Alltägliche Befangenheit
von Petra Ziegler
Veränderungen machen Angst. Allein der Gedanke daran stresst, versetzt uns in Abwehrhaltung. Haben wir uns einmal an etwas gewöhnt, bleiben wir gerne dabei – kein pausenloses Abwägen, kein ständiges Für und Wider, wir laufen bei alltäglichen Verrichtungen in einer Art Energiesparmodus. Routinen geben Sicherheit, sie entlasten uns, regeln unseren Umgang untereinander, bestimmen Abläufe, lassen die Dinge an „ihrem Platz“.
Alltag ist das, was wir kennen, so wie wir es kennen. „‚Alltag‘, das sind ‚Wir‘, d.h. die, die man ‚kennt‘, die eigentlich immer ‚da‘ sind und ‚dazugehören‘; und es sind erst einmal nicht die ‚Anderen‘, die ‚Fremden‘ und erst recht nicht die ‚Auffälligen‘, ‚Absonderlichen‘ und ‚Gefährlichen‘.“ (G. Günter Voß: „Alltag. Annäherungen an eine diffuse Kategorie“, www.arbeitenundleben.de/downloads/alltag-kurz.doc)
„Alles, was ich kenne, gibt mir ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit“, so formuliert es die Psychotherapeutin Sara Malik, „selbst dann, wenn es mich unzufrieden oder gar unglücklich macht. Weil ich weiß, wie ich handeln muss. Und niemand kann mir garantieren, dass es anschließend besser wird. Es könnte ja noch schlechter werden.“ Der Wunsch nach Stabilität scheint das Bedürfnis nach Neuem bei weitem zu überwiegen. Dabei werden selbst offensichtlich negative Auswirkungen des Gegebenen individualisiert oder auf andere Weise relativiert. Weniger um die Ursachen von Belastungen kreisen die Gedanken, um das „Warum“, sondern darum, wie wir uns der „Realität“ stellen, wie wir ihren Anforderungen gerecht werden, uns ins „Notwendige“ fügen und dabei möglichst viel für uns herausholen. „In der subjektivierenden Herangehensweise stehen nicht die gesellschaftlich abschaffbaren oder minimierbaren Zumutungen kapitalistischer Erwerbsarbeit im Vordergrund der Aufmerksamkeit, sondern die quasi sportliche Herausforderung, die eigene Tüchtigkeit, Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.“ (Meinhard Creydt: „Stufen der Subjektivierung“ in Streifzüge 60)
Der Psychologe Rainer Mausfeld (Universität Kiel) charakterisiert den status quo bias als „unsere natürliche Neigung, den jeweiligen Zustand der Gesellschaft, in der wir leben, als gut, gerecht, moralisch erstrebenswert usw. anzusehen“. Diese Voreingenommenheit geht parallel mit einer Tendenz, den Benachteiligten die Verantwortung für ihr Scheitern und ihre missliche Lage selbst zuzuschreiben, ebenso wie mit einer Abneigung gegenüber allem und allen, die offensiv Veränderungen anstreben. In ökonomisch krisenhaften Zeiten verstärkt sich das. Wer Sorge hat, „in jedem Moment mit seinem ganzen Leben zur Disposition zu stehen“ (Heinz Bude: „Gesellschaft der Angst“), fühlt sich ohnmächtig und wenig Herr seiner selbst. Im Zweifel wählen wir das bekannte Leiden.
Änderungsresistent
Zwar passen wir uns ständig an, aber eher notgedrungen, der Umstände halber. Im Rhythmus des Geldes laufen wir, so gut es eben geht. Wir laufen mit, ein wenig schneller eben, wenn die Vorgaben erhöht, irgendwelche Sollzahlen neu bestimmt werden, oder wir tun uns ein wenig hervor, gelegentlich. Die Konkurrenz schläft nicht. Wir sind MitläuferInnen, mindestens, sonst machen es andere.
Gewohnheiten abzustreifen verlangt einiges an Ausdauer und Willenskraft. Das weiß nicht nur, wer sich von irgendwelchen kleineren oder größeren Lastern verabschieden oder irgendwas Anerzogenes, nunmehr die Persönlichkeit Belastendes loswerden möchte. Dabei sind das noch leichte Übungen, verglichen mit unseren vom marktwirtschaftlichen Getriebe geprägten Handlungen, Herangehensweisen und Wertungen. Wir sind geeicht als Kauf- und Verkaufssubjekte, konkurrierend, nutzenmaximierend, kalkulierend. Selbst „Alternativen“ lassen sich scheinbar nur nach monetären Maßgaben denken. Das hört sich dann zum Beispiel so an: „Wenn Menschen keine Arbeit mehr haben, brauchen sie ja dennoch ein Einkommen – erstens, damit sie überleben können, und zweitens, damit sie die Wirtschaft am Leben halten.“ (Martin Ford, Autor des von Forbes 2015 zum Wirtschaftsbuch des Jahres gekürten „Rise of the Robots“, der sich im Interview mit derstandard.at für ein Grundeinkommen einsetzt)
Um loszuwerden, was uns längst in Fleisch und Blut übergegangen ist, müsste zuerst der Wunsch nach etwas anderem wach werden, und darüber hinaus müsste, was ist, als überhaupt veränderbar erkannt werden. Allzu selbstverständlich, „normal“ eben, ganz „natürlich“ erscheint uns unser Verhalten, es gehört eben dazu. Es gehört dazu, wenn eins Erfolg haben will im Beruf, im Freundeskreis mithalten will, ein bisschen was haben möchte vom Leben, Kinder hat …
Verlustängstlich
Bevor wir uns auf fremdes Gebiet wagen, brauchen die meisten von uns erst einmal ziemlich festen Boden unter den Füßen. Davon findet sich immer weniger. Auf rutschigem Gelände, in unruhigen Zeiten, klammern wir uns eher fest. Sobald uns Erreichtes verloren gehen könnte, bleiben die Verlockungen des Neuen recht widerstehlich. Oder wir zögern aus purer Bequemlichkeit.
