Die Freiheit, die niemand kennt

von Johann Stefan Tschemernjak

Der Begriff Freiheit wurde im Laufe der Geschichte stets neu gefasst und bis in die heutige Leistungsgesellschaft weitergetragen. Allein, geändert hat sich unser Umgang mit ihm. Die Freiheit, zumindest als Begriff, ist seit der Aufklärung durch viel Widerstand gegangen. Wir brauchen sie nicht mehr zu erschaffen, inzwischen auch nicht mehr neu zu formen oder zu definieren; nach aktueller Lesart besitzen wir sie. Doch was bedeutet Freiheit heute für uns? Frei sein: Wovon? Frei sein: Wofür? Wir scheinen zu wissen, was diese erstrebenswerte Freiheit ist, was unter diesen Begriff fällt. Sobald uns jedoch jemand dazu aufruft, dieses Wissen explizit zu machen, geraten wir in Verlegenheit ob unserer eigenen Impotenz.

Der Wunsch nach Freiheit ist Wunsch nach Unabhängigkeit, nach Souveränität, nach Selbstständigkeit, nach Autonomie und somit nach Würde im Sinne Kants. Es wäre wohl zu kühn gesprochen, wenn man behauptete, Freiheit müsse möglich sein, bloß weil sie vorstellbar sei, lieber Anselm von Canterburry. Der Gegenspieler der Freiheit heißt Zwang innerhalb eines Regimes. In der postmodernen Leistungsgesellschaft wird die bürgerliche Freiheit durch existentielle Zwänge unterminiert. Der individuelle Mensch als Bürger muss, sobald der Obsorge der Erziehungsberechtigten entwachsen, Geld verdienen, um seine Existenz zu erhalten. Wir ordnen uns diesem Prozess der Arbeit freiwillig unter, bis wir dem System erpressbar ausgeliefert sind. Genuin aus dem Grund, weil wir von diesem System das bekommen, was wir existentiell brauchen, müssen wir uns ihm unterwerfen. Die Grenze zwischen Freiheit und Zwang liegt in dieser Gesellschaft so untrennbar knapp beieinander wie niemals zuvor.

Haben wir in unserem politischen wie im wirtschaftlichen System bloß die Freiheit, aus dem Vorhandenen zu wählen? Wir müssen uns mit dem Bestehenden und zur Auswahl Stehenden begnügen. Reale Wahlfreiheit muss aber auf einer Metaebene außerhalb dieses Systems des Vorhandenen gedacht werden; in der Empörung über die Beraubung der Potenz zur Freiheit des Individuums. Byung-Chul Han zeichnet in seinem Buch Müdigkeitsgesellschaft verschiedene Mäander nach. Er unterscheidet die positive Potenz, etwas zu tun, von der Ohnmacht, der Unfähigkeit, etwas zu tun. Diese basale Impotenz ist in diesem Kontext trivial, wichtig hingegen: die negative Potenz, etwas nicht zu tun, obwohl man es könnte. Diese negative Potenz entschwindet den Fesseln des Müssens. Für Han ist „die Negativität des nicht-zu (…) ein Wesenszug der Kontemplation“. (Han, 2014, S. 46f.) Für Giorgio Agamben ist der Mensch primär ein Möglichkeitswesen. „Mit Bezug auf Aristoteles weist er darauf hin, dass zur Potenz, etwas zu tun, gleichzeitig auch immer die Potenz, etwas nicht zu tun, gehört.“ (Weiß, 2014, Lassen und Tun, S. 55)

Heutzutage hat das Etwas nicht tun, trotz der Möglichkeit, wenige Anhänger. Die zur Spitze getriebene Verweigerung in Form eines Sich-nicht-Fügens und ebenso eines Nicht-Wehrens hat eine literarische Gallionsfigur: Bartleby. Die graue und leidenschaftslose Hauptfigur aus Melvilles Erzählung zieht es vor, Dinge nicht zu tun. (Melville, 2004) Im Original „I would prefer not to“, in stoischer Stringenz geht dies bis zu seinem selbstverschuldeten Verhungern.

