Euro gegen Einheit*
von Tomasz Konicz
„President Mitterrand [said] the sudden prospect of re-unification had delivered a sort of mental shock to the Germans – its effect had been to turn them once again into the bad Germans they used to be.“
(Gesprächsnotiz des Thatcher-Beraters Charles Powell über ein Treffen mit François Mitterrand am 20.01.1990)
Die Ursprünge des „Deutschen Europa“ lassen sich bis zu einer Epoche zurückverfolgen, in der Deutschlands Politeliten – in Anlehnung an ein Zitat Thomas Manns aus den 1950er Jahren – nur von einem „europäischen Deutschland“ sprechen wollten. Es war die Umbruchszeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und vor der deutschen Wiedervereinigung, in der die Grundsteine für die gegenwärtige Machtkonstellation in Europa gelegt wurden. Der maßgeblich von Frankreich durchgesetzte Deal lautete: Euro gegen Einheit.
Erst die 2010 erfolgte Veröffentlichung von Geheimprotokollen im Wochenmagazin Spiegel brachte das volle Ausmaß der Vorbehalte Frankreichs gegenüber der Wiedervereinigung ans Licht, die nur durch die Verpflichtung Berlins zur Einführung einer europäischen Gemeinschaftswährung überwunden werden konnten. Der Euro war die deutsche „Gegenleistung für die Einheit“, so der Spiegel. („Der Preis der Einheit“, Spiegel 39/2010) Mittels der europäischen Gemeinschaftswährung und einer strikten Einbringung Deutschlands in europäische Strukturen sollten imperiale deutsche Alleingänge, sollte eine Rückkehr des verhängnisvollen deutschen Nationalismus verhindert werden.
Niemals gab sich die bundesrepublikanische Politelite europäischer als am Vorabend der Wiedervereinigung. Diese Betonung eines in europäischen Strukturen aufgehenden Deutschland sollte europaweite Widerstände gegen die Vergrößerung der Bundesrepublik – und den daraus resultierenden Machtzuwachs – minimieren. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher brachte diese pro-europäische Rhetorik anlässlich des 20. Jahrestages der Deutschen Einheit nochmals in Erinnerung, wie die Friedrich-Naumann-Stiftung berichtete:
„Zur Bestätigung, dass weder Polen noch Frankreich, weder England noch Tschechien ein erneutes Hegemonialstreben zu fürchten hatten, zitierte der Bundesaußenminister a. D. damals wie heute Thomas Mann: ‚Wir wollen ein europäisches Deutschland, kein deutsches Europa.‘ Dies wurde mit großem Applaus vom Publikum bestätigt.“ („Ein europäisches Deutschland, kein deutsches Europa“, freiheit.org, 24.04.2009)
Eine neue Supermacht
Die Vorbehalte und Widerstände der europäischen Staaten gegen eine Vergrößerung der Bundesrepublik, die mittelfristig mit einem Machtzuwachs Berlins in Europa einhergehen würde, sind gut dokumentiert. Der Spiegel berichtete im besagten Artikel im September 2010 von der „eisigen Atmosphäre“, die dem damaligen deutschen Außenminister Genscher und Kanzler Helmut Kohl am 8. Dezember 1989 bei dem EG-Gipfel in Straßburg entgegenschlug, bei dem die deutsche Wiedervereinigung wie die kommende Währungsunion diskutiert wurden. Zehn Tage zuvor haben die Deutschen – im kühnen Vorgriff auf künftige Machtverhältnisse – ohne weitere europäische Konsultationen einen Zehn-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung veröffentlicht:
„Ein Regierungschef nach dem anderen wendet sich gegen Deutschlands Drang nach schneller Vereinigung. … Nur mit Mühe gelingt es den Deutschen, ihren EG-Partnern eine mit Vorbehalten und Bedingungen gespickte Zustimmung zur deutschen Einheit abzutrotzen. Im Gegenzug wird der französische Zeitplan für die Währungsunion im Prinzip abgenickt.“
Es war somit nicht nur die britische „Eiserne Lady“, Margaret Thatcher, die sich der Wiedervereinigung verbissen entgegenstemmte und prophetisch vor einer „Wiederkehr der Deutschen“ warnte. Thatcher hat sich wiederholt öffentlich gegen die rasche Eingliederung der DDR in die BRD ausgesprochen, wobei sie immer wieder vor einem neuen deutschen Großmacht- und Hegemonialstreben warnte. In einem Interview mit dem Spiegel vom 26. März 1990 behauptete Thatcher gar, dass Kohl ihr gegenüber erklärt habe, die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkennen zu wollen. Zudem ahnte die machtbewusste britische Regierungschefin, dass die von Paris angestrebte Einbindung Berlins in die Europäische Gemeinschaft nicht dazu beitragen könne, das vergrößerte Deutschland „einzudämmen,“ wie Spiegel-Online am 11. September 2009 berichtete:
„The problems will not be overcome by strengthening the EC. Germany’s ambitions would then become the dominant and active factor.“ („The Iron Lady’s Views on German Reunification: ‚The Germans Are Back!‘“, 11.09.2009)
Die deutschen „Ambitionen“ würden letztendlich auch auf europäischer Ebene zu einem „dominanten Faktor“ avancieren, prognostizierte die rücksichtslose Machtpolitikerin Thatcher korrekt.
