt wieder.“ Und in die Pause, als sähe er in das Innere meiner Freundin: „Auch wenn Sie arbeiten, kommt er wieder.“
Klar, sagt sich der Gesunde, schließlich, was hat der Krebs mit der Arbeit zu tun? Aber von der anderen Seite sieht die Sache anders aus. Da hat der Alltag geradezu mythische Kraft: er kann das Böse abhalten.
Die Soziologie hat sich die Zerstörung dieses Mythos zum Anliegen gemacht, indem sie den Alltag als eine unvermeidliche Begleiterscheinung, womöglich die wahre Natur von allem Grenzwertigen herausarbeitet: Alltag in Auschwitz, Alltag auf der Intensivstation, im Knast, in der Wüste, in der Todeszelle und so fort; das hat meinen unangenehmen Eindruck von ihr, dass sie, indem sie sich der lebendigen Gesellschaft zuwendet, etwas Totes aus ihr macht, befestigt. Umgekehrt wirbt die abhängige Arbeit in den Anzeigen der Werbeindustrie mit dem Epitheton „abwechslungsreich“, so als wäre mit der Monotonie der Arbeit auch die Monotonie der Abhängigkeit gebrochen und der Profiler, der bezahlte Söldner, der CEO gleich welcher Couleur ein Beweis, dass es auch ohne geht: ohne lästige Wiederholung und dabei immer noch unter Befehl.
Bleibt als Bauchgefühl, dass Alltag und Selbstbestimmung nicht zusammenpassen wollen. Mag noch so geschmeidig von der selbstbestimmten Gestaltung des Alltags geredet werden‚ etwas sträubt sich in uns, uns den Zugriff auf eine Lebensform, eine Herrschaftsform, einen Zustand einzubilden, eine Struktur, die bis in die groteske Wortbildung hinein den unauflösbaren Pakt zwischen All und Nichts, Raum und Zeit, Sinn und Blödsinn verkörpert. In seinem Bemühen, die als verrückt etikettierte Tochter sich nicht ausklinken zu lassen, schildert James Joyce, „wie besorgt er sei, dass es ihr auch in physischer Hinsicht schlecht gehen werde, ,wenn und falls sie ihren Blick endgültig von den blitzerhellten Träumereien ihrer Hellsichtigkeit abwendet und ihn auf diese zugerichtete Kutschervisage, die Welt, richtet‘“ (zitiert von Carol Loeb Shloss, Lucia Joyce. Die Biographie der Tochter, München 2007, S. 446 und, wörtlich wiederholt, S. 564). So, stelle ich mir vor, mag der Alltag denen begegnen, deren Sensorium für die gleichzeitige Trivialisierung und Verrohung der Welt durch keinen Filter geschützt ist. „Diese Alltage überleben“, der Titel des „Lesebuchs 1945–1981“ (hrsg. von Monika Walther, Münster 1982), der mich über Jahrzehnte begleitet hat, so dass ich nicht mehr wusste, worauf, ein Buch, ein Bekenntnis oder Geständnis, er sich bezieht, ist für mich dagegen mit dem stillen Wahn der Nachkriegsepoche verschmolzen. Überleben schien mir wie die stehen gebliebene Perspektive derer, die den Krieg überlebt hatten und für die sie nur noch Tristesse bedeutete. Verführerisch daher die situationistische Rede vom Bruch mit dem Alltag, dem doch selbst ein fatales Moment von Wiederholung eignet. Immer wieder brechen: gibt es einen schnelleren Takt, eine härtere Gangart? Gleichzeitig will der Verdacht bearbeitet werden, dass Monotonie und Wiederholung nicht das Gleiche sind. Alltag und Alltag auch nicht?