Der Zwang ging in feudalen Systemen von realen Personen aus, von Aufsehern und von Adeligen. Im 21. Jahrhundert wird diese Macht viel eleganter ausgeführt, ohne Schläge und Strafen, und dennoch sind wir ihr stärker unterworfen als jemals zuvor. Wir zwingen uns selbst dazu, in einem System bestmöglich zu funktionieren, indem wir uns vorspielen, es zu wollen. Das geflügelte Wort der Selbstverwirklichung in der Arbeit; wir fühlen uns in der Leistungsgesellschaft nicht mehr unterdrückt. Wir tun, was wir tun, weil wir es gerne tun, weil wir darin aufgehen. Wir tun genau das, was wir wollen, und laufen diese Art von Strich jubelnd und bejubelt rauf und runter. Alles unter dem trügerischen Deckmantel der Selbstverwirklichung. Von Eὐδαιμονία im Sinne Aristoteles’ sind wir sehr weit entfernt.

Freiheit und Zwang

Um Zwang konkret denken zu können, benötigt es ein Subjekt, welches diesen ausführt. Unterdrückung braucht einen Unterdrücker, ebenso wie Ausbeutung einen Ausbeuter braucht. Was fast unkenntlich verschwommen ist, wirkt umso alarmierender: Unsere, von der öffentlichen Meinung goutierte, Leistungsorientierung führt uns zu einem Punkt, an dem jeder selbst gleichermaßen zu seinem eigenen Ausbeuter und Knecht wird. Wir optimieren uns selbst, um uns besser anzupassen, und beuten uns dadurch aus. Dieses elegante Ausführen der Macht und des Zwanges ist mit jener der letzten Jahrhunderte schwerlich zu vergleichen; wenngleich umso gefährlicher, da sie unentdeckt unser Leben unterminiert und uns vorspiegelt, dass dieses Leben unserem eigenen Willen entspringe.

Die Arbeitsbereitschaft und die Effektivität zu erhöhen stellte in vergangenen Zeiten die Daseinsberechtigung der Fabrikaufseher dar. Die Leistungssteigerung war mit diesen Mitteln sichergestellt, jedoch nur bis zu der Grenze, an welcher sich der Widerstand der ArbeiterInnen erhob. Das darüber hinausgehende, potentielle Maximum der Ausbeutung muss demnach anders gedacht werden, vorbei an einer möglichen Revolution, vorbei am Protest der ArbeiterInnen. Dieses Maximum erreicht man erst dadurch, dass diese selbst glauben, dass sie genau das tun, was sie wollen; aus eigenen Stücken heraus und völlig ohne (äußeren) Zwang. Erst so umhüllt uns die Fremdbestimmung zu Gänze, und so verebbt jeder Widerstand. Der Zwang hat sich unkenntlich gemacht, er ist nicht mehr wahrnehmbar. Was uns zwingt, ist nicht mehr greifbar. Es fehlt an einem personalen Gegenüber, am peitschenschwingenden Repräsentanten des Regimes, einem Feindbild, dem wir unterworfen sind. Über dieses konnten wir uns empören, aufbegehren und uns dadurch unseres (äußeren) Zwanges bewusst werden. Des Aufsehers, der unsere Freiheit so offensichtlich begrenzte, gingen wir verlustig, wir benötigen ihn auch nicht mehr, um uns anzutreiben, denn wir optimieren uns selbst, weil wir es wollen, für uns, um uns selbst zu verwirklichen. Erst an dem Punkt angelangt, an dem man den Zwang, dem man unbewusst unterworfen ist, als Freiheit empfindet, trägt man die Freiheit final zu Grabe. Ohne ein Gegenüber, eine reale Person, ist kein Widerstand möglich. Der Zwang unter dem Deckmantel der (personalen) Freiheit ist das elaborierteste Mittel eines Regimes. Das Regime greift nicht genuin die Freiheit an, sondern instrumentalisiert diese.

