Recht(swissenschaft) als Staatsbetriebswirtschaft

Recht ist „by construction“ ein ebenso überdeterminiertes wie eigensinniges Instrument kapitalistischer Herrschaft. Sein Gehäuse, der Rechtsstaat, verkörpert im „common sense“ eine Kathedrale der bürgerlichen Weltanschauung.

In seinem privatrechtlichen Kern sichert dieser Eigentum, Vertrag, Freiheit, Gleichheit und formalen Äquivalententausch. In der Sphäre der Zirkulation bzw. des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken der Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, herrscht das Recht. Denn Käufer und Verkäufer einer Ware wie der Arbeitskraft sind, wie Marx im Kapital ausführt, nur durch ihre Rechtspersönlichkeit, ihr Verfügungsrecht über Ware und allgemeines Äquivalent sowie ihren freien Willen bestimmt: „Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine.“ (MEW 23, 190)

Charaktermaske als Subjekt

Die Macht, welche die Menschen ins Verhältnis bringt, ist Eigennutz und privater Sondervorteil. Die Form, innerhalb derer diese Trennung und Steigerung des Eigennutzes prozessiert wird, ist das Recht. Persönliche Freiheit bedeutet insofern eine negative, als Freiheit der Verselbständigung und Abgrenzung dient, um Freiräume der Nutzung und Übertragung von Privateigentum offen zu halten. Im Recht nimmt die Charaktermaske des Trägers der Ware ihre äußere Form an. Rechtspersonen existieren füreinander nur als Eigentümer/Besitzer/Repräsentanten von Waren. Es sind dies ökonomische Charaktermasken, Personifikationen ökonomischer Tausch- und Aneignungsverhältnisse. Deren äußere Form wird über das Recht herauspräpariert.

Charaktermasken verbergen das bürgerliche Subjekt also nicht, sie konstituieren es. Der Grund liegt auf der Hand: Waren können sich nicht selbst zu Markte tragen und sich nicht selbst austauschen. Um Dinge als Waren in Form von Konsensualkontrakten aufeinander zu beziehen, müssen sich die Hüter der Waren zueinander als Rechtspersonen und Privateigentümer verhalten. Erst die wechselseitige Anerkennung des Privateigentums ermöglicht den Kontrakt, also Verpflichtungs- und Übereignungsgeschäft. Im abstrakten Rechts- und Willensverhältnis spiegelt sich das ökonomische und soziale Machtverhältnis nicht mehr, wie Burkhard Tuschling in Rechtsform und Produktionsverhältnis (1975) anmerkt. Es erscheint vielmehr als Ausdruck freien Willens.

Diese Freiheit konstituiert die Charaktermaske als isolierte Monade, die mit anderen nur durch den ökonomischen Akt interagiert: Das bürgerliche „Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen“ (MEW 1, 364). Die bürgerliche Gesellschaft, so Marx, setzt eigennützige Bedürfnisse an die Stelle dieser Gattungsbande, löst Gesellschaft in eine Welt atomisierter, sich feindlich gegenüberstehender Individuen auf. Diese Feindlichkeit als negative Freiheit nimmt den Ausdruck der freien Konkurrenz an und hebt damit auf paradoxe Weise die Freiheit auf. Markt, Konkurrenz, Wettbewerb und Lohnarbeit treten letztlich unverstellt als strukturelle Gewalt hervor. Diese Konkurrenz hebt jedes individuelle Freiheitsbestreben auf, unterwirft jede Individualität den sachlichen Zwängen der Kapitalverwertung.

