Capital ludens

von Emmerich Nyikos

Laissez faire, laissez jouer.

1.

Spiel in seiner reinsten Form ist ein Handlungsmodus, bei dem das materiale (sachliche) Tun (das Würfeln, das Legen von Karten, das Imitieren von Rollen, das Manipulieren von Steinchen), wie ernst man es auch immer betreibt, nicht auf einen Effekt jenseits der Spielhandlung abzielt: Es reicht (von Standpunkt des Spielers), als nicht-instrumentelles Verhalten, über das Spiel nicht hinaus. Oder anders gesagt: Das Motiv des Spielers ist nicht, die „Realität“ jenseits des Spiels umzugestalten (wie in der Praxis, also der Arbeit in einem anthropologischen Sinn), unbeschadet des Umstands, dass dieses Spiel Wirkungen auch in der „externen“ Welt haben kann, die aber nicht beabsichtigt sind oder genauer: sich für den Spieler, im konkreten Moment wenigstens, als irrelevant, als unerheblich erweisen (so etwa, dass im kindlichen Spiel Verhaltensschemata eingeübt werden, die im späteren Leben dann abrufbar sind, wie dies im Übrigen schon im Tierreich der Fall ist). Der Baumeister baut in diesem Sinne ein Haus, damit es später bewohnt wird, das Kind hingegen, das mit Bausteinen spielt, tut es um des Bauens willen – der reale Effekt, das fertige Häuschen, hat als solches keine Bedeutung, so wenig, dass es sofort nach dem Spiel oft wieder „zerstört“ wird. Kurz: Es wird nicht benutzt und dient am Ende zu nichts.

 

2.

Die Spielhandlung als solche ist also nicht orientiert auf externe Belange, besitzt keinen äußeren Zweck: Man spielt demnach nicht, um dieses oder jenes jenseits des Spiels zu bewirken (hervorzubringen, umzugestalten), sondern nur mit Blick auf Vergnügen und/oder Gewinn. Hier haben wir dann auch die beiden Pole, zwischen denen man jedes Spiel einordnen kann: das Unterhaltungsspiel auf der einen, das Gewinnspiel (in seiner reinsten Form: das Glücksspiel) auf der anderen Seite.

 

3.

Während es nun bei dem einem Extrem nur darum zu tun ist, sich zu zerstreuen, geht es beim andern nur ums Ergebnis: um das abstrakte Resultat, das zwar aus der Spielhandlung folgt, indes nicht direkt, als Konsequenz des besonderen Tuns (wie das Bauen etwa ein Gebäude hervorbringt), sondern vermittelt über die Regeln.

Das Gewinnspiel kann man mithin folgendermaßen in seine Komponenten zerlegen:

  1. die Spielhandlung in ihrer materialen Gestalt (das Würfeln usw.)
  2. die realen Konsequenzen, die idealiter sich auf Nullniveau befinden, auf alle Fälle jedoch nicht beabsichtigt sind (respektive irrelevant für den Spieler)
  3. schließlich der Gewinn/der Verlust, der sich nach Abschluss des Spiels gemäß den Auszahlungsregeln ergibt.

 

4.

Kapital erscheint als sich selbst verwertender Wert, dessen Trajektorie G-W-G‘ ist: eine Summe Geldes dient zum Ankauf von Produktionsmitteln und Arbeitskraft, die, kombiniert und in Aktion überführt, eine Warenmenge ergeben, welche mit einem Profit anschließend wieder verkauft werden kann: Die ursprüngliche Summe hat sich somit um ein Inkrement, ΔG (die monetäre Gestalt des Mehrwerts), vermehrt. Dabei ist allein diese Vermehrung (der Zuwachs an Tauschwert, an Geld) relevant. Der Profit und nichts sonst ist das Ziel, ist Motiv, nicht das W, also nicht das, was im produktiven Prozess konkret produziert worden ist: Die Stahlmacherei ist, nach Marx, nur „Vorwand der Plusmacherei“. Und das gilt für jede Produktion, unabhängig von jedem Gebrauchswert: Wenn es Profit bringen sollte, so würde das Kapital zweifellos auch „Exkremente in Dosen“ herstellen lassen – oder was es sonst noch an exemplarisch Nutzlosem gibt (wie dies die Kunst, auch hier Avantgarde, schon seit langem vorexerziert).

 

5.