Müssen wir uns also vor uns selbst schützen, die wir unsere eigenen Ausbeuter sind? Die moderne Leistungsgesellschaft ist eine Zwangsgesellschaft, welche wir uns selbst, mit Applaus, auferlegt haben. Sich selbst als Subjekt und Objekt zu betrachten, sich zu optimieren und möglichst angepasst einem Trampelpfad innerhalb eines Systems zu folgen, dessen Grenzen wir nicht sehen, oder nicht verstehen, birgt die Gefahr der Selbstentfremdung in sich. Der begleitende Dauerton der trügerischen Selbstbestimmung lässt uns glauben, dass dies alles unsere freien Entscheidungen sind: unser Beruf und unsere Aufopferung für denselben, unzählige Körperoptimierungsstunden in Fitnessstudios, das Belegen von marktkonformen Studiengängen. Entlang diesem Marathon bemerken wir die Grenzen, innerhalb derer wir denken, nicht und wähnen uns in grenzenloser Freiheit.

Das Paradox der Erziehung

Wenn wir auf der Suche danach sind, was wir meinen, wenn wir über den Begriff der Freiheit sprechen, welche Zustände es sind, die wir anstreben und die unter den Begriff der Freiheit zu fassen sind, so drängt sich parallel dazu die Frage nach der Natur der (internalisierten) Zwänge auf.

Haben wir uns nicht an die Existenz von Zwängen von frühester Kindheit an gewöhnt? Erziehung ist nicht nur der erste, sondern ebenso der feinmaschigste Zaun der Zwangsausübung, bemerkte schon Sigmund Freud (vgl. Freud, Das Unbehagen in der Kultur). Durch dieses System von Zwängen, welches den Kindern im Privaten ebenso wie in der Schule auferlegt wird, so die allgemeine Auffassung, führen wir sie einem formulierten Erziehungsziel entgegen. Die Erziehung soll Selbstständigkeit hervorbringen und Kinder zu mündigen und rationalen Bürgern machen. Dieses System erinnert an das alte Sprichwort: Den Teufel durch den Beelzebub austreiben. Durch die Auferlegung von Zwängen bereits im frühesten Kindheitsalter erwarten wir demnach die Entwicklung freier und mündiger junger Menschen. Dieser Widerspruch könnte auch Nährboden für Immanuel Kants Gedanke gewesen sein, als er diese Zeilen schrieb: Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne.“ (Kant, Über Pädagogik, S. 711)

Es ist wohl eher anzunehmen, dass durch diese Art des Zwanges der Gedanke der Freiheit und das Streben danach gedämpft und bis zur Unkenntlichkeit verformt werden. Schlussendlich sind wir an den Zwang gewöhnt, allein, er verlagert sich in der Zeit zwischen Kindheit und Arbeitsleben von einem äußeren zu einem verinnerlichten Zwang. Erst durch die Internalisierung der antreibenden Zwänge nehmen wir diese nicht mehr als solche wahr. (Vgl. Foucault, 1976, S. 228)

Aufschlussreich ist diese Stelle im Lehrplan der Volksschule: „(…) Sie hat die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten. (…) Die jungen Menschen sollen zu gesunden, arbeitstüchtigen (…) Gliedern der Gesellschaft (…) herangebildet werden. (BGBl Nr. 368/2005, November 2005, S. 1)