Entscheidend für den Verlauf der Wiedervereinigung sowie der „Europäischen Integration“ war aber der Widerstand in Paris, der vom damaligen französischen Präsidenten François Mitterrand ausging. Der Spiegel fasste die Ängste des französischen Staatschefs im besagten Artikel folgendermaßen zusammen:
„Der Herr im Elysée sieht an der Ostgrenze seines Reichs eine neue Supermacht entstehen, deren Geld den Kontinent dominiert und deren politisches Gewicht die europäische Nachkriegsordnung sprengt.“
Obwohl er sich öffentlich mit kritischen Tönen bezüglich der von Kohl und Genscher im halsbrecherischen Tempo forcierten Wiedervereinigung zurückhielt, war der französische Präsident bei Vier-Augen-Gesprächen umso deutlicher. Eine Wiedervereinigung würde Deutschland mehr Einfluss in Europa verschaffen als „Hitler jemals hatte“, warnte Mitterrand bei Konsultationen mit der britischen Regierungschefin am 20. Januar 1990. Europa drohe die Wiederkehr der „bösen Deutschen“, wie man sie aus der Vergangenheit kenne, so der französische Staatschef laut einem Bericht der Financial Times. („Mitterrand feared emergence of ‚bad‘ Germans“, 09.09.2009)
Dabei war die Haltung der beiden westeuropäischen Großmächte zur deutschen Wiedervereinigung durch substanzielle Interessendifferenzen geprägt, wie der ehemalige britische Botschafter in Bonn, Sir Christopher Mallaby, im Interview mit dem Focus ausführte:
„Es gab noch einen entscheidenden Unterschied: Die Franzosen wollten etwas von den Deutschen, nämlich den Euro. Der Preis der Franzosen für die deutsche Einheit war die gemeinsame europäische Währung. Mitterrand hatte ein Ziel. Im britischen Außenministerium haben wir damals lange nach etwas gesucht, das wir den Deutschen abverhandeln könnten. Zu meinem großen Bedauern aber haben wir nichts entsprechend Wichtiges gefunden.“ („Insgeheim sehr hilfsbereit“, Focus-Online, 09.11.2009)
Während Thatcher – die mit ihrer antideutschen Haltung auch innerhalb ihrer Administration zusehendst isoliert war – sich öffentlich exponierte, konnte Mitterrand in aller Stille die diplomatischen Kanäle nutzen, um das Projekt einer europäischen Währungsunion zu realisieren. Die Financial Times argumentierte im besagten Artikel, dass Mitterrand ein „gerissenes Spielchen“ betrieb, bei dem die „Eiserne Lady“ dazu verleitet wurde „zunehmend feindselige öffentliche Bemerkungen über die Wiedervereinigung zu machen, die Großbritannien marginalisierten“.
