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Streifzüge 66/2016
von Maria Wölflingseder
Mitte der 1990er Jahre wurde ich öfter – halb im Scherz, halb im Ernst – gefragt: „Was? Du noch immer?“ – Gemeint war mein anhaltender kritischer Geist und mein Publizieren gegen die Zumutungen der herrschenden Verhältnisse. Ein Großteil der Menschen in der ehemaligen kunterbunten riesigen emanzipatorischen Bewegung war ja längst in die Sphäre des Business und/oder in die Esoterik gewechselt.
Vieles hat sich damals verändert. Europa ist wieder vereint worden, aber meine kleine Welt hat sich mehr und mehr in zwei Hälften geteilt. Die wenigen weiterhin kritischen Theoretiker und Kritiker (die -innen sind auch weniger geworden), mit denen ich zusammenarbeitete, waren plötzlich von meiner Sphäre der Sinnlichkeit und des Genießens getrennt. – Warum gibt es überhaupt eine Kluft zwischen den Sphären Poesie und Theorie, zwischen Hingabe und Widerstand, zwischen Wahrnehmen/Empfinden und Analyse/Kritik? Diese Frage begleitete mich all die Jahre wie ein roter Faden. In meinen Texten habe ich mich immer wieder mit diesen Gegensätzlichkeiten befasst, über die ich in der öffentlichen Diskussion jedoch kaum etwas vernahm. Bis ich in einer Sternstunde meiner Entdeckungen auf einen großen Denker stieß, dessen Grundmotiv eben diese Widersprüchlichkeiten sind. Das Leben zwischen Ja und Nein, zwischen Schönheit und Schmerz, zwischen Glück und Verzweiflung. Seine bekannten Bücher „Der Fremde“ und „Die Pest“ verleiten viele dazu, in Albert Camus den „Propheten des Absurden“ zu sehen. Das Absurde ist jedoch nur ein Aspekt seines Werks.
„… der Künstler will also nichts anderes, als der Wirklichkeit eine veränderte Gestalt geben, während er gleichzeitig gezwungen ist, diese Wirklichkeit beizubehalten, weil sie die Quelle seines Empfindens darstellt. In dieser Beziehung sind wir alle Realisten, und doch ist es keiner. Die Kunst ist weder die völlige Ablehnung noch die völlige Zustimmung zu dem, was ist. Sie ist gleichzeitig Ablehnung und Zustimmung, und darum kann sie nichts anderes sein als ein stets neues Hin- und Hergerissen-Werden.“ (Der Künstler und seine Zeit, in: Kleine Prosa, Reinbek 1997, S. 26)
In seinem Aufsatz „Der Mythos von Sisyphos“, am Schluss mehrerer Abhandlungen über das Absurde, schreibt Camus: „Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewusst ist. … Aber die niederschmetternden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden. … Glück und Absurdität entstammen ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar miteinander verbunden.“ Der letzte Satz lautet: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ (Der Mythos von Sisyphos, Hamburg 1997, S. 126f.)
In Abgrenzung gegenüber den Existenzialisten betont Camus beide Aspekte des menschlichen Daseins: Denken und Fühlen, Kritik und Genuss, Widerstand und Hingebung. Brigitte Sändig merkt dazu an: „Damit flieht Camus nicht ins Irrationale, sondern setzt ein Zeichen dafür, dass blanker Intellektualismus dem Bedürfnis nach Einheit, Harmonie, Schönheit und Sinn, wie er es so unabweislich in sich fühlt, nicht genügen kann.“ (Sändig: Albert Camus, Leipzig 1988, S. 90)
Camus macht deutlich, die Absurdität des Lebens festzustellen sei eine Wahrheit, von der beinahe alle großen Geister ausgegangen seien. Es käme vielmehr auf das „Aushalten der Spannung zwischen verzweiflungsvoller Conditio humana und dennoch gegebenen Glücksmöglichkeiten“ an, das ihn „sowohl vor dem Sprung in die Hoffnung als auch dem Fall in die Verzweiflung bewahrt“. (Sändig, ebd.) – Das Aushalten dieser Spannung ist der zweite rote Faden, der meine Texte seit Jahrzehnten durchzieht. Ohne das Aushalten dieser Spannung ist kein Durchhalten einer kritischen Position möglich. Durch seinen weitverbreiteten Mangel fehlt es jedoch vielfach sowohl an der Fähigkeit zum Widerstand als auch an der zum Genuss!
Besonders eindrucksvoll beschreibt Camus in seinen Essays über seine Heimat Algerien im Buch „Hochzeit des Lichts“ (Zürich/Hamburg 2013) die Einfachheit, die er der Geschichte bzw. der Komplexität der Analyse entgegensetzt. „Es ist keine Schande glücklich zu sein. Heutzutage aber ist der Dummkopf König, und ich nenne jeden einen Dummkopf, der sich vorm Genießen fürchtet.“ (S. 15) „Wir suchen weder Belehrung noch die bittere Weisheit der Größe. Sonne, Küsse und erregende Düfte – alles Übrige kommt uns nichtssagend vor. … Hier überlasse ich anderen, an Maß und Ordnung zu denken, und gehöre ganz der ausschweifenden Ungebundenheit der Natur und des Meeres.“ (S. 10f.)
„Das Elend hinderte mich zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist. … So kam es wohl, dass ich die unbequeme Laufbahn einschlug, die die meine ist, und voll Unschuld das hohe Seil betrat, auf dem ich mühsam vorwärtsschreite, ungewiss, ob ich das Ziel erreichen werde.“ (Licht und Schatten, in Camus: Kleine Prosa S. 37)
Diese Geisteshaltung wurde Camus jahrzehntelang von den Linken zum Vorwurf gemacht und führte zum Zerwürfnis mit den Pariser Intellektuellen.
„Zwischen dieser Licht- und dieser Schattenseite der Welt will ich nicht wählen, ich liebe es nicht, wenn man wählt. Die Leute wollen nicht, dass man hellsichtig und ironisch sei. … Der wahre Mut besteht immer noch darin, die Augen weder vor dem Licht noch vor dem Tod zu verschließen. Wie kann man überhaupt das Band beschreiben, das diese verzehrende Liebe zum Leben mit jener geheimen Verzweiflung verknüpft? Wenn ich auf diese Ironie lausche (diese Bürgschaft der Freiheit, von der Barrès spricht), die sich auf dem Grund der Dinge verbirgt, enthüllt sie sich allmählich. Sie zwinkert mit ihren klaren kleinen Augen und sagt: ,Lebt als ob…‘ Trotz vielen Suchens beschränkt sich darauf mein ganzes Wissen.“ (Licht und Schatten, in Camus: Kleine Prosa S. 82)
Um noch einmal auf das eingangs erwähnte Staunen meiner Freunde über meinen anhaltenden kritischen Geist zurückzukommen, wie heißt es über den jungen Albert Camus in Iris Radischs Buch „Camus – Das Ideal der Einfachheit“, S. 95: „Er hat viele Pläne und wenig Geld. Er möchte unbedingt auf der Höhe seiner Einsichten leben. Das heißt heftig, ,bis zu Tränen‘, und ohne sich zu verbiegen.“ – Moi aussi – auch in fortgeschrittenem Alter noch.