Es ist also demnach Teil des Bildungsauftrags der österreichischen PädagogInnen, die Kinder auf das Arbeitssystem vorzubereiten, auf ein System, in dem sie sich den Zwängen unterwerfen müssen, die vorgegeben sind. Wir züchten unseren arbeitstüchtigen (sic!) Nachwuchs langsam heran, nach den Normen, welche uns für richtig erscheinen, um ihnen den Einstieg in das Erwachsenenleben leichter oder zumindest erträglicher zu gestalten. Wir gewöhnen die Kinder langsam an den Zwang, der sie später in Gestalt ihrer selbst erwartet. Im Rahmen der Erziehung gliedern wir sie in eine Disziplinargesellschaft ein, die von der Negativität des Verbots bestimmt ist. Sie lernen die beiden Modalverben nicht dürfen und sollen, denen beiden die Negativität des Zwangs anhaftet, zu akzeptieren. Im Laufe ihrer Entwicklung zu arbeitstüchtigen Leistungssubjekten verabschieden sie sich von dieser Negativität und wechseln zu dem (scheinbar) positiven Modalverb: können. (Vgl. Han, 2014, Müdigkeitsgesellschaft, S. 20)

Die digitale Bohème

In der Leistungsgesellschaft entfernen wir uns von Verboten und Geboten und erklimmen die nach Freiheit klingenden Worte: Projekt, Initiative und Motivation. Die Negativität der grauen Vorzeit erzeugte Verrückte und Verbrecher. (Ebd., S. 21, und auch Foucault) Der Paradigmenwechsel jedoch erzeugt statt Freiheit die Depression der Versager, jener, die nicht mehr können, jener, die dafür selbst verantwortlich sind. Die Verantwortung liegt innerhalb der neoliberalen Zwangsjacke beim Leistungssubjekt selbst. Alles fällt unter seine eigene Verantwortung. Es ist frei von einem äußeren Zwang und Souverän seiner selbst. Zur Erfüllung des amerikanischen Traums wurde ihm der Weg geebnet, ihm alles Rüstzeug zur Verfügung gestellt. Wer es dann nicht schafft, ist selbst daran schuld.

Der Wegfall der äußeren Herrschaftsinstanz Dritter führt jedoch nicht zur Freiheit, sondern nur zur Verschmelzung von Freiheit und Zwang (ebd., S. 24); zu deren Ununterscheidbarkeit. Selbstausbeutung ist die viel effizientere Methode als Fremdausbeutung. Das ausgehöhlte, erfolgreiche Individuum hat sich seinen Selbstwert selbst abtrainiert. Als stabile Persönlichkeit würde es im Zeitalter des Narzissmus nicht erfolgreich bestehen können. Die gezüchtete und durchaus akzeptierte Persönlichkeitsstörung des Narzissten ist Steigbügelhalter der Karriere und schützendes Kettenhemd zugleich. Hingegen: Das (Selbst-)Scheitern, das Nicht-mehr-Können, führt zur Isolation und Depression darüber, dass man selbst es ist, der für den Misserfolg verantwortlich ist. Diese psychischen Erkrankungen spiegeln die paradoxe Freiheit innerhalb der Leistungsgesellschaft wider.

Es scheint, als müsste es uns gelingen, allen Umständen trotzend, uns von dieser selbstverschuldeten Kasteiung zu befreien. Gelingt dies mittels der Flucht aus der Lohnarbeit in die neue Selbstständigkeit? Wenn dies tatsächlich eine Flucht (nach vorne) ist, wovor flüchten wir? Vor einer Festanstellung: Ja. Aus einem System: Nein, wie auch? Der kreative Drang, sich selbst zu entfalten, als Teil einer neu gearteten und an die New Economy angelehnten, digitalen Bohème, führt zu keinen anderen Ergebnissen und noch weniger in einen Zustand, welchen man unter dem Begriff der Freiheit fassen könnte. Die Selbst-Ständigkeit birgt Freiheiten und Zwänge gleichermaßen; gewiss ist nur: die Arbeit holt einen ebenso schnell wieder ein, wie dies in einer Festanstellung der Fall ist. Jene Arbeit, die ursprünglich wohl als Befreiung und als Mittel zur Autonomie gedacht war, jene Arbeit, die den Übergang zwischen Arbeit und Freizeit schaffen sollte, oder zumindest zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, verwandelte sich von einer Hoffnung zu einer Fessel.