Jene Idee, nämlich das Freiheitsversprechen der Ligatur aus Eigentum, Vertrag und formaler Gleichheit, blamiert(e) sich seit der ursprünglichen Akkumulation überall dort, wo strukturelle Gewalt, Expropriation und der kapitalistische Metabolismus der Natur die körperliche, ökonomische und soziale Integrität der Warenbesitzer selbst zerstört(e). Die Dialektik mündet in Anlehnung an Gramsci in einem juridischen Modell der Hegemonie, gepanzert mit Zwang. Diese Panzerung findet im historischen Prozess des sozialen Konfliktes zwischen Arbeit und Kapital aber auch innerhalb des Kapitals in Form zweier Bewegungen statt: Zum einen in der Herausbildung des Staates als eines ideellen Gesamtkapitalisten sowie in der Sphäre des öffentlichen Rechts in der Ära des organisierten Kapitalismus. Hier werden die der Akkumulation des Kapitals vorausgesetzten Basisinstitute als Grundfesten der bürgerlichen Rechtsordnung in Form einer Verfassung gleichsam „verewigt“ und der Staat zum Organisator fortwährender Marktbereinigung; zum anderen entwickelt der juristische Diskurs einen vorgesellschaftlichen Raum, mal als Kelsen’sche „Grundnorm“, mal als „Veil of Ignorance“, mal als „Gesellschaftsvertrag“ gedacht. Dieser Raum ist im Weltbild der Jurisprudenz sakrosankt. In diesem Raum ist die DNA, sind die Grundbausteine des Rechtslebens, verankert, vor allem die Idee der Rechtsperson, die von Natur aus unveräußerliche Rechte genießt, und ihr Eigentum.

Juristisches Milieu

Soziologisch gründet sich darauf das juristische Milieu, eine immunisierte juristische Denkweise und Weltanschauung (Kilian Stein 2010), welche die Sphäre des Rechts strictu sensu getrennt von der Sphäre des Gesellschaftlichen, aber auch des Ökonomischen her denken. Beide erscheinen in diesem Dispositiv als Ausdruck des „richtigen Rechts“. Das spiegelt auch die neoliberale Soziologie im Denkeinsatz der Post-Luhmann’schen Systemtheorie, die sich das Recht als operativ geschlossenes und auf selektive Weise kognitiv offenes System denkt. Auch in der Nationalökonomie des 19. Jhdts. – die BWL entsteht erst in den 1930er Jahren als Reflex auf die Krise des Taylorismus – gilt das Recht als eine nicht zu beeinflussende Externalität. Innerhalb der Jurisprudenz wird das gesellschaftliche Primat des Rechts als Identität von „Sein“ und „Sollen“ in das Gestein der Lehrbücher gemeißelt. Der sich daraus entwickelnde rechtspositivistische Zuschnitt denkt sich ein „de lege lata“ (nach geltendem Recht) und ein „de lege ferenda“ (nach erst zu setzendem Recht), niemals aber einen Widerspruch zwischen „law in the books“ (Recht als Rechtstext in den Gesetzen) und „law in action“ (Recht in seiner Anwendung durch Exekutive und Judikative).

Noch während des Übergangs vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat der konstitutionellen Monarchie zersetzt die strukturelle und aktive Gewalt der kapitalistischen Aneignungsverhältisse die Illusionen des formal-rationalen Äquivalententauschs. Das Recht hinkt auf in sich widersprüchliche Weise in einem „cultural lag“ den ökonomischen und sozialen Verhältnissen in einem Nachziehverfahren hinterher, an dessen Ende sich das Recht „materalisiert“ (Rudolf Wiethölter). Ökonomische Basis und rechtlicher Überbau positionieren sich neu. Daraus erwächst zum ersten der Modus des „piecemeal engeneering“ eines in seinen Funktionen umstrittenen (paternalistischen, sozial disziplinierenden) Sozial- und Wohlfahrtsstaates. Recht wird zu einem Instrument der Sozialtechnologie. Zum zweiten löst sich das Konzept der „Einheit der Rechtsordnung“ auf, ersichtlich an der Evolution unterschiedlicher Rechtsdogmatiken, aber auch an den Dynamiken einer autonomisierten Bürokratisierung und Justitialisierung. Die Alltagsanschauung „Vor Gericht und auf hoher See bist du in Gottes Hand“ gewinnt an Wahrheitsgehalt. Zum dritten wird das Primat des Rechts über Gesellschaft, Politik und Ökonomie erschüttert. Die Auflösung des Rechtspositivismus im faschistischen Naturrecht steht am Ende eines der Fäden dieser Entwicklung.