Wir neigen zur Vorsicht, wittern Bedrohung und sehen, was wir haben, in Gefahr, allem Gelaber von Chancen und unendlichen Möglichkeiten zum Trotz. Risikogeilheit ist was für adrenalinsüchtige Halbstarke und fürs bonifixierte Management. Beide zweifellos verzichtbare Erscheinungen der jüngeren Geschichte.
Kleine Fluchten aus dem Alltag sind freilich willkommen: Zerstreuungen, Ablenkung, Luftschlösserbauen. Vom Fliegen träumen mögen viele, vor dem wirklichen Abheben leuchtet ihnen grellrot: Absturzgefahr! Vielleicht kommen wir auch einfach nicht weg vom Sofa. Am Boden geblieben, beklagen wir dann, was uns an täglichen Verpflichtungen niederdrückt. Vom ersehnten Höhenrausch bleibt nur ein grauer Kater. Und damit der wenigstens dekorative Streifen bekommt, wenden wir uns irgendeinem normkompatibleren Zeitvertreib zu. Die einen gestalten das Wohnzimmer um und malen aus, die anderen malen nach vorgegebenen Linien (vgl. etwa „Adult Coloring: Das bunte Leben im falschen“, www.zeit.de/kultur/2016-04/adult-coloring-malbuecher-trend-buntstifte), die Dritten stylen ihr Äußeres immer wieder neu oder perfektionieren das eigene „Selbst“. Die „Ausarbeitung des eigenen Lebens als eines persönlichen Kunstwerks“ (Michel Foucault) absorbiert Aufmerksamkeit wie Geschicklichkeit umfassend. Eine Diät vielleicht, den Lebensstil umkrempeln, damit „haben auf einmal vorher routinisierte Einkaufs-, Haushalts- und Küchentätigkeiten wieder einen tieferen Sinn, über den man sich stundenlang unterhalten kann“ (Klaus Ottomeyer). Ein paar wenige betreiben auch die Kritik der Verhältnisse, so denn die Zeit dafür bleibt.
Das nagende Gefühl, (schon wieder) zu kurz zu kommen, zu verlieren oder umsonst so viel investiert zu haben – Gefühle, Geld, Geduld –, regiert auch und gerade im Zwischenmenschlichen. Selbst wo Größeres in der Luft liegt, kriegen wir es klein. Da bringen wir es in der Liebe zu wenig mehr als einem „Egoismus zu zweit“ (Erich Fromm), beherrschen uns Eifersucht und Besitzdenken. Mein Heim, meine Frau, mein Kind, mein Auto, mein Gartenzwerg. Mein. Mein. Mein! Der exklusive Anspruch will verteidigt werden, machen die anderen ja auch so. Nur niemanden zu nahe rankommen lassen an den Gespons, es könnte eine Diebin sein.
Everyday Life
In kleinkrämerischen Endlosschleifen, in latent stressiger Atmosphäre ziehen die Tage dahin. Wir funktionieren so recht und schlecht, zumeist aber doch ziemlich gut – wir haben ja gute Gründe dafür. Fast wie in Trance spulen wir unsere tägliche Routine ab, manche sind buchstäblich vom frühmorgendlichen Weckerläuten bis zum Einnicken vor dem Fernseher dicht verplant. Bis über den Hals zugeschüttet könnte man es auch nennen. Ohne Bewegungsfreiheit. Da regt sich wenig Leben mitten im Leben, stattdessen herrscht Betriebsamkeit. Und Letztere darf nicht zum Stillstand kommen. Die kapitalistische Selbstzweckbewegung kennt allenfalls Leerlauf, aber kein Halten. Vor allem vor den Köpfen nicht.