Der angepasste Imperativ der digitalen Bohème könnte also wie folgt lauten: Werde selbstständig mittels einer digital angebotenen Dienstleistung oder eines Produkts, welches deiner Kreativität entspringt. Suche dir parallel dazu einen Brotjob, von der studentischen Aushilfskraft bis zur Gastronomie kann das alles sein, was Geld einbringt, um Platz und Zeit zu schaffen, das eigene Lebensprojekt Freiheit zu verfolgen.

Sind Befürworter dieses Imperativs, nicht nur jene aus dem Bereich der Kreativität, die Paradeopfer der Selbstausbeutung? Dies alles geschieht unter dem Deckmantel der Förderung des tausendfach widerlegten Glaubens an die sich hoffentlich demnächst einstellende eigene Freiheit und Autonomie.

Aber nicht nur die neuen Selbstständigen sind innerhalb dieses Systems weiterhin gefangen. Wie steht es um die MitarbeiterInnen der in den letzten Jahren aufgekommenen Unternehmen der New Economy? Mit all ihren placebo-liberalen Führungsstilen, ihren in den Gängen platzierten Tischfußballtischen, ihrer von oben verordneten Per Du-Kultur und ihrer gefeierten Gleitarbeitszeit, seit deren Einführung nachts noch länger das Licht in den einzelnen Büros brennt? Es könnte das fertig gedachte Modell der Verschleierung des Zwanges par excellence sein. Die glücklichen MitarbeiterInnen haben den Übergang geschafft: Vom Gehorsamkeitssubjekt der Disziplinargesellschaft zum sich freiwillig und ohne Fremdzwänge ausbeutenden Leistungssubjekt der Leistungsgesellschaft. Ein Büro voller Phagozythen (sogenannte Fresszellen: Sie beseitigen Erreger, indem sie diese in sich aufnehmen und abbauen).

Der internalisierte Zwang der Selbstermahnung, es effizienter und besser zu machen, etwas zu erreichen und erfolgreich zu sein, ist die Last der Selbstevaluation. Eine ermutigende neue Definition von Autonomie und Freiheit ist innerhalb dieser Gruppe jedoch auszumachen. Das zum größten Teil im notwendigen Brotjob verdiente Geld wird nicht gewinnbringend investiert. Es wird umgetauscht in die neue (Glücks-)Währung: Zeit. Zeit zur persönlichen Entwicklung, zum Aufbau und zur Pflege sozialer Beziehungen in der realen Welt ebenso wie in sozialen Netzwerken. Das neue Statussymbol ist die Akzeptanz und die Aufgehobenheit in einem System aus Freunden, Gleichgesinnten und der gesellschaftlichen Community der entsprechenden Branche. Strahlender erscheinen fünf Dutzend Gratulanten zum Geburtstag als die hochpolierte Rolex-Uhr. Was am Markt angeschafft wird, sind keine materiellen Statussymbole mehr. Gekauft und hochgehalten dagegen werden verdinglichte Erfahrungen. Der Konsum von Kultur, das Teilhaben an einem Lebensstil, das Leben im öffentlichen Raum der Restaurants und Bars kommunizierend zu genießen rückt als zu erstrebendes Ziel in den Mittelpunkt.

Das Individuum der digitalen Bohème verwandelt, um Foucaults Worte zu verwenden, das eigene Selbst in ein Kunstwerk. (Vgl. Foucault, 1987, Zur Genealogie der Ethik, S. 273). Soziale Netzwerke werden ebenso wie öffentliche Orte zur Bühne der eigenen optimierten und nach bestem Wissen und Gewissen konstruierten öffentlichen Identität.