Gegen derlei immunisierende Selbstbeschreibung betonen kritische und marxistische Rechtstheorien ab den 1960er Jahren in antihegemonialer Stoßrichtung die Dialektik zwischen Recht, ökonomischen wie sozialen Macht- und politischen Herrschaftsbeziehungen. Recht erscheint nicht mehr nur der Theorie des Arbeitsrechts als Waffenstillstandslinie zwischen teils antagonistischen, teils agonistischen Interessen innerhalb der Immanenz kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Das Recht verwandelt sich in einen Kampfplatz, auf dem Korporationen, Lobbies, politische Parteien und soziale Bewegungen darum konkurrieren, ihre (sozialen) Interessen „ins Recht einzuschreiben“, während die drei Staatsgewalten je eigene Interessen verfolgen. Heinz Wagner (1976) versteht das Recht eben nicht nur als Widerspiegelung nackter Macht und Gewalt, sondern als dialektisch prozessierendes Handlungsinstrument aller gesellschaftlichen Klassen und Interessengruppen. Dies wird durch den Befund gestützt, dass das Recht eine relative Selbständigkeit entwickelt. Es ist folglich nicht beliebig, kurzfristig oder ad-hoc verfügbar bzw. änderbar. Einmal in Gang gebracht, lässt es sich auf zivile Weise nicht anders als über Recht ändern. Recht verhält sich, so eine wesentliche Einsicht der Rechtstheorie dieser Ära, wie ein Pfahl, der in den Boden gerammt Verhältnisse und darin Interessen definiert und festschreibt.

Die Rechtspolitologie, vor allem Axel Görlitz und Rüdiger Voigt, gibt nach 1985 zu bedenken, dass das Recht als komplexes Gefüge der gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit von gegenläufiger Verrechtlichung und Entrechtlichung je nach Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse bewegt bzw. verändert werden kann. Recht gilt nunmehr als ein intrikates Instrument der politischen Steuerung von Gesellschaft, wenn auch mit je unterschiedlicher politischer Zielsetzung und ideologischem Vorverständnis. Damit ist das Recht, sowohl in seinem formellen wie materiellen Sinne änderbar, ein Reflex auf soziale Konflikte. Rechtsgeschichte wird gemacht (auch wenn es nicht immer vorangeht).

Verrechtlichung

Eine empirische Rechtssoziologie widmet sich im Gefolge Theodor Geigers der Wechselwirkung von Recht(sordnung) und gesellschaftlichen Strukturen bzw. Machtverhältnissen. Dieser empirische Zugang entsakralisiert je nach Interessenlagen und Denkansätzen unterschiedlich den Körper des Rechts und schränkt dessen immunisierte Selbstbeschreibung durch den Rechtsstab (die Gesamtheit der Juristen in einer Bezeichnung von Max Weber) ein. Der Anspruch ist damit erhoben, Recht als gesellschaftlich fundierte Wirklichkeit, konstruiert und reproduziert durch Macht und Herrschaftsbeziehungen, zu verstehen. JuristInnen, so das Credo der Treiber dieser Entwicklung, müssen reflektieren, was sie anrichten.

In dieser Relativierung erscheint das Recht im fordistischen Weltbild als ein Ordnungsgefüge neben anderen sozialen Normen. Es wird „kontingent“, zu einem situativ verfügbaren gesellschaftlichen Instrument. Die damit einhergehende Verrechtlichung wird, vielfach als „Normenflut“ (Hans Zacher) kritisiert, auf die steigende Komplexität der ökonomischen Austauschbeziehungen und Pazifizierungen (Konfliktstilllegungen) des fordistischen Klassenkompromisses zurückgeführt.

