Schlacht um Wien
Bei der sonntäglichen Gemeinderatswahl droht der SPÖ der Absturz auf Platz Zwei
von Franz Schandl
Der Umbruch des österreichischen Parteiensystems hat eine Dynamik angenommen, die kaum noch zu überbieten ist. Je höher die Ebene, desto mehr tut sich. Zusehends bewegen sich Gewinne und Verluste im zweistelligen Bereich. Bei den Landtagswahlen in Oberösterreich am 27. September etwa verloren ÖVP und SPÖ miteinander 16 Prozent, während die FPÖ sich von 15 auf mehr als 30 verdoppeln konnte. Nebenher marodieren noch gelegentlich einige Sternschnuppen wie das Team Stronach, das 2013 gar Erster werden wollte, in der Zwischenzeit aber völlig abgewrackt ist und bald ganz von der Bildfläche verschwinden wird. Viel tut sich im Stillstand.
Dieses Wochenende kommt es nun zur Schlacht um Wien. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache ist angetreten, die Sozialdemokraten zu überholen. Lagen die Freiheitlichen nach diversen Eskapaden Jörg Haiders 2005 noch bei knapp 15 Prozent und die SPÖ bei 49, so prognostizieren Meinungsumfragen nun ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Strache ist Michael Häupl, dem seit 1994 amtierenden Bürgermeister dicht auf den Fersen. Ein eminenter Vorsprung hat sich innerhalb von zehn Jahren in Luft aufgelöst.
Die Zeit unumschränkter roter Vorherrschaft ist jedenfalls vorbei, und zwar endgültig. Wien hat freilich für die SPÖ einen besonderen Stellenwert. Seit 1919 regiert sie (die faschistischen Jahre von 1933-1945 ausgenommen), meist mit komfortabler absoluter Mandatsmehrheit. Gegenwärtig befindet man sich mit den Grünen in einer recht soliden Koalition, die in Sachfragen (Öffentlicher Verkehr und Wohnbau, Fußgängerzonen) einiges weiter gebracht hat und die Stadt recht ordentlich verwaltet. Wien ist attraktiv, jährlich wächst die Metropole um 25000 Einwohner.
Aber das sind gegenwärtig keine Kriterien. Aktuell überschattet die sogenannte Flüchtlingsfrage alle anderen Belange. Und das ist keine Frage der Erfahrung und der Erkenntnis, sondern eine des Vorurteils und der Missgunst. Hier regiert nicht das Argument. „SPÖ und Grüne fördern den Asylmissbrauch und die Massenzuwanderung. Grenzkontrollen werden verweigert und Abschiebungen nicht durchgezogen. Stattdessen gibt es Geld und Sozialleistungen für Wirtschaftsflüchtlinge,“ heißt es auf der Homepage der FPÖ. Es geht gegen die „Asylantenflut“.
Die Freiheitlichen sind im Siegesrausch, bei allen relevanten Wahlen gewinnen sie maßlos dazu. Schaden hingegen kann der FPÖ gar nichts, weder dass sie in Kärnten ein ganzes Bundesland abgewirtschaftet hat und nach zahlreichen Affären erst vor zwei Jahren abgewählt wurde, noch dass vor wenigen Monaten die Salzburger Landesorganisation die Partei verlassen hat. Kein Skandal scheint sie zu bremsen, im Gegenteil Skandalisierungen erweisen sich als Turbo. Man kann also nicht sagen, dass die Sozialdemokraten größere politische Fehler begangen haben, noch umgekehrt, dass die FPÖ über ein zündendes Programm und eine vife Taktik verfügt. Das greift alles zu kurz.
