Windmühlengefechte
1.
Man wird sich vermutlich erinnern (und wenn man es nicht tut, dann hat man zumindest ein literarisches Vergnügen versäumt), dass Miguel Cervantes seinen Quijote gegen Windmühlen antreten lässt, nicht etwa, weil sich jene dem „Ritter von der traurigen Gestalt“ gegenüber feindlich verhielten – als Windmühlen fiele ihnen dies eher schwer –, sondern weil dieser der Einbildung ist, es wären bizarr-befremdliche Riesen, welche es gilt, von der Erdoberfläche mit Stumpf und Stiel zu vertilgen. Und er bildet sich eben dies ein, weil ein Held, welcher als Ritter handelt und lebt – als ein fahrender Ritter, bien entendu, wie all die Amadís aus den Ritterromanen –, offenbar in einer Welt leben muss, welche nun einmal von Ungeheuern bewohnt und bedroht ist. Das „Bild von der Welt“, das Don Quijote so vorschwebt, ist, wie überhaupt sonst, ein Resultat seines Tuns.
2.
Betrachtet man heute das globale Geschehen, so hat es den Anschein, als ob die „Wertegemeinschaft“, als die sich der Klüngel der Staaten des Weltsystemzentrums geriert, als post-moderner Quijote agierte: Auch sie, welche sich als Apostel der droits de l’homme geben, fechten furchtlos gegen „Giganten“, also das, was an der Peripherie des Systems als „Machthaber“, „Diktatoren“, „Despoten“ firmiert, die, wenngleich keine „Lamperl“, was ihr Gebaren bei sich zuhause betrifft, eine Bedrohung der „Guten“ allerdings nur – in deren Einbildung sind. Sie fechten mithin gegen phantasmagorische, imaginierte Gestalten – deren reales Substrat freilich bisweilen von der „Tauschwertgemeinschaft“ höchstselbst hofiert und finanziert worden ist –, kurz: gegen Trugbilder, gegen Chimären ihrer überbordenden Einbildungskraft.
3.
Im Rahmen des Globalsystems kapitalistischer Provenienz wird Kapital exportiert auf zweierlei Weise:
1. aus den Metropolen in die Peripherien des globalen Systems, wo dieser Kapitalexport über die massive Durchdringung der lokalen Produktionsapparate die Dependenz der peripheren Zonen begründet (sobald direkte koloniale Gewalt nicht mehr im Spiel ist);
2. aus einem Zentrum in andere Zentren und dann vice versa, wodurch mit der Zeit die zentralen Bourgeoisien zu einer transnationalen Klasse verschmelzen, zu einer Weltbourgeoisie, die sich darüber hinaus, in der Epoche des Krieges, der nicht heiß, sondern kalt, trotzdem aber ein Krieg war, durch einen gemeinsamen Feind, den Sowjetblock, geeint sah – einen Feind, der die Frechheit besaß, sich vom kapitalistischen Weltsystem abzukoppeln, d.h. den Status als Peripherie (oder angehende Peripherie) abzustreifen, ein Sakrileg, das man nicht so ohne weiteres hinnehmen konnte. Daraus ergab sich unmittelbar, dass die Weltmetropolen seither gegeneinander keine Kriege mehr führen, obgleich sie dem Krieg gegen die Peripherien (sei es ein heißer oder kalter Krieg) durchaus nicht abgeneigt waren und sind.
4.
Schon vor einiger Zeit hat Eric J. Hobsbawm einen wichtigen Satz formuliert: „Die angenehmste Welt für multinationale Giganten ist eine Welt von Zwergstaaten oder eine, in der es keine Staaten mehr gibt.“ (E. J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, Hanser (1995), S. 355)
Aus diesem Grund eben haben die Systemmetropolen sich nicht nur befleißigt, die Regime sowjetischen Typs zu zerstören – weil sich diese, lange Zeit wenigstens, gegen den Einfluss des Metropolkapitals abgeschirmt hatten –, sondern darüber hinaus auch diese Gebilde in ihre membra disiecta auseinanderzulegen, sie zu zerstückeln, wobei sie sich lokaler Kollaborateure bedienten, die nur darauf sannen, zu einer Elite zu werden, die frei von „Einmischung“ anderer ist. Frei von „Bevormundung“ freilich, die sich als nicht lukrativ für diese Elite erwies, während, wenn die Aussicht besteht, als „Lumpenbourgeoisie“, wie sie von A. Gunder Frank treffend genannt worden ist, am Profit des Weltkapitals (wie bescheiden auch immer) zu partizipieren, man sogleich sich beeilt, Juniorpartner des „Westblocks“ zu werden: Tudjman im Schachbrett-Kroatien, Izetbegovic in Bosnien-Herzegowina, Taçi und die Uçk im Kosovo-Protektorat und, last but not least, Jelzin in Russland.