Konsequent kommt es noch in den 1970er Jahren zum Einzug der Sozialwissenschaften als systemkritischer Steuerungswissenschaften in das rechtswissenschaftliche Studium. In Forschung, Lehre und Studium der Rechtswissenschaften werden Rechtssoziologie, Rechtspolitologie, Rechtspsychologie, Rechtsanthropologie neben Rechtsgeschichte (inklusive dem Römischen Recht) und Rechtsphilosophie betrieben. Während in der Rechtssoziologie die „soziologische Jurisprudenz“ die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen empirisch untersucht, während die „Soziologie des Rechts“ als Teil der speziellen Soziologie betrieben wird, nähern sich die „socio-legal studies“ dem Recht mit dem Erkenntnisinteresse der „cultural studies“. Im anglo-amerikanischen Rechtsdenken entsteht eine Law and Society-Bewegung, die letztlich auch die Rechtsdogmatik relativiert. Dem kann sich selbst die Rechtstheorie nicht mehr entwinden, die von einer „Drittwirkung der Rechtsphilosophie im Verfassungsrecht“ spricht. Einige Universitäten erproben gar eine sozialwissenschaftliche Juristenausbildung.

Zugleich geht die fordistische Periode mit einem verstärkten Einbau materialisierter sozialer Rechtsbestände einher: Arbeitsverfassungsrecht, materieller Arbeitsschutz, Sozialversicherungsrecht, Fürsorgerecht, Mietrecht, Konsumentenschutzrecht et al. In der JuristInnen-Ausbildung spiegelt sich dies in einer Ausdifferenzierung eben jener Fächer, welche Konflikte um die Durchsetzung sozialer Reproduktionsinteressen behandeln. Der rechtsdogmatische Geschlossenheitsanspruch der Jurisprudenz beginnt zu wanken.

Markt als Recht

Schnitt: 35 Jahre später. Die Rechtswissenschaften und ihre Fakultäten haben sich, ganz dem fundamentalistischen Furor der Vermarktlichung verschrieben, in ein eigenartiges, den gesellschaftlichen Funktionen des Rechts weithin abgewandtes Terrain verwandelt. Aus der relativen Selbständigkeit des Recht wurde die relative Selbständigkeit der Ökonomie. „There is one market under god“, und der Markt sagt nun, was Recht ist. Konsequent ist das Soziale (und das meint: Gesellschaftliche) aus dem Recht und seinem Diskurs ausgewandert. In ganz Österreich gibt es kein/en Institut/Fachbereich für Rechtssoziologie mehr. Das einzige außeruniversitäre Institut für Rechtssoziologie wurde geschlossen. Lehrveranstaltungen zur Rechtspolitologie bzw. Rechtspolitik, Rechtsanthropologie oder Rechtsethnologie finden sich in den Vorlesungsverzeichnissen der Universitäten nicht mehr, an den Fachhochschulen ohnehin nicht. Neben einem Österreichischen Institut für Europäische Rechtspolitik, der (herausragenden) Zeitschrift Juridikum und einem Journal für Rechtspolitik gibt es nicht einmal mehr eine Plattform, auf der sich Diskurse nachzeichnen lassen, welche den Faden der Dialektik von Recht und Gesellschaft weiterspinnen. Die einschlägige Publikationstätigkeit nähert sich, relativ betrachtet, dem Nullpunkt. Selbst Kriminalsoziologie wird nicht mehr betrieben. In ganz Österreich gibt es kein Institut für Mietrecht oder Konsumentenschutzrecht. Nur das Sozialrecht ist noch im Gehäuse des Arbeitsrechts vertreten. Aber auch da spielt das Recht der Fürsorge, Armut und Prekarität eine marginale Rolle. Es dominiert das Recht der Kernbelegschaften. Soziale Reproduktionsinteressen sind so im Recht weithin nicht (mehr) abgebildet.