2
Gegen die „zugerichtete Kutschervisage der Welt“ habe ich, ein Produkt ganz und gar der Nachkriegsmoral, die Strategie des doppelten Alltags gesetzt: „ihr“ Alltag und „mein“ Alltag. „Ihr Alltag“, an dem ich eifrig partizipierte, enthielt Sonn- und Feiertage, Ferien, Auszeiten aller Art, kurze und längere, geschenkte und gestohlene. Die Tage, um es biblisch auszudrücken, umfassten Nacht und Tag. „Mein Alltag“ enthielt nichts dergleichen. Kein Wunder, könnte man sagen, denn „mein Alltag“ besetzte ja die Freiräume, die „ihr Alltag“ ließ. Außerdem war er kreativ und selbstbestimmt.
Meine Hausärztin, politisch, wie das in Berlin möglich ist, durchaus eine Verfechterin des Bruchs, verzieht angewidert das Gesicht, als ich auf ihre beherzte Krankschreibung wegen nicht enden wollender Grippe dankbar äußere: Dann kann ich endlich mal in Ruhe arbeiten. Was gibt sie sich überhaupt mit mir ab! – Warum hast du nicht einfach die Klappe gehalten, warf ich mir hinterher vor, kein Mensch will benutzt werden! Aber auch ich wollte wahrgenommen werden. Tages Arbeit, abends Feste, so ging es bei mir nun einmal nicht zu.
Dass es feiertags bei mir so zuging wie bei anderen Leuten im finsteren Alltag nicht, hängt mit meiner felsenfesten Überzeugung von der Natur der Begabung zusammen: man muss sie üben. Anders ausgedrückt, man muss ihr jene kritische Masse an Fähigkeiten und Kenntnissen zur Verfügung stellen, die sie aus der Potenz herausholt und in den Stand setzt, etwas hervorzubringen, einen Ton, einen Gedanken oder die berühmte Lösung, von der Poincaré in seinem Kapitel über „Die mathematische Erfindung“ spricht. „Das Auftreten dieser plötzlichen Erleuchtung ist sehr überraschend, wir sehen darin ein sicheres Zeichen für eine voraufgegangene, lange fortgesetzte unbewusste Arbeit; die Wichtigkeit solch unbewusster Arbeit für die mathematische Erfindung ist unbestreitbar (…) Man könnte sagen, die bewusste Arbeit sei deshalb fruchtbar gewesen, weil sie unterbrochen wurde und weil die Ruhe dem Geiste neue Stärke und Frische gegeben hat. Aber es ist wahrscheinlicher, dass die Zeit der Ruhe durch unbewusste Arbeit ausgefüllt wurde und dass das Resultat dieser Arbeit sich dem Mathematiker später enthüllte.“ (Wissenschaft und Methode, Leipzig und Berlin 1914, S. 44) Dem Gehirn wird ein Fundus zur Verfügung gestellt, aus dem es sich bedienen, es wird ihm ein Unbewusstes zugrunde gelegt, in dem es sich tummeln kann; je mehr es für sich ist, desto besser. Aber nur wenn der Wissenschaftler ihm seinen Tag geopfert hat, kann es nachts tätig sein, ab und zu mit erstaunlichem Ergebnis: „Heureka, ich hab’s!“ Wer schreibt, kann sich nur dann einer Art écriture automatique bedienen, wenn er sich mit seiner bewussten écriture abgeplagt hat. Es muss eben ein Es vorhanden sein, damit ein Ich daraus werden kann. Zum verschwindenden Teil ist es mein Ich, zum größten, wie wir alle wissen, das Ich der Klarinette, der Farben, der Zahlen. Das muss seinen Alltag haben wie wir unsern. Bloß dass es zwischen der selbstbestimmten Welt des freien Schaffens und mir genau die gleichen Interferenzen gibt wie zwischen mir und der Welt: beide kehren sie bei Gelegenheit die „Kutschervisage“ heraus.
