Udo ’80
Hamburg – das ist die neben London wichtigste europäische Musikmetropole, jedenfalls sagte man das so, etwa 1978, als hier zum ersten Mal Liza Minelli und Sammy Davis jr. gemeinsam auf der Bühne standen, am 20. November des Jahres im Hamburger Congress Centrum. Und das Hamburger Abendblatt schreibt in sein Stadtjahrbuch 1979: „Fast alle Schallplattengesellschaften sind hier vertreten, große Musikverlage residieren an der Alster, und auf den Konzertpodien geben sich internationale und nationale Stars die Klinke in die Hand.“ Dazu ein Foto von Udo Jürgens – als nationaler Star gerühmt, obwohl er ja Österreicher ist, geboren in Klagenfurt 1934 als Udo Jürgen Bockelmann. Er steht auf der Bühne, verschwitzt, aber mit ordentlicher Hose und Hemd; der Kragen ist gelockert, das Jackett hat er wohl ausgezogen. In der einen Hand hält er das Mikrofon, mit der anderen scheint er das Publikum zu dirigieren. Einige Fans stehen direkt vor der Bühne, klatschen oder heben die Arme in die Luft. Ein junges Mädchen hat sich durchgedrängt, sitzt keinen halben Meter entfernt vor Udo Jürgens und reicht ihm eine einzelne Rose. Er sieht sie aber nicht.
Schon damals ist Udo Jürgens weltberühmt, einer der erfolgreichsten Unterhaltungskünstler im deutschsprachigen Raum. 1979 setzt er sich – gleichsam am Ende des Goldenen Zeitalters der Überflussgesellschaft – mit „Udo ’80“ einen Höhepunkt seiner Karriere.
„Ich weiß, was ich will“, ein Liebeslied mit Text von Fred Jay, das sich zum Tanzrhythmus lustvoll-körperbetont zur leidenschaftlichen Zweisamkeit bekennt, i. e. zur erotischen Beziehung, ein Lebensentwurf, der nichts mit Ehebund und Alltagstrott zu tun haben will. Geschmeidige Streicher und treibende Bläsersätze verzieren diese Euphorie musikalisch. Der zweite Song; „Auch heute noch“, handelt von der Sehnsucht einer verlorenen Liebe; um Liebe geht es auch bei „Sie ist nicht so wie du“. Tatsächlich dienen die Liebesmotive der Illusion von emotional gesicherter Ich-Stärke, dem postmodernen Individualismus: „Alles, was ich bin“ ist dazu die Hymne.
„Disco-Stress“ probiert einige elektronische Gimmicks und ist Klamauk, wenngleich auch der erste politische Song auf dem Album: „Was auch passiert in unserer Epoche, / mir egal – bin im Disco-Stress!“
Die Position des Schlagers ist, bei aller Massentauglichkeit und kollektivistischer Ideologie, die ihn bestimmt, die Position des Individuums; seine Hochzeit hat er allein deshalb auch in den siebziger und achtziger Jahren, weil hier erstmals Individualismus in Lebensweisen realisierbar war. Der Schlager ist dazu der Soundtrack und eröffnet eine Welt jenseits der Klassengesellschaft. Das Versprechen einer Scheinwelt wird hier ganz offen gegeben: Leidenschaft, Sehnsucht, Zweisamkeit sind Illusionen, die als Tagträume zumal für die weiblichen Fans den gewöhnlichen Alltag, den Terrorzusammenhang Familie, erträglicher gemacht haben; auch die Hausfrau darf sich nun sozialen Aufstiegsphantasien hingeben. Unterstützt durch die markante, fast skandierende Stimme Udo Jürgens’ werden solche Illusionen dann auch immer wieder sachlich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: das schwärmende Individuum legitimiert sich durch den sozialen Realismus, und das sind um 1980 Umweltprobleme, steigende Lebenshaltungskosten, Krieg und Wettrüsten, die atomare Drohung und der Hunger in der so genannten Dritten Welt. Diesem Themenfeld gehört zunächst die zweite Seite des Albums „Udo ’80“: „Ist das nichts, dass du sagen kannst: ,Ich esse mich satt‘. / Während irgendwo jemand kein Reiskorn mehr hat.“ (Text: Irma Holder)
Nach dem Fauxpas „Jamaica Mama“ (Text: Udo Jürgens) und dem erst klugen, dann aber dämlich belehrenden „Tausend Jahre sind ein Tag“ (Text: Siegfried Rabe) kommt zum Abschluss „Wort“.
Die mit den Berliner Philharmonikern aufgenommene Komposition mit einem Text von Oliver Spiecker von immerhin acht Minuten Länge bietet hübsche Melodien, die alle Klischees der Spätromantik bedienen, ohne spätromantisch oder auch nur überhaupt romantisch zu sein: Das äußerst dynamische Arrangement funktioniert wie eine Tonfassade, eine Wall of Sound, die gleichermaßen lieblich und klanggewaltig einen Raum erfüllt, in den Udo Jürgens dann mit prägnantem Ausdruck seine Stimme setzt: ganz leise wird es nach einem aufbrausenden Vorspiel, das Orchester schweigt, und Udo Jürgens singt zaghaft, aber doch kräftig: „Wort! Du bist Gedankenelement, / kannst Illusion sein, die verbrennt.“ Nun ist die Stimme wieder anrufend, fast anklagend: „Bist unbegreiflich, / wenn man dich begriffen nennt.“
Es folgt nach einigen Strophen ein Zwischenspiel, wenn man so will: der „Rockpart“, bis nach ein paar Steigerungen die Grundmelodie wieder eingefangen ist und Udo Jürgens weitersingt, noch zwei Strophen und dann die letzte: „Wort! Du wirst melodisch, wenn man singt,“ – und jetzt setzt eine mäandernde Geige ein – „bist ein Signal, das in uns dringt.“ Schließlich: „Du bist die Symphonie, die nie verklingt.“ Und dann gibt es eine Reprise, wird das Anfangsthema noch einmal aufgenommen und zum Final gesteigert – als eben Sinfonie, nämlich Zusammenklang.
„Udo ’80“ erscheint 1979 zu einer Umbruchszeit; der Kapitalismus ist global geworden, der Zusammenbruch des Realsozialismus kündigt sich an, die Moderne wird postmodern. Gerade die Trivialontologie des Schlagers bietet in dieser Epoche der sich anbahnenden neuen Unübersichtlichkeit (Jürgen Habermas 1985) zwar nicht Aufklärung und Klarheit, aber doch Sicherheit, und zwar eine, die es gestattet, sich weiterhin den Illusionen wider die Realität hinzugeben und ein wenig zu schwelgen.
Udo Jürgens komponierte mehr als 1000 Lieder, verkaufte über 105 Millionen Tonträger. „Er zählt damit zu den erfolgreichsten männlichen Solokünstlern der Welt“, weiß Wikipedia. „Mitten im Leben“ heißt das letzte (zweiundvierzigste!) zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Studioalbum, „Mitten im Leben“ hieß auch die letzte große (fünfundzwanzigste!) Konzerttournee, konzipiert als Gala zu seinem 80. Geburtstag, den Udo Jürgens Ende September 2014 feierte. Drei Monate später, am 21. Dezember 2014, stirbt Udo Jürgens an Herzversagen.