Die harschen öffentlichen Auftritte Thatchers sollten dieser Hypothese zufolge die französische Haltung als „gemäßigt“ erscheinen lassen und somit Berlin zu der Annahme der französischen Bedingungen motivieren. Spätestens nach dem Treffen zwischen Kohl und Mitterrand auf dem Landsitz des französischen Präsidenten bei Latché Anfang Januar 1990 haben sich Berlin und Paris auf „beide anstehenden Vereinigungsprojekte“ – die Einheit wie die europäische Gemeinschaftswährung – geeinigt, berichtete der Spiegel. „Nach Latché hat Mitterrand der deutschen Einheit keinen Widerstand mehr entgegengesetzt“, erklärte Kohl-Berater Bitterlich dem Nachrichtenmagazin.
Das „beste Geschäft“ seines Lebens
Im Schatten dieser französisch-britischen Differenzen konnte Berlin somit die rasche Osterweiterung der Bundesrepublik realisieren – denn von den USA und der Sowjetunion wurden der Wiedervereinigung kaum Steine in den Weg gelegt. Die Bush-Administration in Washington, die als einzige westliche Regierung im Voraus von den kohlschen Wiedervereinigungsplänen (dem besagten Zehn-Punkte-Plan) informiert wurde, von denen Paris und London erst aus den Massenmedien erfuhren, bestand nur auf einer festen Einbindung der vergrößerten BRD im westlichen Bündnissystem, namentlich in NATO und EG.
Die in Auflösung befindliche Sowjetunion hat sich hingegen ihren Abzug aus der DDR für ein läppisches Taschengeld abkaufen lassen. Es sei das „beste Geschäft“ seines Lebens gewesen, als er den Abzug von 500.000 Sowjetsoldaten und 30.000 Panzern für gerade mal 15 Milliarden Mark in Moskau aushandeln konnte, bemerkte der ehemalige Finanzminister Waigel bei einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. („Der Euro ist mein Schicksal“, 17.05.2010) Ein Teil dieser Summe, drei Milliarden Mark, entfiel auch noch auf Kredite. Wenn die „Russen“ für den Abzug aus der ehemaligen DDR „75 Milliarden gefordert hätten, hätten wir das vielleicht gezahlt. Zahlen müssen,“ so Waigel gegenüber der SZ: „Der spätere russische Finanzminister Schochin sagte mir, sein Vorgänger, mit dem ich den Abzug verhandelt hatte, leide unter einem Waigel-Trauma. Weil er vergessen habe, bei seiner Forderung eine Null anzuhängen.“
Neben diesen „Peanuts“, die Berlin der zusammenbrechenden Sowjetunion überweisen musste, blieb nur die Verpflichtung zur Einführung einer europäischen Währung als einzige substanzielle Bedingung der deutschen Wiedervereinigung übrig. Damit glaubte man in Paris, dem erstarkenden Deutschland ein zentrales wirtschaftspolitisches Machtinstrument – die Deutsche Mark – aus der Hand nehmen zu können.
Ökonomische Disparitäten
Das Projekt einer europäischen Währungsunion wurde schon Mitte der 80er Jahre – gemeinsam mit einer Reihe weiterer Integrationsprojekte wie einer politischen Union – auf die europäische Agenda gesetzt. Die Tendenzen zu einer verstärkten internationalen, europäischen Koordination und Kooperation, zum Ausbau eines europäischen Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währung waren somit schon vor der Debatte um die Wiedervereinigung virulent, da sie einen spezifisch europäischen Auswuchs der allgemeinen Tendenz des Spätkapitalismus zur Ausbildung der krisenhaften Dynamik der Globalisierung bildeten. Doch wurden diese – durch zunehmende ökonomische Spannungen angefachten – wirtschaftlichen Europäisierungsbemühungen durch die gegebenen Interessengegensätze zwischen Berlin und Paris, sowie zwischen dem ökonomischen Zentrum und der südlichen Peripherie der Europäischen Gemeinschaft unterminiert.
Dieser währungspolitische Gegensatz, der aus den ökonomischen Disparitäten in der künftigen Eurozone resultierte, bestand zwischen den „Inflationsländern des Südens und dem sogenannten Hartwährungsgürtel um Deutschland und die Niederlande“, wie es der Spiegel im genannten Bericht formulierte. Die zunehmende wirtschaftliche Überlegenheit der avancierten und hochproduktiven deutschen Industrie zwang die Südeuropäer – etwa Italien – wie auch Frankreich immer wieder zu Währungsabwertungen, die einem Wertverlust gegenüber dem Ausland gleichkommen.