3
Da ich nicht wie der Mathematiker auf die Fuchsschen Gruppen verweisen kann, will ich versuchen, mit einer Anekdote deutlich zu machen, wie mir Erleuchtung zuteil wird, nämlich ebenfalls in einer Mischung aus Trivialisierung und Verrohung.
Wie habe ich, aus einer Medizinerfamilie stammend, mich über die Paranoiker lustig gemacht, die hinter jedem Tod einen Mord wittern, Männer zumal. „Der Arzt hat meine Frau umgebracht“, wenn das nicht Mythologie pur war! Plötzlich – nachdem ich monatelang mal über den Tod, mal über ganz anderes nachgedacht habe – geht mir auf: Von dem Moment an, wo wir den Tod abgeschafft haben, ist jeder Tod ein Mord, es sei denn, es stirbt niemand mehr. Das ist eine schiere Frage der Logik, und von wegen primitiv: „Der Arzt hat meine Frau umgebracht.“ Wenn’s nicht die Natur war, dann kann es nur der Arzt gewesen sein. Die Natur darf’s nicht mehr, der Arzt soll’s bloß nicht sein. Dennoch ist die Frau gestorben. Wer auf der Höhe des gesellschaftlichen Bewusstseins bleiben möchte, der wird den Arzt zur Rechenschaft ziehen. Komisch, die Mythologie auf der Seite des Fortschritts: was das noch werden soll? So denke ich vor mich hin, während mein Gehirn sich in seinem Unbewussten tummelt.
Kommt hinzu – aber hier plaudere ich bereits aus dem Nähkästchen −, wenn ich mich im trüben Alltag der andern verfiltzt und eins in die Fresse gekriegt habe, mich in ein anderes Amt als mein eigenes verirrt habe oder von einem Radfahrer angefahren und dann auch noch beschimpft worden bin, dann kommt es zu einer Verwirbelung „ihres Alltags“ und „meines Alltags“, und wenig später fällt mir eine Entdeckung vom Kaliber des Ei des Kolumbus in den Schoß. Eine sensationelle Einsicht sucht mich heim. Bloß kann ich sie mir häufig nicht merken. Genauer, sie verliert ihren Glanz. Sie ist noch da, aber in der Wiedergabe klingt sie schal und alles andere als erleuchtet.
Alles ist immanent, denke ich kürzlich, nachdem ich fürchterlich eingesteckt habe. Aber das ist mitnichten der Wortlaut meines Gedankens, der eigentlich ein Bild, eine Szene ist. Das Neue ist niemals neu – wenn Gedanken fühlen können, so empfinde ich dies als Gedanken –, es überschreitet das Bestehende nicht. Wir sehen es lediglich mit anderen Augen, oder wir haben die Wahrnehmung ein wenig geschärft. Das Neue ist gar nicht neu, spüre ich, wir haben es nur anders zerlegt. Wir haben die Serviette bloß anders gefaltet, schon sieht sie wie eine Seerose aus.
Kurz zuvor war auch ich „zerlegt“ worden. Niederlagen fördern die Wahrnehmung, den Respekt vor der Wirklichkeit; vergleiche Brecht. Sie räumen die Hindernisse, vor allem den Größenwahn beiseite. Sie wärmen das Gehirn und befördern es in den Aktionsmodus. „Boing!“, heißt es im Comic, und in meiner Denkblase: Das bedeutet Zerlegen, ach so!
Es passiert auch umgekehrt, dass „mein Alltag“ mit „ihrem Alltag“ kollidiert. Das ist selten, da ich Beamtin bin und auf einen geregelten Ablauf vertrauen kann, wäre da nicht die Drohung im Hintergrund, dass im Moment der Krise Status und Leben des Beamten ein und dasselbe sind. Angestellt müsste man sein! Aber noch ist die Krise weit.
