Das fesselnde Spiel und die spielerische Leichtigkeit des Albert Camus
von Maria Wölflingseder
„Und Jacques’ an der Marne getöteter Vater. Was bleibt von diesem anonymen Leben? Nichts, eine verschwindend kleine Erinnerung – die geringe Asche eines beim Waldbrand verbrannten Schmetterlingsflügels.“*
Seinen Vater vermisste Jacques zeitlebens. Er war noch kein Jahr alt, als dieser im Herbst 1914, nach anfänglicher Besserung, an den Folgen seiner Kriegsverwundung starb. – Nach der Zuwendung der Mutter sehnte sich Jacques zeitlebens. Die Beziehung zur ihr, einer hör- und sprachbehinderten Analphabetin, war von einer unüberwindlichen Barriere überschattet. Über die Familie in der kleinen Wohnung, in der auch Jacques’ älterer Bruder und sein Onkel im Armenviertel Algiers lebten, bestimmte die herrschsüchtige Großmutter. Sie lebten bereits seit mehreren Generationen wie Unzählige aus Frankreich und Spanien in das koloniale Algerien Eingewanderte „ohne Vergangenheit, ohne Moral, ohne Vorschrift, ohne Religion, aber glücklich, dazusein und im Licht zu sein, voller Angst vor der Nacht und dem Tod“. – Jacques versuchte das Geheimnis seines Vaters zu ergründen. „Aber letzten Endes war es nur das Geheimnis der Armut, die Menschen ohne Namen und ohne Vergangenheit erzeugt…“
Fast hätte Jacques Comery, der Name Albert Camus’ in seinem autobiografischen Roman „Der erste Mensch“, dasselbe Schicksal erlebt. Wenn er nicht in der letzten Volksschulklasse dem Lehrer Louis Germain begegnet wäre, würde die Welt heute keinen Camus kennen. Keinen Camus, dessen weitsichtige Erkenntnisse sich in keine ideologische Schublade stecken lassen. Keinen Camus in seinen gegensätzlichen Facetten „Nüchternheit und Sinnlichkeit“. Keinen Camus, der trotz oder gerade wegen all seiner Erschwernisse – Armut, Kriege, Exil, Depression, durch seine Lungentuberkulose ständig den Tod vor Augen – das Leben der Mühe wert fand, gelebt zu leben: der Liebe, der Sonne, des Meeres wegen.
Der Lehrer, der den Ersten Weltkrieg als Soldat überlebt hatte, kümmerte sich um den begabten Kriegshalbwaisen. Für Jacques war die Schule „mächtige Poesie“. Im Unterricht wurden die Schüler nicht wie üblich „wie Gänse mit Wissen gemästete“, sondern sie „fühlten zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken“. „Bei Monsieur Bernard (wie der Lehrer im Buch heißt) war der Unterricht aus dem einfachen Grund, dass er seinen Beruf leidenschaftlich liebte, ständig interessant.“
Für Jacques, der nur Sonne, Hitze und Regen kannte, tat sich durch die fremdartigen Erzählungen in den französischen Schulbüchern eine neue Welt auf, die seine Phantasie entfachte. Eine Welt, in der es „Kinder mit Wollmütze und -schal“ gab, die „die Füße in Holzschuhen, bei Eiseskälte Reisigbündel über verschneite Wege hinter sich herzogen, bis sie das schneebedeckte Dach des Hauses erblickten, dessen rauchender Schornstein ihnen mitteilte, dass die Erbsensuppe auf der Feuerstelle kochte“.
„Eine Welt ohne Freude und
tätige Muße muss untergehen“
Von Camus’ Werken sind vor allem seine in asketischem Stil geschriebenen Parabeln „Der Fremde“ und „Die Pest“ bekannt. Da er sich in den ersten Büchern mit dem Absurden, mit der Negation befasste (Mythos von Sisyphos), wurde er stets den Existenzialisten zugeordnet. Sein Werk ist jedoch vielmehr als Entwicklung zu verstehen. Camus wehrte sich, ein Prophet des Absurden genannt zu werden. Er hätte nichts anderes getan, „als über eine Idee nachzudenken, die er auf den Straßen seiner Zeit fand“. (Hochzeit des Lichts) Auch zu den Existenzialisten zählte er sich nicht. Er wollte ihnen weder ins Transzendente, also in eine übergeordnete Instanz, noch in die Verzweiflung folgen, welche er bei den meisten existenzialistischen Philosophen ausmachte.