Die Abwertung der eigenen Währung, die zumeist Ausdruck ökonomischer Unterlegenheit ist, bildet ein zweischneidiges Schwert: Zum einen wird die Konkurrenzfähigkeit der eigenen, heimischen Industrie gegenüber der überlegenen ausländischen Konkurrenz wiederhergestellt, doch andrerseits geht damit auch ein Wertverlust im Binnenland einher, der zu Kapitalabflüssen führen kann. Letztendlich mussten die europäischen Staaten immer auf die Entscheidungen der Bundesbank reagieren, die somit letztendlich deren Politik entscheidend mitprägte. Die Bundesrepublik konnte somit vermittels der Dominanz der D-Mark europäische Wirtschaftspolitik betreiben – und es war diese bereits vor der Wiedervereinigung gegebene ökonomische Überlegenheit, die Paris im Rahmen des Euro zu neutralisieren trachtete.
Ab den 80er Jahren waren französische Währungspolitiker und Banker regelrecht abhängig von den Entscheidungen der Bundesbank, wie der Spiegel unter Verweis auf die „perfide Zweiklassenordnung“ des europäischen Währungssystems vor 1989 ausführte:
„Den Vorteil hat die deutsche Exportwirtschaft, die davon profitiert, dass die europäischen Wechselkurse innerhalb gewisser Bandbreiten festgeschrieben sind. Den Nachteil haben die Pariser Finanz- und Geldpolitiker. Sie sind dem demütigenden Diktat der Bundesbank wehrlos ausgeliefert. Jedes Mal wenn die Frankfurter Währungshüter die Zinsen erhöhen, müssen die Franzosen nachziehen. Und jedes Mal, wenn die Preise links des Rheins mal wieder schneller geklettert sind als auf der anderen Seite des Stroms, bleibt Paris nichts weiter übrig, als den Franc abzuwerten: ein weltweit registriertes Signal der ökonomischen Unterlegenheit. ‚Was für uns die Atombombe ist‘, heißt es im Elysée-Palast, ‚ist für die Deutschen die D-Mark.‘“
Paris war somit immer weniger in der Lage, eine eigenständige, auf die binnenwirtschaftlichen Notwendigkeiten eingestimmte Geldpolitik zu machen – stattdessen musste man den deutschen Vorgaben folgen. Diesen geldpolitischen Vorteil wollte Berlin nicht aus der Hand geben. Deswegen bemühte sich die Bundesregierung um Kanzler Kohl in den 80ern aus einem ökonomischen Kalkül heraus, dieses Projekt einer europäischen Gemeinschaftswährung nach Möglichkeiten zu verzögern oder zu torpedieren.
Zudem verweist das obige Spiegel-Zitat auf einen ersten Vorstoß, die europäische Einheitswährung mittels eines engen Wechselkursregimes vorzubereiten. Im Rahmen des Europäischen Währungssystems (EWS) wurden ab Anfang der 1980er Jahre sehr enge Grenzen für Wechselkursfluktuationen zwischen den europäischen Währungen vereinbart, um die Währungsabwertungen in der südlichen Peripherie zu begrenzen, wobei die Notenbanken der einzelnen am EWS beteiligten Staaten auf den Währungsmärkten intervenieren sollen, falls die Kursschwankungen bestimmte enge Toleranzwerte überschreiten sollten.
Zusammenbruch des EWS
Im Endeffekt führte zeitweilig dieses „Einfrieren“ der Wechselkurse europäischer Währungen zu einem massiven Anstieg der deutschen Exportüberschüsse gegenüber den anderen EWS-Staaten, da diese nicht mehr mit Währungsabwertungen auf die zunehmende Überlegenheit der deutschen Exportindustrie reagieren konnten. Der Schutz vor Währungsabwertungen – und somit vor dem Wertverlust der eigenen Währung – bei den EWS-Ländern wurde folglich mit steigenden Exportdefiziten gegenüber der BRD erkauft.