Arbeit – Familie – Freizeit, die Sphären des Alltags bedingen einander maßgeblich. Gemeinsam sind sie wesentlich für den Selbsterhaltungsprozess der kapitalistischen Ökonomie. Produktion. Konsumtion. Reproduktion. „Die Lebenstätigkeit in der Konsumtionssphäre trägt zur Erhaltung und fortschreitenden Aufhäufung des Kapitals doppelt bei: einmal, indem sie die Arbeitskraft für den Fortgang der Mehrwertproduktion wiederherstellt, pflegt und repariert; zum anderen indem sie beständig die Gebrauchswerte der kapitalistisch produzierten Waren aufzehrt und somit – gesamtgesellschaftlich gesehen – die notwendigen Absatzmärkte für das Kapital sichert.“ (Klaus Ottomeyer: „Ökonomische Zwänge und menschliche Beziehungen. Soziales Verhalten im Kapitalismus“, S. 115)
Das Dasein im Takt der Verwertung verlangt nach einem Ausgleich, die dafür nötigen Aufwendungen ketten uns alsdann erst recht an dessen Zwänge. Auf der steten Suche nach einem „gemeinsamen gegenständlichen Sinn des privaten Alltagshandelns“ (ebd.) umgeben wir uns mit unzähligen „Ersatzgegenständen“. Ein gemeinsames Projekt – der Traum vom Eigenheim (da kommt die Hypothek zu beider Lasten gleich noch obendrauf), die Brasilienreise will geplant werden oder auch nur das wiederkehrende Bemühen, die vorhandenen finanziellen Mittel und den verbleibenden Monatsrest einigermaßen in Übereinstimmung zu halten, ein neuer Kühlschrank steht an, der Kostenbeitrag für die Schulsportwoche – all das verbindet und lässt den Gesprächsstoff nicht ausgehen. Und erst recht die Kinder, wer braucht da noch nach dem Sinn des Lebens zu fragen.
Die eigene kleine Welt, sie hält ihre Demiurgen fortwährend beschäftigt und frisst einen Großteil der nach dem (nach Fortpflanzung zusätzlich) erforderlichen Broterwerb noch vorhandenen Energie. Was dann als Überschuss bleibt, ist verschwindend. Es kann kaum verwundern, dass der Drang, an den Zuständen zu rütteln, sich einerseits auf junge Menschen, vor dem Eintritt ins Berufsleben und Familiengründung, und auf der anderen Seite auf solche, die sich ein Quantum utopischer Hoffnung in ihre späteren Jahre gerettet haben, beschränkt. Die anderen haben schlicht „andere Sorgen“.
My Little World
Familie ist so ziemlich sakrosankt. Es geht ja schließlich nicht nur ums Geld oder die Karriere im Leben. Familie haben, mindestens haben wollen, gilt geradezu als der Nachweis, dass eins nicht ausschließlich egoistische und materialistische Interessen verfolgt. Erscheint sie doch gleichsam als „ein Universum, in dem die normalen Gesetze der ökonomischen Welt aufgehoben sind“ (Pierre Bourdieu: „Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns“, S. 132). Und wer darauf verweisen kann, braucht auch weiter nichts zu erklären. Wer Familie hat, hat „das Privileg, zu sein, wie es sich gehört, der Norm zu entsprechen, also den symbolischen Profit aus der Normalität zu ziehen“ (ebd.). Selbst in ihren heutigen Schrumpfformen ist sie ein wahres Konservierungsmittel und „eine der Hauptvoraussetzungen für die Akkumulation und Weitergabe von – ökonomischen, kulturellen, symbolischen – Privilegien. Die Familie spielt nämlich für den Erhalt der sozialen Ordnung, für die nicht nur biologische, sondern auch soziale Reproduktion, das heißt für die Reproduktion der Struktur des sozialen Raums und der gesellschaftlichen Verhältnisse, eine entscheidende Rolle. (…) Sie ist das wichtigste ‚Subjekt‘ der Reproduktionsstrategien.“ (Ebd.) Mit dem Kollektiv-Subjekt Familie verfestigt sich gleichzeitig die soziale Schichtung („die Großen haben große Familien“, ebd. S. 133).
Mehrheitlich bilden sie heute geschlossene Gesellschaften im Klein(st)format, versuchen sich irgendwie durchzuwurschteln und bleiben dabei isolierter denn je. Kaum mehr als eine Art erweitertes Selbst. Dritte können bereits als Störung der privaten Sphäre wahrgenommen werden, sogar Freundschaften bleiben oft erstaunlich oberflächlich. Gelegentliche Grillabende, ein gemeinsamer Urlaub ist schon viel, echte Teilhabe selten, so sie nicht als Einmischung überhaupt zurückgewiesen wird. Eins – und seien das zwei oder drei oder fünf – bestellt den je eigenen Schrebergarten und hat damit mehr als genug zu tun. Probleme bleiben individualisiert und werden im Gespräch mit der besten Freundin psychologisch schlüssig erklärt. (Aus der Beziehung zur Mutter, vermutlich.)
Das Bedürfnis nach emotionaler Geborgenheit, Vertrautheit, Füreinanderdasein, der liebevolle Blick auf den Mitmenschen, sie sind nur innerhalb der privateigentümlich ausschließenden Beziehungen gerne gesehen. Andernfalls treffen sie auf Argwohn.
Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung ist daraus nicht zu schöpfen. Umso mehr bleiben allesamt an den systemischen Irrsinn gefesselt. Den Kindern und den Enkelkindern wird es nicht besser gehen. Vielleicht fragen sie einmal, warum wir uns nicht irgendwann zusammengetan und uns gewehrt haben? Vielleicht fragen sie nicht einmal.