Gegen Ende meines Berufslebens gerate ich, die Unauffälligste unter Unauffälligen, mit dem stellvertretenden Schulleiter aneinander. Im Vertretungsplan für morgen habe ich gesehen, dass ich in den ersten beiden Stunden Vertretungsunterricht habe. Mein eigener Unterricht beginnt um zehn. Ich bin außer mir. Weiß er nicht, dass ich um diese Zeit arbeite? Dass diese zwei Stunden vor dem Unterricht die Quelle meiner Freundlichkeit, die Grundlage meiner Berufseignung, die Voraussetzung meiner Berufsausübung sind? Unglücklicherweise treffe ich vor dem Lehrerzimmer auf den stellvertretenden Schulleiter. Ich höre eine Stimme, die ich noch nie in meinem Leben gehört habe. „Das lasse ich mir nicht bieten!“ Und zu meinem ungeheuren Erstaunen: „Wenn es so ist, dann muss ich mir alles ganz neu überlegen!“ Letzterer Satz schließt nahtlos an die Zweifel an, die ich dreißig Jahre zuvor gegenüber dem damaligen Schulleiter geäußert hatte, ob ich mir den Job zumuten kann.
Der stellvertretende Schulleiter ist ganz bestürzt, auch überrascht, dass die alltäglichste seiner Maßnahmen soviel Ungewöhnliches heraufbeschworen hat. Um wenigstens zu verhindern, dass ich in Tränen ausbreche, entziehe ich mich seinem beruhigenden Gemurmel und verzichte „für diesmal“ auf die beiden mir zustehenden Stunden Arbeit.
4
„Was hast du aus deinem Leben gemacht?“ fragt mich der liebe Gott an der Pforte zum Himmel. „Alltag“, antworte ich ihm aufrichtig, aber eine Spur naiv. „Auf ausgetretenen Pfaden gelatscht“, sagt er verächtlich. „Dem alten Modell gefolgt, nicht mal der Form nach innovativ!“ „Stimmt“, gebe ich zu. „Wenigstens nicht immer Ich gesagt“, schiebe ich hinterher. Auch ich will schließlich wahrgenommen werden. „Du würdest dich im Paradies ja gar nicht wohlfühlen“, sagt er höhnisch. „Wo ist die Stechuhr“, äfft er mich nach, „ich will eine Runde üben!“
Recht hat er. Der Gedanke, im Richtigen zu leben, wäre mir ein Graus. Was ist, wenn es das Falsche ist, und wo sind die Instrumente, die mir für das gewöhnliche Leben zur Verfügung stehen, so dass ich mit Joyce konstatieren kann: Du mit deiner miesen Visage! Wenn es nämlich, um das Ungewöhnliche auszusortieren, selbst ungewöhnliche Seiten aufzieht. Wenn es seine zweite Natur als aggressive Grenzbestimmung hervorkehrt und der melancholische Seufzer „Diese Alltage überleben!“ zur inbrünstigen Hoffnung wird!
Aber das ist nur die eine Seite der finsteren Medaille. Die andere: was, wenn ich die einzige Falsche im Richtigen bin! Der Schriftsteller Michael Greenberg beschreibt unter der Überschrift „Meine glänzende Laufbahn“ eine „ermüdende Aufeinanderfolge von Tätigkeiten ohne Aufstiegschancen, wie zum Beispiel wohlhabende Schulkinder in einer Limousine herumzuchauffieren oder im U.S. Post Office in der Nähe der Grand Central Station in Nachtschichten Postsendungen zu sortieren (…) Mein Ziel war es, den psychischen Trott zu vermeiden, der sich einstellt, wenn man ,für einen anderen arbeitet‘. Mein Status war niedrig, aber man erwartete von uns keine Loyalität dem Arbeitgeber gegenüber, und so konnte ich mir die Illusion von Unabhängigkeit bewahren, die mir von allergrößter Wichtigkeit zu sein schien. Meinen Freunden erklärte ich, dass ich eine Art literarischer Lehre absolvierte, aber in Wahrheit war eine stärkere Macht am Werk: Ich konnte die Aussicht nicht ertragen, mich auf eine ,Laufbahn‘ festlegen zu müssen. Der Witz dabei war, dass ich gewillt war, härter als jeder andere zu arbeiten, um zu gewährleisten, dass es keinen anderen gab. Um sich wirklich auszuzeichnen, so glaubte ich, müsse man umfassend scheitern.“ (Betteln, Borgen, Stehlen, Hamburg 2010, S. 94)
Was nämlich, wenn der Bruch mit dem Alltag den gleichen Alltag, aber auf der untersten Ebene von Fremdbestimmung und Monotonie hervorbringt? Oder wenn wie in den klassischen Robinsonaden das Abenteuer nur die Vorstufe des Alltags, Abwechslung bloß ein Zeichen mangelnder Routine, Selbstbestimmung lediglich die Vorstufe von Abhängigkeit ist?