Und es waren nicht zuletzt diese – rückblickend betrachtet noch relativ harmlosen – Ungleichgewichte, die zum Zusammenbruch des EWS führten, nachdem spekulative Angriffe auf die britische Währung ihr Ausscheiden erzwangen. Bekanntlich hat der Finanzmagnat George Soros („Der Mann der die Bank von England sprengte.“) mittels einer erfolgreichen Spekulation 1992 das Ausscheiden des britischen Pfunds aus dem EWS erzwungen. Hiernach wurde die Bandbreite der möglichen Währungsfluktuationen innerhalb des EWS wieder erhöht, sodass hier in den 90ern im Endeffekt eine Freigabe der Kurse erfolgte. Neben der berühmten Spekulation von George Soros war es aber übrigens gerade die deutsche Hochzinspolitik in den 90er, die den letzten Sargnagel für das EWS brachte. Konfrontiert mit den rasch ansteigenden Kosten der Wiedervereinigung führte Berlin eine Hochzinspolitik, um möglichst viel Kapital anzulocken. Diese Politik der Bundesbank hatte Kapitalabflüsse mitsamt drohenden Währungsabwertungen in etlichen EWS-Staaten zur Folge, sodass 1993 auch Italien das EWS verlassen musste – die Bundesbank verweigerte den italienischen Partnern die eigentlich zugesagten Stützungskäufe.
Deswegen stiegen Deutschlands Exportüberschüsse auch nach dem Abschluss der mit der Wiedervereinigung einhergehenden Kapitalexpansion in Ostdeutschland zu Beginn der 90er nicht mehr an – das EWS gab es in der Form der 80er mitsamt der engen Währungsanbindung nicht mehr. Zudem war die Bundesrepublik tatsächlich mit den besagten, exorbitanten Kosten der desaströs verlaufenden Wiedervereinigung in der ersten Hälfte der 90er Jahre vollauf ausgelastet, als die Vernichtung eines großen Teils der staatssozialistischen Industriekapazitäten in Ostdeutschland wirtschaftliche Brachlandschaften und regelrechte sozioökonomische Notstandsgebiete entstehen ließ.
Erst mit der Einführung des Euro stiegen wieder Deutschlands Exportüberschüsse. Rückblickend betrachtet bildete diese wirtschaftshistorische Episode im Rahmen des EWS also ein Vorspiel auf die gegenwärtige Tragödie im Rahmen des Euro, die ja im Gegensatz zu den 1980er noch mittels einer gezielten Politik aggressiver Exportausrichtung von den deutschen Funktionseliten gezielt forciert wurde.
Insofern war eigentlich schon 1989 ersichtlich, welche Folgen eine europäische Gemeinschaftswährung haben würde: rasch ansteigende deutsche Exportüberschüsse, die im Gegenzug zu ausartenden Defiziten – und somit Schulden! – in der restlichen Eurozone führen müssen. Die obige Prognose der brutalen Machtpolitikerin Thatcher, wonach die „deutschen Ambitionen“ nach einer Wiedervereinigung auch in einem eng integrierten Europa den „dominanten Faktor“ darstellen würden, war somit nicht aus der Luft gegriffen.
Doch Paris glaubte während der Auseinandersetzungen um die Wiedervereinigung, dass einzig eine gemeinsame europäische Währung Deutschlands künftige Hegemonialambitionen zügeln könnte. Die Währungspolitik bildete 1989 – auch aufgrund des EWS – das am weitesten gediehene Feld europäischer Integration, auf dem Frankreich seine Bemühungen um eine möglichst enge europäische Integration des wiedervereinigten Deutschlands forcieren konnte. Hubert Védrine, ehemaliger Berater von Präsident François Mitterrand, erklärte gegenüber dem Spiegel: „Mitterrand wollte keine Wiedervereinigung ohne einen Fortschritt bei der Europäischen Integration. Und das einzige Terrain, das vorbereitet war, war die Währung.“
Tatsächlich beauftrage der Europäische Rat 1988 eine hochrangige Kommission unter dem Präsidenten der EG-Kommission, Jacques Delors, einen Entwurf für eine Währungsunion auszuarbeiten. Dieser Stufenplan, der wichtige Streitpunkte zwischen Paris und Berlin ausklammerte, wurde dann im Sommer 1989 vorgelegt – und er stieß auf allgemeine Zustimmung innerhalb der deutschen Politeliten aus allen Bundestagsparteien. Schon im Februar 1992 wurde der Maastricht-Vertrag unterschrieben, der die Grundlagen der europäischen Währungsunion schuf.