Dabei spielte es gar keine Rolle, welche ehrenwehrten Gestalten dies waren: Ustascha-Sympathisanten, Ex-Mitglieder der „Jungen Muslime“, die sich nicht entblödet hatten, mit den von der SS aufgestellten Handschar-Divisionen gemeinsame Sache zu machen, Mafia-Bosse (in Drogen-, Organ- und Mädchenhandel verstrickt) oder schlicht solche, die dem Suff sich ergaben. – Das sind nun einmal die „Helden“ der Bourgeoisie.
5.
Nun, mit der Implosion der Sowjetunion und des „Ostblocks“ sowie der „Bekehrung von China“ (und Vietnam) gibt es auf globalem Niveau keinen Widerstand mehr, kein Gebiet, das durch „Unbotmäßigkeit“ glänzt. Die „letzten Mohikaner“, Nordkorea und Kuba, sind, alles in allem, eine quantité négligeable. (Und auch hier ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis auch diese „gallischen Dörfer“ sich schließlich „ergeben“.)
Die Peripherien liegen demnach der Bourgeoisie der Weltmetropolen zu Füßen. Ja noch mehr: Sie tun es von sich aus, ganz ohne Zwang. Oder sie würden es tun, wenn man sie ließe.
Dennoch: Überall auf der Welt stürzt die „Wertegemeinschaft“ (wenigstens halbwegs) stabile Staaten ins Chaos, indem sie „Non-Government-Organizations“ mit ihren „bunten Revolutionen“ finanziert und trainiert (sei es direkt, sei es indirekt über „Stiftungen“ wie die von George Soros), „Rebellen“ ausbilden lässt und mit Waffen versorgt oder schlicht wochenlang flächendeckend das betreffende Land bombardiert, wenn sie am Ende nicht überhaupt gleich mit eigenen Truppen interveniert: Afghanistan, Serbien, Georgien, Irak, Syrien, Libyen, die Ukraine (und diese ein ums andere Mal) – und das Ende der Liste dürfte noch lang nicht erreicht sein.
Aber warum? Nun, eine Notwendigkeit, diese „Regime“ zu stürzen, besteht, wie wir sahen, vom Standpunkt der Kapitalverwertung aus nicht. Denn selbst wenn Gaddafi und Saddam (wie man behauptet) mit dem Gedanken gespielt haben sollten, sich ihr Öl nicht mehr in Dollar bezahlen zu lassen, so lag es ihnen vollkommen fern, das Öl am Ende nicht zu verkaufen. Im Gegenteil, all diese „Regime“ waren bereit, weitestgehend zu kollaborieren. Gaddafi hatte sogar kurz vor Sturz und Ermordung den Wahlkampf von Sarkozy (mit-)finanziert; Assad seinerseits war gerade dabei, sich vom Baath-Programm loszusagen, während Saddam über Jahre hinweg sich als treuer Vasall der Vereinigten Staaten gegen die iranischen Mullahs erwies. – Und alle drei sind sie schon vor ihrem „Fall“ geschworene Feinde der islamistisch-dschihadistischen Rowdys gewesen, deren Präsenz und Agieren vor Ort, nebenbei sei’s gesagt, die Brutalität dieser „Despoten“ sich zu einem Gutteil verdankt. – Und was Putin betrifft, der neulich zum Hitler des Tages ernannt worden ist, so würde er liebend gerne kooperieren (nur nicht als Schoßhund), wenn man ihn ließe. Ist er doch aus keinem anderen Holz als das seiner „Feinde“ geschnitzt.
6.