„Ich bin kein Philosoph… Mich interessiert zu wissen, wie man leben muss (comment il faut se conduire). Noch genauer: Wie man leben kann, wenn man weder an Gott noch an die Vernunft glaubt.“ (Interview mit Servir 20.12.1945, zit. nach Heinz Robert Schlette) Die Bejahung des Lebens um des Lebens willen unterschied ihn.
Mit einer „permanenten Revolte“ (Mythos von Prometheus) gelte es vielmehr, das Absurde nicht nur auszuhalten, sondern zu überwinden. – Seine wichtigsten Erkenntnisse waren für seine Zeit, die 1940er und 1950er Jahre, außergewöhnlich. In den Kreis der Pariser Intellektuellen wurde „der algerische Straßenjunge“, wie er oft genannt wurde, anfänglich mit Interesse aufgenommen, aber schließlich kam es zum Bruch, zum Zerwürfnis mit dem Chefideologen Jean-Paul Sartre. Wie konnte es jemand wagen, jeglichen Totalitarismus, also auch den orthodoxen Marxismus (in damaliger stalinistischer Prägung oder das DDR-Regime) zu verurteilen, ohne dem rechten Lager anzugehören. Camus hegte vielmehr Sympathien für die anarchistische Linke und ging noch weit darüber hinaus. Er übte wie wohl wenige seiner Zeit eine radikale Wachstumskritik, eine Kritik am Fortschrittsethos, er sprach sich vehement gegen die Atombewaffnung aus, und in Lohnarbeit und Geldverhältnis sah er alles andere als eine dem Menschen zuträgliche Zukunft. Er ahnte bereits zu Beginn der 1950er Jahre „eine drohende Verwandlung Europas in eine ,Weltfabrik‘, in der das Leben uniformiert und ,immer mehr vom Rhythmus der Produktion bestimmt wird‘. Er prognostiziert, dass die ,wahren Leidenschaften‘ ökonomisiert und ,die Verstümmelung des Menschen vervielfacht‘ werde.“ (Der Mensch in der Revolte, zit. nach Iris Radisch). „Eine Welt, in der kein Raum mehr vorhanden ist für das Sein, die Freude, die tätige Muße, ist eine Welt, die untergehen muss.“ (Tagebuch)
Der diagnostizierten neuen Barbarei setzte Camus ein „menschliches Maß“, ein menschlich und ökologisch verträgliches Naturverständnis entgegen (Mythos von Nemesis). Nemesis ist die Göttin des gerechten Zorns. Sie bestraft die menschliche Selbstüberschätzung. „Für Camus ist sie eine Allegorie der Versöhnung, des Maßes, der Liebe und des Ausgleichs.“ (Radisch) Er verwendete auch den Begriff „pensée de midi“, „mittelmeerischen Denken“. In „Der Mensch in der Revolte“ reflektiert Camus auf das, „was man das Sonnendenken nennen kann, in welchem seit den Griechen, die Natur mit dem Werden im Gleichgewicht stand.“ Er konstatiert einen historischen Kampf der deutschen Ideologie – beginnend mit der ersten Internationale der Sozialisten –, die stets gegen das freiheitliche Denken der Franzosen, Spanier und Italiener vorging. Aber letztlich geht es dabei auch um sein ganz persönliches Erleben des Glücks am Mittelmeer.
Ende der 50er Jahre zieht sich Camus mehr und mehr von Paris, wo er sich nie zu Hause gefühlt hat, zurück nach Südfrankreich. Nach 20 Jahren intensiver Arbeit als Autor, als Journalist, als Verlagslektor, als Theatermacher, nach einem Leben als Kultautor und Literaturnobelpreisträger, der aber ständig auch Anfeindungen ausgesetzt gewesen ist, beginnt Camus mit seinem letzten, ihm wichtigsten Werk. Er möchte an seine frühen Essays in „Hochzeit des Lichts“ anknüpfen – eine Liebeserklärung an Algerien, an die Kultur des Mittelmeers –, möchte sich von allen Formalismen befreien und auf das beschränken, was ihn ausmacht. „Den direkten Zugang ohne Vermittlung, das heißt die Unschuld wiederfinden. Hier die Kunst vergessen, heißt sich vergessen. Von sich selbst absehen, nicht aus Tugend. Im Gegenteil seine Hölle annehmen.“
Spiele im verwilderten Park
Als Camus’ unvollendetes Werk „Der erste Mensch“ erschien – 34 Jahre nach seinem Tod, den er 1960 bei einem Autounfall gefunden hatte, war das Erstaunen groß: welch atemberaubend sinnliches, intimes und poetisches Buch! Wer es nicht kennt, kennt Camus nicht.