Konkurrenz ohne Grenzen
Da die Bundesregierung dieses Junktim zwischen Wiedervereinigung und Euroeinführung letztendlich akzeptieren musste, ging man in Berlin daran, alle Verhandlungsenergie auf die Ausgestaltung eben dieser Währungsunion zu verwenden. Das „europäische Deutschland“ begab sich somit in einen verbissenen Kampf um den Euro, der möglichst deutsch werden sollte. Die weiterhin bestehenden Spielräume bei der Ausgestaltung einer Währungsunion sollten bestmöglich ausgenutzt werden.
Der als „Mr. Euro“ titulierte Mann, der das Projekt der europäischen Einheitswährung maßgeblich prägen sollte, wurde am 21. April 1989 von Bundeskanzler Helmut Kohl in das Amt des deutschen Finanzministers berufen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat den CSU-Mann Theo Waigel gerade deswegen ins Amt berufen, weil er „einen durchsetzungsfähigen Finanzminister brauchte“, so erinnert sich der Tagesspiegel, „nicht nur mit Blick auf den Bundesetat, sondern wegen Europa und der geplanten Einheitswährung und der sich nun schon abzeichnenden deutschen Einheit.“ („Der Mann, der dem Euro seinen Namen gab“, 22.04.2014)
Und Theo Waigel setzte sich durch – der Euro wurde zu einem strikt neoliberalen Projekt, das eigentlich nur den monetären Rahmen für den von sozialen Mindeststandards nahezu unbehelligten Konkurrenzkampf der einzelnen daran beteiligten Nationalökonomien lieferte. Der Verzicht auf jegliche soziale Mindeststandards innerhalb des neuen Währungsraums und die restriktiven Maastricht-Kriterien, die durch Waigel durchgesetzt wurden, bereiteten den Boden für den totalen Konkurrenzkampf zwischen den „Wirtschaftsstandorten“ der Eurozone. Letztendlich bildete dieses Rahmenwerk des Euro die Vollendung der dominanten neoliberalen Ideologie: Konkurrenz ohne Grenzen.
Der Maastricht-Vertrag von 1992 bot hierfür die besten Voraussetzungen, da hier bereits die neoliberalen Grundzüge der Europäischen Union festgeschrieben wurden. Die berüchtigten „Konvergenzkriterien“ der EU sollten vorgeblich die Stabilität der neuen Währung gewährleisten, wobei sie sich ganz an den monetaristischen, auf einseitige Geldwertstabilität abzielenden Vorstellungen Deutschlands und der europäischen „Hartwährungsländer“ orientierten. Dieses Bündel verbindlicher Vorgaben, die Haushalts-, Preisniveau-, Zinssatz- und Wechselkursstabilität gewährleisten sollten, musste bis zur Euroeinführung von denjenigen Eurostaaten erfüllt werden, die der Gemeinschaftswährung beitreten wollten. Die haushaltspolitischen Auflagen wurden sogar dauerhaft festgeschrieben. Demnach müssten die Euroländer ihre Neuverschuldung unter drei Prozent des BIP halten und die öffentliche Gesamtverschuldung sollte nicht über 60 Prozent des BIP ansteigen.
Wer in den exklusiven Euroklub überhaupt Einlass erhalten sollte, war somit keineswegs klar. Doch kein peripherer EU-Staat wollte außerhalb der Eurozone verbleiben, da dies mit massiven sozioökonomischen Nachteilen einherginge: Währungsabwertungen, massive Kapitalflucht und damit einhergehende Konjunktureinbrüche wurden befürchtet. Die in den Euroklub aufgenommenen Staaten konnten zudem darauf hoffen, Vorteile aus einem ähnlich günstigen Zinsniveau zu ziehen, wie es in der BRD üblich war. Diese Hoffnungen in der südlichen Peripherie Europas, mittels des Eurobeitritts auch die halbperiphere Stellung im Kapitalistischen Weltsystem zu verlassen, bildeten die wichtigste Triebkraft der Integrationsbemühungen in diesen Ländern – und dies war auch der deutschen Politelite nur zu bewusst, die den Preis für die Aufnahme in den Euroklub in die Höhe trieb.