Jede Selbstaufopferung kommt nicht umhin, ihre eigenen, zuletzt physischen Grenzen anzuerkennen. Der Zusammenbruch, das Nicht-mehr-weiter-Können, steht heute in einem ganz different konnotierten Kontext. Wer innerhalb des neuen Systems der Leistung und Selbstoptimierung ermüdet, wer scheitert, ist, in erster Linie für sich selbst, nicht mehr Opfer, sondern Schuldiger. Durchgefallen. Als nicht gut genug befunden und ausgeschieden. Wir sind vom feudalistischen müssen zum postindustriellen können gelangt; allein, wir müssen die Endlichkeit der Möglichkeiten des Könnens in Betracht ziehen.

Ist Freiheit erstrebenswert?

Beginnend mit der Erörterung von Freiheit und Zwang in der industriellen Disziplinargesellschaft habe ich die Überleitung zur heutigen postmodernen Disziplinargesellschaft nachgezeichnet. In dieser haben wir die Zwänge internalisiert, wir wurden zu Knecht und Ausbeuter unserer selbst. Durch diesen versteckten Zusammenfall in uns selbst treiben wir uns zu Höchstleistungen in allen Bereichen unseres Lebens an. Es ist das Rüstzeug des ausgehöhlten Narzissten und zugleich sein Sprungbrett. Die große Gefahr dieses internalisierten Systems der Selbstoptimierung manifestiert sich bei all jenen, welche am Können scheitern. Jene, die versagen, sehen sich nicht mehr in der Opferrolle, denn sie sind dafür selbst verantwortlich, sie sind Täter. Die neoliberale Zwangsjacke, in welcher wir uns frei bewegen dürfen, gab ihnen alle Möglichkeiten zur Selbstoptimierung und der vermeintlichen Selbstentfaltung mit, wer es dann nicht schafft, ist nicht gut genug und vor allem: selber schuld.

Die Selbstausbeutung findet sich aber nicht nur in der Welt der Lohnarbeit. Ebenso, wenn nicht sogar deutlicher, bei den neuen Selbstständigen: bei den kunstschaffenden und (teilweise) selbstständig erwerbstätigen Mitgliedern der digitalen Bohème ebenso wie in allen anderen Bereichen der freien Wirtschaft. Ihr an den Mythos des Sisyphos (vgl. Camus, 1942, Le mythe de Sisyphe) erinnernder Versuch des Ausbruchs aus dem Zwang entpuppt sich, bei genauerer Betrachtung, als schlechte Kopie desselben. Ebenso die gekünstelte neue Arbeitsatmosphäre in den Büros der Firmen der New Economy, bei welchen hinter der Fassade der perfide alte Zopf der Leistungsoptimierung wartet. All diese Figuren sind, bei genauerer Betrachtung, keine Hinwendung zu Freiheit, keine (Be-)freiung, sondern nahezu das Gegenteil dessen.

Halten wir das genuine Dolcefarniente gar nicht mehr durch? Selbst wenn wir es könnten, so müssen wir doch eingestehen, dass die Figur des Müßiggängers keine ist, welche unter den Begriff der Freiheit fällt, ja noch nicht einmal eine erstrebenswerte Figur ist. Ich erinnere an den selbstverschuldeten Tod des Müßiggängers Bartleby. Wenn Müßiggang eine von der Mehrheit der Bevölkerung angestrebte Art des Lebens wäre, so wäre der Schrei nach der Bedingung der Möglichkeit dieses Lebensstils, etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen, lauter und weiter verbreitet. Kann es Genuss, unter der Doktrin der Leistung, nur noch in Ergebnisse gehüllt geben; also außerhalb der Arbeit maximal noch im messbaren Sport? Das Ziel der Arbeit, könnte man annehmen, ist doch die darauf folgende, also ihr geschuldete Unabhängigkeit; allmählich reicht wohl auch ein repräsentatives Burn-out. Arbeit aus Zwang führt zur Erschöpfung. Arbeit aus Freude an der eigenen Effektivität hingegen zur Selbstoptimierung, wenngleich, im Falle des Scheiterns, zur Depression über das selbstverschuldete Nicht-gut-genug-Sein in der Diagnose Erschöpfungsdepression.