Produktion also von Reichtum in abstrakter Gestalt – wie der Ausdruck schon sagt, spielt das Konkrete, der Gebrauchswert, hier gar keine Rolle. Und eben deshalb ist es ein Spiel oder analog einem Spiel, ein Gewinnspiel, bei dem der Profit, der Gewinn, im Mittelpunkt steht, als Angel- und Drehpunkt, während das „Spielen“, die Produktion, nur Mittel zur Auszahlung ist, wie bei jedem Gewinnspiel.

 

6.

Reinste Ausprägung erfährt dieses Spiel im Kredit, wo sich die kapitalistische Formel auf G-G‘ reduziert, und nicht zuletzt an der Börse, dem „Großen Casino“, wo der Profit in Form des Dividendengewinns und/oder der Kursgewinne erscheint. In beiden Fällen entfernt sich die kapitalistische Praxis von allem Konkreten noch weiter, auch wenn sie in letzter Instanz noch immer an die Gebrauchswertsphäre geknüpft bleibt, ganz zum Verdruss der Spekulantengemeinde, welche in Krisen diesen „Defekt“ des Systems am eigenen Leib jedes Mal schmerzlich erfährt. Die Abstraktion ist hier doppelt, oder, wenn man so will, potenziert: Der Tauschwert, im Geld inkarniert, tritt mit der „endlichen Welt“, dem profanen Geschehen der Produktion, nicht mehr direkt in Kontakt.

 

7.

Wir haben gesehen, dass die konkreten Folgen des Spiels im Idealfall gleich Null sind: Nichts wird faktisch verändert jenseits des Rahmens, innerhalb dessen die Spielhandlung sich auf ihre spezifische Weise vollzieht. Wir haben, im Fall des Gewinnspiels, am Schluss lediglich – Verlierer und Sieger.

Nicht so allerdings, wenn wir das kapitalistische Spiel in Augenschein nehmen: Sein konkretes Ergebnis ist nämlich nur für die Spieler irrelevant, denn was für sie zählt, ist allein Gewinn und Verlust, nicht aber für die Gesellschaft. Denn ganz abgesehen davon, dass auch andere an diesem Bereicherungsspiel unfreiwillig, als Komparsen, partizipieren, nämlich als Lohnarbeitskräfte, und dass von all dem, was sich von selber versteht, die Reproduktion der Gesellschaft auf Gebrauchswertebene abhängt, zeitigt es darüber hinaus auch noch „weitere Folgen“, die zwar nicht beabsichtigt sind, indes sich nichtsdestotrotz in der „Spielhandlung“ finden: die Vergiftung der Umwelt, der Erde, der Luft und des Wassers durch Abgase, Abwässer, Schadstoffe jeglicher Art, die Rodung der Regenwaldzonen, die Bodenerosion, die Zubetonierung, der Müll, die Klimaverwerfung und was es dergleichen an Kalamitäten noch mehr gibt, nicht zuletzt aber auch der Ressourcenverschleiß, der den world overshoot day jedes Mal früher im Jahr eintreten lässt.

 

8.

Das Fatale dabei ist: Man hat es hier mit Spielsucht zu tun. Oder anders gesagt: Das capital ludens ist dem Spiel genauso verfallen wie der Dostojewskische Spieler. Denn da das, was nach Abschluss des Spiels in die Hand des Spielers zurückfließt, das G‘ (Kapital plus Profit), dem Ausgangspunkt G in qualitativem Betracht wie ein Ei dem anderen gleicht, konkret mithin gar nichts gewonnen wurde, ist man danach gleichsam wieder beim Nullpunkt. Nur der quantitative Aspekt, der Gewinn, die Vermehrung von G – und zwar die maximale Vermehrung –, kann hier Befriedigung bieten; da indessen das Inkrement ΔG sich sofort, wie wir sahen, verliert, d.h. in qualitativem Einerlei aufgeht, sobald die Partie aus und vorbei, sobald sie gespielt ist, stürzt man sich immer wieder von neuem ins Spiel. „Akkumuliert! Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!“

 

9.

Die Welt hat oftmals gesehen, dass die, die sich der Spielsucht ergeben, keinerlei Hemmungen zeigen, am Ende auch „Haus und Hof“ zu verspielen, der Ruin schreckt sie nicht. Genauso wenig schreckt daher auch das capital ludens die Aussicht, die Lebensgrundlagen der Nachwelt, wie in fiebrigem Wahn, zu „verspielen“, ja dieser Ruin schreckt es weniger noch, insofern als er es, das capital ludens, gar nicht betrifft – vorerst zumindest, denn am Schluss, wenn nichts mehr da ist, das verspielt werden kann, ist auch dieses Spiel aus.