Kapitalismus und Raum
von Stephan Hochleithner
Mit seinem 2013 erschienenen Buch Kapitalismus und Raum greift Christoph Clar ein Thema auf, das auch und besonders in den sozialwissenschaftlichen Subdisziplinen der Geographie immer wieder auf reges Interesse stösst. Und so erwarten der Leser und die Leserin einiges von dem Titel des Buches, der eine umfassende Betrachtung der Zusammenhänge zwischen einem – dem! – weltumspannenden polit-ökonomischen System und einem der zentralen Begriffe der Geographie zu versprechen scheint. Diesem scheinbaren Versprechen folgt schon im Untertitel des Buches ein deutlicher Schluss, der die Richtung weist, in die es gehen soll: Die Territorialität kapitalistischer Gesellschaft.
Während Clar anfangs die Erwartungen noch hoch hält, verliert sein Buch allerdings im Laufe des Lesen immer mehr an jener Breite, die der weitläufige Titel vermuten lässt. Zwar zeichnet der Autor einleitend die verschiedenen Elemente und Perspektiven des Diskurses zur sozialwissenschaftlichen Betrachtung von Raum eindrücklich nach, doch lässt sich die Bedeutung, die Territorium als Konzept in Clars weiterer Argumentation als direkt mit Kapitalismus in Verbindung stehendes räumlich-politisch-ökonomisches Konzept gewinnt, nicht vollends anhand der beschriebenen Genese und der genannten Charakteristika nachvollziehen.
Weitere Reduktionen des analytischen Rahmens folgen, bis Clar schließlich seinen Fokus auf exklusives staatliches Territorium verengt, was die an den Titel gestellten Erwartungen bereits zu Anfang des Buches bis zu einem gewissen Grad enttäuscht. Zwar gewinnt die Argumentation hie und da wieder an Fahrt und im Schluss stellt Clar noch einmal großes Geschick im argumentativen Verknüpfen verschiedener Diskurse unter Beweis, doch endlich bleibt das Werk hinter seinem Anspruch zurück.
Gleich zu Beginn des Buches macht Clar deutlich, dass er Territorium als das räumliche Ordnungsprinzip des Kapitalismus versteht. Folglich müsse, so Clars Argument, jede Betrachtung von Überschneidungen zwischen Raum und Kapitalismus ihren Fokus besonders auf Territorium legen. Während der Begriff Territorium als solcher, anders als beispielsweise bei Stuart Elden, nicht zu den Gegenständen der Argumentation zählt, basiert letztere dennoch zu allererst auf einer Analyse der historischen Genese des Konzeptes. Clar beginnt im europäischen Mittelalter, dessen räumliche sozio-politische Organisation er als Kontrast zeichnet: Die Position von Individuen und Gruppen waren nicht auf Gebiet bezogen, sondern auf persönliche Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse. Das, so folgt Clar Geographen wie Charles Tilly, änderte sich jedoch mit der Zunahme der Kommerzialisierung, vor allem der Kriegsführung, was die Ausbildung von zentralisierten Organisationseinheiten bewirkte und letztlich zur Etablierung von Staaten führte.
An diesem Punkt verengt Clar seinen Blickwinkel weiter, indem er den Fokus des Buches auf „exklusives staatliches Territorium“ legt. Dadurch verharren seine historischen Betrachtungen auf einer institutionellen Ebene, was die Perspektiven mikroanalytischer Ebenen ausspart: Die Lebenswelt(en) des Gros der Bevölkerung bleibt außen vor und Transformationen der sozialen Praxis bleiben somit außerhalb des Fokus, was den Blick auf gesamtgesellschaftliche Prozesse – wie die Änderungen in Positionsbezügen von Individuen und Gruppen – erschwert, wenn nicht gar verschleiert. Diese analytische Wahl begründet Clar damit, dass „eine Betrachtung der handelnden Akteure keine zufriedenstellenden Aussagen über jene sozialen Mechanismen zu [lassen], die sich auf räumliche Konstellationen beziehen“ (S. 37).
Vielmehr, so Clar weiter, sei es „der strukturelle Kontext, unter dessen Einfluss und Eindruck Akteure handeln, der in den Fokus genommen werden muss“ (ebd.). Auf diese Weise macht Clar deutlich, dass für ihn räumlichen Komponenten die politische Dimension stets inhärent ist.