Es bleibt die Hauptfrage dieses Aufsatzes stehen. Was fällt unter den erstrebenswerten Begriff Freiheit? Und ist der Begriff bzw. seine Verwirklichung erstrebenswert?

In dem bisher Gesagten habe ich versucht verschiedene Figuren zu skizzieren und darzustellen, was ihnen allen gemeinsam ist. Jede für sich ist ein vermeintlicher Repräsentant dieser Freiheit. Bei genauerer Betrachtung jedoch, bei dem Versuch, diese Beispiele zu explizieren, wird klar, dass die Freiheit weder in Form des Müßiggangs, der Kontemplation, noch in der negativen Potentialität eines Bartlebys zu finden ist. All diese Varianten können unter einen Begriff der positiven Potentialität wie Freiheit nicht gefasst werden. Ihnen fehlt für diesen Begriff zu viel an Glanz, und vor allem fehlt es ihnen an Attraktivität.

Erzählungen von glücklichen Müßiggängern gibt es wenige, und wenn man diese liest, so habe ich den Eindruck, dass sie mehr Legenden schaffen als Wahrheiten beschreiben. Auf den Boden der Tatsachen gebracht, führt uns dieser Gedanke noch einmal zurück zu Melvilles Bartleby. Dieser erweitert den Umfang dessen, was er lieber nicht tun möchte, stetig. Zuerst entzieht er sich zusätzlichen aufgetragenen Arbeiten, bis er schließlich mit der berühmten Phrase I would prefer not to es auch vorzieht, dies nicht mehr zu tun und ebenso darüber keine Auskunft mehr zu geben, warum er es nicht tut. Bartleby zieht es auch vor, das Büro, in dem er nicht mehr arbeitet, nicht mehr zu verlassen, bis er schließlich von der Polizei abgeführt wird und im Gefängnis landet. Dagegen wehrt er sich ebenso stringent nicht, er zieht es jetzt auch vor, nicht mehr zu essen. Das Ende kommt, wie es kommen musste, Bartleby stirbt, begleitet von den Worten seines ehemaligen Arbeitgebers: „Oh, Bartleby! Oh, Menschheit!“ Abschließend muss ich gestehen, dass ich nicht mehr über den Begriff der Freiheit sagen kann, als dass dieser ein Statthalter-Term ist für eine attraktive und glänzende positive Potentialität. Zumindest das, was nicht unter den Freiheitsbegriff zu fassen ist, dies aber auf den ersten Blick vorgibt, wird bei eingehender Betrachtung schnell sichtbar. Was bleibt, ist eine Sehnsucht nach Freiheit, zumindest nach etwas, das wir nicht genau kennen.

Literatur

Agamben, Giorgio, (2002), Das Offene. Der Mensch und das Tier, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Foucault, Michel, (1987), Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Forschungsarbeiten, übers. von Claus Rath und Ulrich Raulff, in: Dreyfus, Hubert L.; Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M.: Athenäum.

Foucault, Michael, (1976), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Han, Byung-Chul, (2014), Müdigkeitsgesellschaft, Matthes & Seitz, Berlin.

Kant, Immanuel, (2007), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Kant, Immanuel (1964), „Über Pädagogik“, in ders. Werke in zehn Bänden, Bd. VI, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden.

Melville, Hermann, (2004), Bartleby, der Schreiber, Insel, Frankfurt a.M.

Weiß, Martin, (2014), Müßiger Widerstand, in: Hobus, Steffi; Tams, Nicola, (2014), Lassen und Tun, Transcript, Bielefeld.

Wolf, Ursula, (2006), Aristoteles’ Nikomachische Ethik, Rowohlt, Hamburg.