Ein Buch über seine Kindheit „zusammengehalten durch die blanke Not in einer behinderten und unwissenden Familie, mit seinem brausenden jungen Blut, einem unersättlichen Lebenshunger, der ungestümen, gierigen Intelligenz, und während der ganzen Zeit ein Freudenrausch, der nur unterbrochen war von plötzlichen Schlägen, die eine unbekannte Welt ihn versetzte und die ihn in Ratlosigkeit stürzten, von denen er sich aber schnell erholte, danach trachtend, diese Welt, die er nicht kannte, zu verstehen, kennenzulernen, sich anzueignen…“.
Besonders bezaubernd sind die Beschreibungen der ins Spiel vertieften Kinder. Die Donnerstage verbrachten Jacques und sein Freund Pierre im verwilderten Park des Kriegsinvalidenheims in Kouba auf einem Hügel am Rande von Algier. Pierres Mutter arbeitete in der Wäscherei des Heims. „In diesem duftenden Dschungel“ eines „wohlriechenden Gewirrs aus Pfeifensträuchern, Jasmin-, Klematis-, Geißblattbüschen, an deren Fuß sich ein dicker Teppich von Klee, Sauerklee und wilden Gräsern breitmachte, umherzuspazieren und herumzukriechen, sich auf der Höhe der Gräser in ihn zu ducken, mit dem Messer die verflochtenen Durchgänge freizulegen und mit gestreiften Beinen und einem Gesicht voll Wasser wieder herauszukommen, war berauschend.“ – „Im tiefsten Dickicht des Parks, vor allen Blicken geschützt“ verbrachten sie auch viel Zeit mit der Herstellung „schreckenerregender Gifte“ und „geheimnisvoller Liebestränke“ aus zermahlenen Früchten und Blättern. „Die Kinder hatten unter einer alten Steinbank, die an ein mit wildem Wein bewachsenes Mauerstück gelehnt stand, eine ganze Ausrüstung an Aspirinröhrchen, Arzneifläschchen oder alten Tintenfässern, Scherben von Geschirr und angeschlagenen Tassen zusammengetragen, die ihr Laboratorium darstellten.“ – „Am großartigsten aber waren die windigen Tage“, an denen sie mit riesigen hochgehaltenen Palmwedeln gegen den Wind kämpften. Wenn Jacques nachts „todmüde in die Stille des Schlafzimmers, wo seine Mutter leise schlief, im Bett lag, lauschte er noch dem in seinem Inneren heulenden und tobenden Wind, den er sein Leben lang lieben sollte“.
Camus, der sich nicht nur leidenschaftlich den Spielen der Kindheit hingab, sondern auch begeistert Fußball spielte, der alle Bücher, die er nur finden konnte, verschlang – „mit der gleichen Gier, mit der er lebte, spielte oder träumte“, wurde später auch ein passionierter Tänzer. Und am Theaterschreiben, -spielen und am Regie führen liebte er die Kunst der Verwandlung, das Spiel mit den Realitäten und das gemeinsame Schaffen.
„Der Fluch der
zum Weinen dummen Arbeit“
Jacques erlebte aber auch von klein auf, in seiner Familie und am eigenen Leib, „den Fluch der zum Weinen dummen Arbeit, deren endlose Eintönigkeit es schafft, die Tage zu lang und gleichzeitig das Leben zu kurz zu machen“. Die Großmutter zwang ihn, in den Ferien zu arbeiten.
„Der lange Sommer verflog für Jacques praktisch in dunklen, glanzlosen Tagen mit belanglosen Tätigkeiten. ,Es geht nicht, dass man nichts tut‘, sagte die Großmutter. Aber gerade in diesem Büro hatte Jacques den Eindruck, nichts zu tun. Er lehnte die Arbeit nicht ab, obwohl für ihn nichts an die Stelle des Meeres oder der Spiele in Kouba treten konnte. Aber wirkliche Arbeit war für ihn die in der Böttcherei zum Beispiel, ein anhaltender Einsatz von Muskeln, eine Folge geschickter, präziser Bewegungen, harte, gewandte Hände, und man sah das Ergebnis seiner Anstrengungen zum Vorschein kommen: ein gut gelungenes neues Fass ohne einen Riss, das der Arbeiter dann betrachten konnte. Diese Büroarbeit jedoch kam von nirgendwoher und führte zu nichts. … Das Königliche an seinem Leben in Armut, die unersetzlichen Reichtümer, die er so gierig und aus dem Vollen genoss, musste er einbüßen, um ein wenig Geld zu verdienen, für das man nicht den millionsten Teil dieser Schätze würde kaufen können.“
In der Widerstandszeitschrift Combat, deren Mitarbeiter, zuweilen auch Leiter Camus viele Jahre war, ruft er nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschen auf, die Chance einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderung zu ergreifen: „… wenn man aber unter das Diktat des Geldes zurückfalle…, dann sei die Entwicklung der Menschheit auf lange Sicht – und vielleicht für immer – fehlgeleitet.“ (Zit. nach Sändig)
„Der erste Mensch“, Camus’ Vermächtnis, blieb zwar unvollendet, dennoch ist ihm sein Wunsch auf wundervolle Weise gelungen: „… da ich doch wenigstens eines mit unumstößlicher Gewissheit weiß, dass nämlich ein Menschenwerk nichts anderes ist als ein langes Unterwegssein, um auf dem Umweg der Kunst die zwei oder drei einfachen, großen Bilder wiederzufinden, denen sich das Herz ein erstes Mal erschlossen hat.“ (Licht und Schatten, in: Kleine Prosa)
Literatur
Albert Camus: Der erste Mensch, Reinbek 1995, übers. v. Uli Aumüller.