Berlin konnte sich somit dahin gehend durchsetzen, dass die Einhaltung der neoliberal-monetaristischen „Spielregeln“ des neuen Währungsraums zu einer Vorbedingung für die Teilnahme an diesem europäischen „Integrationsprojekt“ wurde. Letztendlich löste Maastricht somit ein europaweites neoliberales Rattenrennen aus, bei dem vor allem in den südeuropäischen Volkswirtschaften eine erste Kürzungs- und Kahlschlagsorgie in den öffentlichen und sozialen Sektoren durchgeführt wurde, um den Maastrichter „Konvergenzkriterien“ zu genügen und so in den begehrten Euroklub aufgenommen zu werden. In der Monatszeitschrift Konkret vom Januar 1996 („Euro-Bubble IV“) findet sich eine fast schon prophetische Einschätzung dieser ersten neoliberalen Rosskur:
„Insofern ist das, was seit dem Beginn der ‚zweiten Stufe‘ des Zeitplans zur Währungsunion (1. Januar 1994) z.B. in Portugal, Spanien, Italien oder jetzt in Frankreich durchgezogen wird – der Versuch der Mitgliedsstaaten, mittels sozial- und wirtschaftspolitischer Roßkuren die monetaristischen Zielsetzungen der ‚Konvergenzkriterien‘ zu erfüllen – , erst der Anfang dessen, was nach 1999 oder später zur Normalität werden soll, wenn denn die Einheitswährung da ist.“ (Konkret 01/1996, „Euro-Bubble IV“)
Drohung mit „Kerneuropa“
Die Taktik, mit der Berlin diesen offenen währungspolitischen Integrationsprozess beeinflussen konnte, ist somit recht einfach: Zur Not werde Deutschland die Währungsunion mit sich selbst vollziehen – das war die Drohung der deutschen Politeliten, mit der eine möglichst weitgehende Durchsetzung der deutschen Forderungen realisiert wurde. In dem Zeitraum zwischen 1992 und 1996 stellten prominente deutsche Politiker, Spitzenbeamte oder Wirtschaftsfunktionäre immer wieder die Teilnahme einzelner europäischer Volkswirtschaften am Euro, wie auch die Realisierung der Eurozone im Rahmen des Maastricht-Vertrags infrage.
Die bereits erwähnte Weigerung der Bundesbank, Italien im Herbst 1993 während der besagten ESM-Währungsturbulenzen – die ja durch die Hochzinspolitik der Bundesbank verstärkt wurden – mit Stützungskäufen zu unterstützen und so dessen Ausscheiden aus dem Europäischen Währungssystem zu verhindern, kann gerade als Teil dieser Stratege verstanden werden: Wenn es sein muss, macht Deutschland seine Währungsunion mit sich selbst – eine Währungsunion der „Hartwährungsländer“, bei der es keinerlei soziale Komponente geben darf, die den drohenden ökonomischen Ungleichgewichten entgegenwirken könnte.
Im Herbst 1994 legten die CDU-Hardliner Wolfgang Schäuble (damals als Fraktionsvorsitzender der CDU) und Karl Lamers ihr Konzept eines künftigen „Kerneuropa“ vor, von dem Länder wie Italien, Spanien oder Großbritannien explizit ausgeschlossen werden sollten. Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande sowie Luxemburg sollten dieses Kerneuropa bilden, in dem Paris von „Hartwährungsländern“ eingerahmt gewesen wäre. 1995 bekräftigte Finanzminister Theo Waigel seine Einschätzung, wonach Italien nicht in den Euro aufgenommen werden könne. Ähnliches war im gleichen Jahr aus der Bundesbank unter ihrem damaligen Chef Hans Tietmeyer zu hören, deren Funktionäre die Realisierung des Euro-Projekts unter Einschluss der südlichen Peripheriestaaten öffentlich anzweifelten. Widerstände gab es auch in den Reihen des deutschen Finanzkapitals: Ein Sprecher der Commerzbank erklärte 1995, dass man sich eine Eurozone auch ohne Frankreich vorstellen könne.