Dieses Verständnis setzt die Verwendung eines universellen Raumbegriffs voraus, bei dessen Definition Clar für eine dialektisch inklusive Sichtweise plädiert. Diese sei erst mit dem Wieder-Zuwenden zu Raum nach Überwindung der „Angst“ möglich geworden, die durch den Geodeterminismus des Nationalsozialismus ausgelöst wurde und das Verhältnis der deutschsprachigen Wissenschaften zu Raum getrübt hätte. Der Geographie, insbesondere der „Entwicklung der Sozialgeographie in Richtung einer verstehenden Geographie“, schreibt Clar hier eine bedeutende Rolle zu. Als Konsequenz dieser kritischen Wiederbetrachtung bedarf es einer Überwindung des einseitigen Ursache-Wirkung-Schemas, in das „Raum als soziales Produkt“ gedrängt werden könne.
Die Trennung von Gesellschaft und Natur führte zu einer Trennung von physischem und sozialem Raum. Und eine solche Perspektive, so Clar, schließe eine Analyse räumlicher Bedingungen gesellschaftlichen Handelns von vornherein aus. Deshalb gelte es in einer politikwissenschaftlichen Betrachtung zwei Pole mitzudenken: „Raum, der von Gesellschaft geschaffen wird“ und „Naturvorgegebenheit gesellschaftlicher Entwicklung“ (S. 20). Dadurch ergeben sich für Clar wiederum zwei Ansprüche, mithilfe derer er auch die Wahl der Niederlande als Fallbeispiel legitimiert: Der Ausgangspunkt ist das Phänomen, denn ein empirisches Verständnis desselben könne nur von selbigem ausgehend generiert werden. Das Phänomen muss als temporal fixiert betrachtet werden, die sozialräumlichen Verhältnisse als historisch spezifisch – nicht nur zeitlich, sondern auch örtlich.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich Clars Definition von Territorium als „Festschreiben gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse in die Erdoberfläche“. Territorialität ist für Clar ein räumliches Ordnungsprinzip, prozessualer Effekt der Territorialisierung gesellschaftlicher Prozesse, einer Wechselwirkung aus räumlicher Bezugnahme und folgender Institutionalisierung räumlicher Strukturen. Territorium expliziere jene „Grenzen, die das Gewaltmonopol des Staates topographisch festschreiben“ (S. 30f). Der Staat wird so zu einem „außerhalb“ der Ökonomie stehenden (extra-economic) politischen Akteur, der den Kapitalismus fördert oder gar forciert, indem er ideale Bedingungen für die (Weiter-)Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise bereitstellt.
In diesem Argument liegt wohl einer der interessantesten Punkte Clars, wenn er meint, dass es Aufgabe des Staates sei, formale Chancengleichheit für die scheinbar freien ökonomischen Akteure einer kapitalistischen Gesellschaft zu schaffen. Dies tue der Staat, indem er für stabile innerstaatliche Marktverhältnisse und die Etablierung und Institutionalisierung eines Rechtssystems sorgt, wobei vor allem letzteres in Verbindung mit exklusiven Ressourcenansprüchen des Staates Grundlage für die Schaffung von Eigentum, einer „wesentliche[n] Voraussetzung für die Funktionsweise des Kapitalismus“ (S. 32), sei.
Während Clar also teils durchaus schlüssig darlegt, warum Territorium, und insbesondere exklusives staatliches Territorium, das zentrale Bindeglied zwischen Raum und Kapitalismus sei, relativiert er im Verlauf der Analyse dieses Argument wieder und wieder, wodurch die scheinbare universelle Pointierung in Kontextualisierung verläuft: Territorium, so Clar später im Buch, sei nicht unbedingt notwendig für das Funktionieren von Kapitalismus und Kapitalismus produziere nicht notwendigerweise Territorium. Durch diese Feststellung wird Clars gesamte Argumentation widersprüchlich und es wird deutlich, dass es in Kapitalismus und Raum vor allem darum geht, polit-ökonomische Zusammenhänge in der historischen Entwicklung der Niederlande zu erklären.