Ich bin die ideale Zuschauerin von „Brooklyn“, dem famosen Film. Ich mag den im piefigen Irland zurückbleibenden jungen Mann noch lieber als den Italiener, der in den USA auf die Rückkehr seiner jungen Frau wartet. Der ist ein unbeschriebenes Blatt, reizend in seiner Unfertigkeit, während der andere ein Verhältnis gemessener Distanz zu seiner Umwelt pflegt, aber bis in die feinsten Verästelungen mit ihr verwoben ist. Hat Joyce mit der „zugerichteten Kutschervisage“ nicht ganz konkret diese Umwelt im Auge gehabt? Pech für mich, dass ich dem irischen jungen Mann trotzdem nachtrauere, zumal seine Rolle klein ist, mein Bedauern dafür groß, aber so kommt der Verstand in Gang. Auf der grünen Wiese von, ich weiß nicht mehr genau, Long Island, hat der junge Italiener seiner künftigen Frau das auf der Karte längst in Bauland verwandelte Stückchen unberührter Natur gezeigt und die erworbenen Grundstücke verteilt: rechts Papa und Mama, daneben wir zwei, daneben die Häuser, die wir verkaufen. Werden sie nicht exakt da landen, wo der besagte irische junge Mann längst angekommen ist, der das Anwesen seiner Eltern, den Pub seines Vaters übernimmt? Ist nicht das andere bloß die Vorgeschichte des einen, die angedachte Erweiterung des kapitalistischen Kreislaufs mal abgerechnet?
Freilich, ankommen ist aufregender als da sein, bekommen weiß Gott aufregender als haben, vermehren abwechslungsreicher als behalten. Spätestens wenn die „Höhlenkinder“ beim Kühlschrank angelangt sind, wird der Roman langweilig, das Geschehen zu erzählen ein mühseliges Unterfangen. Merkwürdige Umkehrung: Alltag heißt, soviel bedenken müssen!
Heißt aber auch, ohne eigenes Zutun eine Menge bewegen, Gutes wie Böses.
Ich versuche vergeblich in ein nachbarschaftliches Verhältnis zu den Flüchtlings-Kids zu treten, deren jugendlicher Lärm abends in mein Schlafzimmer dringt. Zwei extra angeschaffte Fußbälle liegen nutzlos herum. Teils scheitere ich an der Verwaltung, teils an der überbordenden Hilfsbereitschaft meiner Nachbarn, teils an meinem eigenen reglementierten Alltag, teils an meinem Anspruch auf eine persönliche Beziehung. Wehmütig denke ich an meinen Arbeitsplatz zurück, wo ich mit einem Blick 28 Kinder erreichte, kleine und große, denen ich mit einem gezielt platzierten „Au scheiße!“ eine Lektion in Formverständnis erteilen konnte, das aus der Steinzeit hinaus- und mitten in „unsere Welt“ hineinführt. Wo die größte Chance für Integration (und nicht nur für Flüchtlinge) eine Selbstverständlichkeit war: Montag um acht ist Schule.