Erziehung

KOLUMNE Immaterial World

von Stefan Meretz

„Kinder brauchen Grenzen“, tönt es aus Erziehungsratgebern, sonst würden aus kleinen Menschen später maßlose Monster werden. Gerne werden die empfohlenen Grenzen mit moralischen Werten drapiert, die Heranwachsenden Orientierung bieten sollen. Erstaunlicherweise findet sich eine ähnliche Argumentation bei jenen Eltern, die emanzipatorische Ansprüche hegen. Selbstbestimmung für alle – mit Ausnahme von Kindern?

Selbstverständlich wird die repressive Erziehung kritisiert, strebe sie doch danach, aus wachen Menschlein angepasste Untertan*innen zu machen. Dennoch sei nicht das Grenzensetzen und die Werteerziehung das Problem, sondern ihr Inhalt: Es müsse um die richtigen Grenzen und die richtigen Werte gehen, die Kindern zu vermitteln seien. Was sei falsch daran, Kindern beizubringen, dass die Naturressourcen endlich seien und wir uns deshalb alle beschränken müssten? Was falsch daran, Kindern mit Werten wie Achtsamkeit, Solidarität und Emanzipation (oder was auch immer „Gutes“) auszustatten?

Erziehung ist ein verrückter Sonderfall zwischenmenschlicher Beziehungen. Hier fallen Menschen in zwei Klassen: Jene, die ziehen, und jene, die gezogen werden – Erziehende und Zöglinge. Erziehende wissen wo’s langgeht, Zöglinge nicht oder sehen es ganz anders. Erziehende wenden Maßnahmen an (Lob, Tadel, Belohnung, Überredung, Repression usw.) und Zöglinge empfangen diese, ob sie es wollen oder nicht. Erziehende setzen für die Durchsetzung ihrer Maßnahmen Macht ein, und Zöglinge setzen sich mehr oder weniger zur Wehr. Gibt es diese Sonderbeziehung noch anderswo? Vielleicht noch in Gefängnissen und Psychiatrien, doch erwachsene Menschen lassen sich normalerweise nicht so behandeln.

Nun muss Erziehung nicht immer harsche Formen annehmen, körperliche Züchtigungen sind nicht mehr angesagt. Doch auch weichere Formen von Erziehung ändern nichts am Sondercharakter, auf dem jene bestehen müssen, die ihre Ziele beim Zögling erreichen wollen. Dabei ist es unerheblich, ob die Ziele der Erziehenden vorgeblich im Interesse der Zöglinge sind, und es ist auch unerheblich, ob die Erziehungsziele sinnvoll sind. Dies lässt sich am Beispiel der Erziehung zur Selbstbestimmung verdeutlichen.

Selbstbestimmung wollen alle, warum nicht auch Kinder? Eben. Wollen sie es, ist Erziehung unnötig, wollen sie es nicht, ist es paradox, Kinder zur Selbstbestimmung zu „erziehen“. Erziehung ist eine machtdurchsetzte asymmetrische Beziehung zwischen Menschen. Zur Selbstbestimmung fremdbestimmt gebracht zu werden, ist ein Widerspruch in sich. Selbstbestimmung kann nur selbst errungen werden.

Erziehung basiert auf der unausgesprochenen Annahme, Menschen seien von Natur aus ungesellschaftlich – wie etwa in der Psychoanalyse theoretisch gefasst. Tatsächlich sind Menschen gesellschaftlich sui generis. Diese biotisch angelegte Gesellschaftlichkeit ist als Potenz zu Beginn noch nicht entfaltet. Leben bedeutet, die Potenz zur Geltung zu bringen und sich individuell zu vergesellschaften, also Verfügung über die je eigenen Lebensumstände zu gewinnen. Dieser Prozess ist unabschließbar. Er dauert ein Leben lang und stößt im Kapitalismus dort an Grenzen, wo wir nicht mehr über unsere Bedingungen verfügen können, sondern über uns verfügt wird.

Zugespitzt könnte man behaupten, dass uns das systemische Gesamt des Kapitalismus als Erziehungsmaschine gegenübertritt. Dabei sollen wir wollen, was wir in der warengesellschaftlichen Logik tun müssen, um unsere Existenz zu erhalten. Gleichzeitig sind wir diejenigen, die die Fremdverfügung organisieren und exekutieren, indem wir die Exklusionslogik des Kapitalismus produzieren und reproduzieren. Und das ganz selbstbestimmt. Dieses gesellschaftliche Verhältnis spiegelt sich dann auch im personalen Maßstab gegenüber Zöglingen wider: Sie sollen (=Erziehungsziel) am Ende wollen (=Selbstbestimmung), was sie tun müssen (=Fremdbestimmung), um im Kapitalismus zu funktionieren.

Die Crux liegt nun darin, dass dieses Verhältnis durch die Füllung mit positiven Inhalten nicht aufgehoben werden kann. Die Erziehung zu Achtsamkeit, Solidarität und Emanzipation bleibt Erziehung, also Aus- und Einübung von Fremdbestimmung. Damit ist nicht gesagt, das so Erzogene für sich subjektiv zu Achtsamkeit usw. gelangen, doch dies nicht wegen, sondern trotz Erziehung.

Aber wissen Erwachsene nicht dennoch besser, was für Kinder gut ist? Nein. Aus der Außensicht kann man nicht wissen, was für einen anderen Menschen gerade der subjektiv notwendige Schritt ist. Das gilt ganz generell und eben auch für Kinder. – Aber woher sollen Kinder wissen, was für sie gut ist? Sie werden es herausfinden. Gilt das nicht für alle Menschen, ein Leben lang? – Aber soll ich ein Kind nicht zurückhalten, wenn es auf die Straße rennt? Selbstverständlich, aber das würden wir doch immer tun, egal bei wem. Menschen zu schützen setzt kein Erziehungsverhältnis voraus.

Erziehung lässt sich aufheben in ein Verhältnis der Unterstützung. Es setzt die Einsicht voraus, dass wir einander immer brauchen und ohne wechselseitige Unterstützung nicht gut durch das Leben kommen. Dabei kann es sein, dass bestimmte Menschen – nicht nur abhängig vom Alter, sondern bedingt durch viele Umstände – mehr Unterstützung brauchen als andere. Unterstützung setzt gleiche Augenhöhe voraus, und dafür kann es notwendig sein, auch einmal in die Hocke zu gehen.

Grundlage solcher Unterstützungsverhältnisse sind Akzeptanz und Annahme der eigenen Bedürfnisse wie auch der von Anderen. Ich muss die Handlungen anderer nicht gut finden, aber ich kann eben dennoch nicht wissen, was für eine andere Person gut ist. Ich kann Vorschläge machen, doch wenn das Gegenüber sie nicht ablehnen kann – wie so oft in der Erziehung – dann kann ich auch gleich Befehle erteilen.

Denkt man die zwischenmenschliche Unterstützung konsequent weiter, gelangt man zu gesellschaftlichen Inklusionsverhältnissen allgemeiner Emanzipation, die eine strukturelle Einbettung und Unterstützung für alle bedeuten. Die Bedingungslosigkeit ist dabei zentral. Diese Erkenntnis lässt sich auch umkehren: Wer allgemeine Emanzipation und also den Commonismus will, muss aufhören zu erziehen.