Warum also dann? Aus ideologischen Gründen. „Ideologie“ hier freilich verstanden als ideologische Praxis, die stets danach strebt, die Oberfläche der Realität dem „Bild von der Welt“ anzugleichen, also dem „Bild“, das man sich von der Welt machen muss, wenn man so und nicht anders agiert. Dieses „Bild von der Welt“ ist also seinerseits nichts als der (negative) Reflex der Praxis des Alltags, dergestalt, dass alles aus dem Bewusstsein eliminiert werden muss, was diese Praxis anfechten könnte. Oder mit anderen Worten: Das „Bild von der Welt“, das Bewusstsein, muss dem Handeln angepasst sein, denn wenn nicht, wenn Bewusstsein und Handeln auf Dauer auseinanderklaffen, dann ist es kaum zu vermeiden, dass der moralische Haushalt durcheinandergerät – mit fatalen Folgen für das Subjekt, wie man sich unschwer ausmalen kann. Kommt es zu einem „Konflikt“ zwischen Praxis und Denken, dann ist aber auch klar, dass es das Denken ist, das schlussendlich nachgibt; denn im Gegensatz zum Alltagsverhalten, das durch die Umstände weitgehend in vorgegebene Bahnen gelenkt wird, besitzt das Bewusstsein ein Merkmal, das manchen sogar als göttlich erschien: Es ist, kurz gesagt, der Einbildung fähig, also weitaus flexibler als jegliches Handeln.
7.
Warum also führt man das Chaos herbei? Weil man offenbar dahin tendiert, stabile (weil „starke“) Regime, „die anders als wir sind“ (da sie freedom and democracy eben nicht comme il faut praktizieren), als Bedrohung, als Affront wahrzunehmen – eben als „Monster“, als Feinde der „Guten“, wenn nicht überhaupt der Menschheit an sich. Oder genauer: als Beleidigung der hehren Idee, des Inbegriffs dessen, was man selber zu sein glaubt. Und sie werden auf diese Weise wahrgenommen, weil die Alltagspraxis der „Humanitären“, die profan nur die Verwertung im Sinn hat, die Profitmaximierung, und die deswegen auch einer Legitimierung entbehrt, da sie auf allen Niveaus zerstörerisch wirkt – weil das Alltagshandeln mithin eines „Bildes“ bedarf, das diesen Umstand konterkariert, das also, mit anderen Worten, dem Alltagstun angepasst ist: Gibt es „Schurken“, welche die anderen sind, dann muss es die „Guten“ ebenso geben, die dann aber „wir“ sind, weil wir offenbar nicht die anderen sind. Kurz: Wo ein Schatten, da ist auch das Licht.
Und man zerstört diese „Regime“ schließlich auf praktischem Wege – man boykottiert, sanktioniert und bombardiert sie –, weil das profane Handeln im Alltag (die Profitmaximierung) sich letztlich moralisch nur dann „retten“ kann, wenn das „Bild von der Welt“ praktisch verankert, „sichtbar“ gemacht, im Weichbild der Realität ausgeführt wird – oder genauer: in ihrer Oberflächendimension, in der Welt der Erscheinung –, und das heißt: wenn es durch den „humanitären“ Krieg gegen „Monster“, gegen die „Schurkenstaaten“ überall auf der Welt, die (in der Scheinwelt) als neue Hitler die „Guten“ bedrohen (und mit ihnen alle hehren Ideen, die da sind: Human Rights und freedom and democracy), faktisch realisiert, wenn es bestätigt und in seinen Konturen bestärkt wird.
Und noch mehr: Freedom and democracy, die erhabensten Ideale, das „Idealische“ katexochen der Bourgeoisie, sind nichts als Illusionen, weil die Menschheit, das bürgerliche Subjekt, überall auf der Welt in Wirklichkeit den sachlichen Mächten, die den Personen gegenüber (isoliert und fragmentiert, wie sie sind) als übermächtige Sachen erscheinen, die das Leben aller unter der Hand anonym kontrollieren, unterworfen, ihr unbewusster Untertan ist. Das Nicht-Existente (von dem man ahnt, dass es nicht existent ist, weil es als sinn-lose Form, nur als Ritual existiert) gewinnt aber stets einen Anschein von Sein, wenn es bedroht ist, und noch mehr schließlich dadurch, dass man es mit Zähnen und Klauen „verteidigt“, ja es als „Exportgut“ anderen, wie weiland das Evangelium, „bringt“.
Da spielt es dann überhaupt keine Rolle, wenn dieser „Export“ mit Feuer und Schwert das Land der „Beglückten“ in Schutt und Asche verwandelt. Denn was im Grunde nur zählt, das ist, die Oberfläche der Realität ideologisch dem „Bild von der Welt“ anzugleichen. – Als „Kollateralfrucht“ hat man dann allerdings auch Miniatur- oder überhaupt keine Staaten.
8.
Das also ist der tiefere Sinn des humanitären Getues post-moderner Provenienz, dessen „Humanität“, wie es scheint, im Maß der Zerstörung seinen Gradmesser findet. Denn auch hier gilt offenbar das Verwertungsprinzip: je mehr, desto besser.