Doch bereits die grundlegende Vorannahme Clars, dass die Verbindung von Raum und Kapitalismus über eine vorrangige Betrachtung gesellschaftlicher Strukturen zu verstehen sei, lässt sich nicht widerspruchsfrei nachvollziehen. In dem Bestreben, über Handlungstheorien gesellschaftliche Transformation und somit die zentrale Bedeutung von Strukturen zu erklären, nimmt Clar völlig unerwartet einen dezidiert evolutionistischen („evolutionären“, S. 40) Blickwinkel ein: Aus einer Vielzahl gleichzeitig existierender Gesellschaftsformen – er nennt diese sogar „Entwicklungsstadien“ – brächen bestimmte Entwicklungen durch, „die einer Gesellschaft neue Möglichkeiten, sich anzupassen, verleiht, und ihre (kompetitive) Beziehung zu anderen Gesellschaften entsprechend verändert. [. . . ] Die historisch spezifischen Bedingungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit des weiteren Bestehens des gesellschaftlichen Verhältnisses X gegenüber dem gesellschaftlichen Verhältnis Y. Grund dafür ist die höhere Effektivität von X für die weitere Organisation von Gesellschaft – in diesem Fall den Kapitalismus“ (S. 41). Während sich Clar ausführlich gegen den möglichen Vorwurf einer funktionalistischen Herangehensweise wehrt, setzt er sich nirgends kritisch mit diesem evolutionistischen Blickwinkel auseinander. Mittels Ausschlussverfahren wird versucht, das langsame, aber stetige Schwinden sozialer Organisationsformen ohne territorialen Bezug und das gleichzeitige Ausbreiten von geographisch festgeschriebenen Herrschaftsbereichen zu erklären. Dadurch wird jedoch den Handelnden nun endgültig jeder Einfluss auf das Geschehene, jede Form von Agency abgesprochen, Gesellschaften werden zu sich kompetitiv gegenüberstehenden Organismen erklärt, deren innere Organisation rein auf die Durchsetzung ihrer Existenz ausgerichtet ist: „Gesellschaft“, so Clar, „entwickelt sich aufgrund stetig erfolgender gegenseitiger Anpassung sowie Durchsetzung und Etablierung jener Mechanismen, die für die kapitalistische Organisation von Gesellschaft effizienter sind, weiter“ (S. 45). So stellt sich in Clars Text, der eigentlich laut Einleitung kapitalismus-kritisch sein möchte, Kapitalismus als ein sich selbstständig und „natürlich“ anhand sozialdarwinistischer Prinzipien (survival of the fittest) durchsetzendes System dar.
„Kapitalismus und Raum“ hält nicht, was der Titel verspricht. Zu Beginn bietet die Verknüpfung von Raum und Kapitalismus mittels staatlichen Territoriums als Grenzen, innerhalb derer der Staat ideale Bedingungen für kapitalistische Produktionsweise schafft, zwar einen interessanten Zugang, der sich jedoch im Laufe des Buches in Relativierungen und Widersprüchlichkeiten verläuft. Besonders enttäuscht Clar mit seiner unkritischen Übernahme evolutionistischer und sozialdarwinistischer Konzepte, die zu weiteren Widersprüchlichkeiten führen. Während das Fallbeispiel Niederlande zwar schlüssig – jedoch sehr knapp – analysiert wird, scheint eben dieser Vorgang zu einer Beschränkung des Zugangs beizutragen, der es schwer macht, die entwickelten Konzepte von der Case Study zu abstrahieren. Lesenswert ist Kapitalismus und Raum allemal, denn streckenweise gelingt es Clar komplexe wissenschaftliche Diskurse pointiert zusammenzufassen. Schlüssige Antworten auf die Frage nach der Rolle oder der Definition, oder gar nach dem Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Raum sollten der Leser und die Leserin jedoch nicht erwarten.
Clar, C.: Kapitalismus und Raum – Die Territorialität kapitalistischer Gesellschaft, Wiener Verlag für Sozialforschung, Wien, 177 S., ISBN-13: 978-3944690001, EUR 40, 2013.
Diese Rezension erschien in Geographica Helvetica 71, 2016 (53-55).