Der Höhenflüge der Freiheitlichen sind primär von der mentalen Zurichtung ihres Wählerpotenzials her zu analysieren. Das hat es zweifellos in sich, aber da man die Wähler nicht beleidigen darf, sind sie selten Gegenstand von Attacken. Man ist in den Betrachtungen immer ganz konzentriert auf das politische Personal, ihre Inszenierungen (Tendenz steigend) und ihre Inhalte (Tendenz fallend), aber nicht auf die seltsame Beschaffenheit von Herr und Frau Österreicher, also auf das, was man Souverän nennt. Wenn Strache „Wählt so, wie IHR denkt“ plakatieren lässt, dann trifft das den Kern. Die FPÖ erfindet diese Leute nicht, sie holt sie nur ab.
Das Ressentiment blüht in den Gemütern, und es wagt sich zusehends an die Öffentlichkeit: auf den Straßen, in den U-Bahnen, auf den Ämtern, in den Ambulanzen. Dieser gemeine Menschenverstand kommt über das Schimpfen jedoch kaum hinaus. Autoritäre Charaktere schreien nach Züchtigung und Durchgriff, Aufräumen und Abschotten. Und doch sollte man über deren Ängste reden, nicht bloß sagen, sie seien allesamt unbegründet.
Man weiß nicht: Ist die Stimmung noch im Schwanken oder ist sie schon im Kippen? Und wenn sie tatsächlich Richtung Strache kippt, was dann? Straches Wahlkampfauftakt im Arbeiterbezirk Favoriten Anfang September wirkte eher mau, die Großdemo „Flüchtlinge Willkommen“ am letzten Samstag indes war gut besucht und breit aufgestellt, inklusive eines Auftritts des Bundespräsidenten Heinz Fischer. Aber möglicherweise verschleiern solche Events Stärken und Schwächen mehr als dass sie diese zum Ausdruck bringen.
Man hat das Gefühl, dass etwas zu Ende geht, ohne zu wissen, was kommt oder besser noch überhaupt kommen kann. Straches Mannen an der Regierung wären sicher mehr Debakel als Katastrophe, denn bereits auf Verwaltungsebene würde sich deren grenzenlose Unfähigkeit zeigen. Man denke nur an Haiders Regierungsmannschaft von 2000. Puncto Impotenz und Inkompetenz, da sind sie wirkliche Hausmeister. Aber zu einer abgemilderten Orbansierung könnten sie es gemeinsam mit einer restriktiven ÖVP schon bringen. Die nachhaltige Schwindsucht der Christkonservativen wird das allerdings nicht stoppen. In Wien drohen sie dieses Wochenende erstmals unter 10 Prozent zu fallen.
Natürlich ist Michael Häupl ausgebrannt und die SPÖ abseits jeder wirklichen Perspektive. Mit ihr zog die alte Zeit. Sie hat auch keine neuen Gesichter, die das Gegenteil simulieren könnten. Taktisch hat der Bürgermeister aber in den letzten Wochen das Richtige getan, als er die Wahl zur Entscheidungsschlacht zuspitzte und sich weigerte, im ausländerfeindlichen Sektor eine Rolle zu übernehmen. Viele halten Häupl zu Gute, dass er, anders als die ÖVP und Teile seiner eigenen Partei nicht selbst mit den Freiheitlichen liebäugelt, sondern vielmehr eine joviale Menschlichkeit bewahrte und die Gemeinde Wien sich in der Flüchtlingsfrage relativ anständig verhält. Das ansprechbare Publikum dafür ist in der Hauptstadt aber auch um einiges größer als in den Bundesländern.
Das Finish wird entscheiden. Jeder dritte Wähler hat sich noch nicht festgelegt. Die Wahlbeteiligung dürfte diesmal entgegen dem allgemeinen Trend sogar steigen. Es ist also keineswegs ausgeschlossen, dass Häupl ein letztes Mal die Kurve kratzt. Die geborgten Stimmen haben freilich keinen substanziellen Charakter, sie werden nicht gewonnen, sondern lediglich geliehen. Am Montag sind sie weg. Aber sie sind die einzigen, die die SPÖ noch vor der absoluten Pleite bewahren können. Wenn Häupl nur 5 statt 10 Prozent verliert, wird er als Sieger durchs Ziel gehen.