Ders.: Hochzeit des Lichts, Zürich – Hamburg 2014, übers. v. Peter Gan, Monique Lang.
Ders.: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1997, übers. v. François Bondy.
Ders.: Tagebuch 1951-1959, Reinbek 1997, übers. v. Guido. G. Meister.
Ders.: Kleine Prosa, Reinbek 1997, übers. v. Guido. G. Meister.
Iris Radisch: Camus – Das Ideal der Einfachheit, Reinbek 2014.
Heinz Robert Schlette und Franz Josef Klehr (Hg.): „Helenas Exil“ – Albert Camus als Anwalt des Griechischen in der Moderne, Stuttgart 1991.
Brigitte Sändig: Albert Camus, Leipzig 1988.
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* Die Zitate sind, wenn nicht anders angegeben aus: Albert Camus „Der erste Mensch“, Reinbek 1995.
PS:
„Mon cher Albert“
Oder was nicht in „Der erste Mensch“ steht
Es war einmal ein Junge in Algier, er hieß Abel Paul Pitous. Er war gleich alt wie Albert Camus. Sie gingen gemeinsam in die Schule und waren auch außerhalb der Schule gute Freunde. Nach ihren 18. Geburtstagen haben sie sich für immer aus den Augen verloren. Mehr als zehn Jahre nach dem Tod von Albert Camus, Anfang der 1970er Jahre, schreibt Pitous, der seit seiner Pensionierung bis zu seinem Tod im Jahr 2005 in Marseille lebte: „Mon cher Albert, ich weiß, dass Du Deine Freunde verlassen hast für eine Welt ohne Wiederkehr. Und ich habe keine andere Möglichkeit, Dich zu erreichen, als Dir zu schreiben…“ So beginnt ein 90 Seiten starkes Büchlein prallvoll mit Erinnerungen an die gemeinsamen Erlebnisse im Algier der 1920er Jahre.
Paupol, wie er genannt wurde, beschwört unzählige Begebenheiten herauf, die die beiden „Fußballverrückten“ in verschiedenen Vereinen erlebt haben.
Und mehr als in jeder Biografie, die je über Camus geschrieben wurde, erfährt die Leserin über das „Theater“, über die Späße, die der kleine Albert mit „unwiderstehlich komischer Mimik“ bei ihren Streifzügen durch das Viertel dem überraschten, dem pikierten, dem rot werden Publikum darbot; dem Publikum, das er stets im Vorübergehen so treffend „freundlich-geistreich drankriegte“.
Besonders gerne zog Albert sich den Sockenhalter über die Stirn und die ins Gesicht gestrichenen Haare und mimte einen Rothaut-Indianer, der plötzlich um Passanten wirbelte, die sich vor lauter Lachen bogen. „Du warst so unbekümmert, als gäbe es zwischen Himmel und Erde nur uns, Dein Geschrei, Deine improvisierten Lautmalereien oder unentzifferbaren Hirngespinste, Deine Bewegungen im höllischen Rhythmus der von Dir erfundenen Musik… Es geschah immer unerwartet; Du musstest bloß an irgendeiner Ecke ein „Lagerfeuer“ erfinden, dessen Flammen uns entgegenzüngelten.“
Das Buch gehört wohl zu den hinreißendsten Freundschaftsbezeugungen, die je auf Papier gebannt wurden.
Abel Paul Pitous
Mon cher Albert – ein Brief an Albert Camus
Arche Verlag, Zürich–Hamburg 2014