Ähnliche Kritik an der europäischen Gemeinschaftswährung wurde auch aus Teilen der SPD laut, die dieses Projekt gänzlich infrage stellten. Die in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zunehmenden Differenzen beim Europakurs des deutschen Politestablishments äußerten sich beispielsweise in der offenen Kritik des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt an der Bundesbank, deren Funktionäre dem Euro durch ihre Kritik „politisch und psychologisch den Boden“ entzögen, so Schmidt wörtlich.
Diese europapolitischen Auseinandersetzungen sind Ausdruck einer fundamentalen Neuorientierung deutscher Machtpolitik in dieser essenziellen Frage. Die vorbehaltlose Unterstützung der europäischen Integration der frühen 90er Jahre, das Bekenntnis zum „Europäischen Deutschland“, weicht der Forderung nach der Ausformung eines „Deutschen Europa“. Sollte dies nicht möglich sein, werden wieder neoimperialistische „Kerneuropa-Konzepte“ ins Spiel gebracht, die letztendlich auf einen deutschen Alleingang – inklusive weniger sozioökonomischer Vasallen – abzielen. „Wir können auch anders, wenn unsere europapolitischen Vorstellungen nicht realisiert werden“; dies war die implizite Drohung der deutschen Europadebatte seit Mitte der 90er Jahre. Und diese Diskussionen über eventuelle „Alleingänge“ der BRD kommen fortan immer wieder innerhalb der deutschen Funktionseliten an historischen Scheidewegen auf, etwa bei Ausbruch der Eurokrise.
Diesen Sinneswandel innerhalb der deutschen Politeliten brachte der besagte Konkret-Artikel aus dem Jahr 1996 sehr gut auf den Punkt:
„Wenn die EU mitzieht und wirtschafts- und finanzpolitisch, aber auch im Bereich der Außenpolitik (hier ist Schäubles Forderung einer ‚außen- und sicherheitspolitischen europäischen Identität‘ die Vorgabe) nach deutschen Vorgaben agiert, ist alles in Butter. Wenn aber nicht, so die Botschaft Waigels, Schröders und Lafontaines, dann brauchen wir dieses Europa nicht. Das ist eine für linke europapolitische Positionen bedeutungsvolle Radikalisierung der deutschen Politik. Denn wer bislang davon ausging, dass eine Einbindung Deutschlands in das Räderwerk von EG und EU, von Wirtschafts- und Währungsunion, allemal besser sei als ein Alleingang des mächtigsten Mitgliedslandes, muss nun damit rechnen, dass dies im Ergebnis keinen Unterschied mehr macht.“
In dieser Passage werden somit nur verschiedene Wege der Entfaltung des Deutschen vorgezeichnet: Großdeutschland oder Deutsches Europa. Auch hier wird korrekt prognostiziert, dass die europäische Einbindung der vergrößerten Bundesrepublik „im Ergebnis keinen Unterschied“ zu einem hegemonialen „Alleingang“ machen werde. Innerhalb der Logik größtmöglicher Machtakkumulation, die das kapitalistische Weltsystem den Staatsapparaten – parallel zur uferlosen Kapitalakkumulation auf den Märkten – diktiert, scheint die BRD schlicht „zu groß für Europa“ zu sein, sobald dessen Politpersonal mit der Großmachtpolitik ernst macht: Das avancierte ökonomische Potenzial des bevölkerungsreichsten europäischen Staates verschafft dessen Funktionseliten ein optimales Instrumentarium zur Realisierung europäischer Hegemonialstrategien. Ohne eine geschlossene Abwehrfront der europäischen Staaten schlägt sich dieses deutsche Übergewicht früher oder später in der europäischen Machtkonstellation nieder.
* Der Artikel ist ein Auszug aus dem eben erschienen Buch des Autors: Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa, Unrast Verlag, 2015 (Kapitel 2.1)