Dies widerspiegelnd, haben sich die Aufgabenfelder der JuristInnen verschoben. Die Rechtswissenschaften produzieren heute in Österreich 2.000 AbgängerInnen pro Studienjahr. Doch nur ein Bruchteil arbeitet in genuin juristischen Arbeitsfeldern. Langjährige Austeritätspolitik hat die Zugänge zur öffentlichen Verwaltung, sogar zum Banken- und Versicherungsbereich, jedenfalls aber zu Nichtregierungsorganisationen, Non-Profit-Organisationen und Social-Profit-Organisationen schrumpfen lassen. Alles drängt in die Privatwirtschaft größerer KMUs (kleiner und mittelbetrieblicher Unternehmen mit bis zu 250 MitarbeiterInnen) und Industrieunternehmen. Dort kämpfen die AbsolventInnen der Studienrichtung „Wirtschaft und Recht“ mit BWL- und VWL-AbsolventInnen. JuristInnen drängeln sich daneben in Wirtschaftskanzleien, Unternehmensberatungen und Consulting-Unternehmen/Wirtschaftstreuhändern, also den Rechts- und Wirtschaftsdiensten sowie den Symbolagenturen der Kapitalverwertung. Das hat auch damit zu tun, dass JuristInnen heute überwiegend AbsolventInnen des Bachelorstudiums „Wirtschaft und Recht“ sind, die neben den Wirtschaftsdiensten bevorzugt in die Rechtsabteilungen großer Unternehmen, in Vorstandssekretariaten, Strategie- und Planungsabteilungen mittlerer Unternehmen sowie in Steuerberatungs- und Wirtschaftstreuhandkanzleien drängen.

Doch selbst die AbsolventInnen der ordentlichen Rechtswissenschaften zieht es bereits in die Privatwirtschaft, da Advokatur bzw. Anwaltei und Notariat ihre Sättigungsgrenze (beinahe) erreicht haben. Dort werden sie freilich nur „genommen“, wenn sie ausgewiesene wirtschaftsrechtliche (d.h. Finanz- und Bankenrecht, Steuer- und Urheberrecht), betriebswirtschaftliche und wirtschaftsnahe Zusatzqualifikationen nachweisen – geht es doch um Compliance (Konformität mit Gesetzen und Richtlinien, Strafenvermeidung, Steueroptimierung, Internationalisierung und „Regime Shopping“) in einem internationalen Zuschnitt (Europarecht, Übergangs- und Harmonisierungsbestimmungen, Rechtsbestände anderer Staaten, je nationale Gesetzgebung und Rechtsauslegung in den neuen Mitgliedsländern der Europäischen Union).

Was die Juristerei heute darstellt, hat sich im Gegenbild zu den 1980er Jahren gänzlich verschoben. Knapp 41.000 Studierende waren 2013/14 an den Rechtswissenschaftlichen Fakultäten inskribiert; mehr als die Hälfte davon im Bakkalaureatsstudium „Wirtschaft und Recht“. Derlei Wirtschaftsrechtsausbildung wird von BWL, Statistik, Mathematik, Controlling und Management dominiert. Der Großteil arbeitet nach Abschluss subaltern bei Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Nur wer Anwalt, Richter, Staatsanwalt oder Notar werden will, also einen klassisch juristischen Beruf anstrebt, muss den Master of Laws (LL.M) der Rechtswissenschaften absolviert haben. Freilich werden auch hier zwischenzeitig Steuer-, Bilanz- und Finanzrecht als Pflichtfächer geprüft.

So sehen wir eine dreifache Ökonomisierung des Rechts, seines Diskurses, seiner Ausbildung und seines gesellschaftlichen Verwendungszusammenhangs. Die Marktorthodoxie der ökonomischen Analyse des Rechts hat die Rechtstheorie erobert. Bentham kehrt zurück im Transaktionskostenansatz und den „rational-choice“-Theorien. Die „case-law“-Architektur des Europäischen Gemeinschaftsrechts und die extra-legalen Herrschaftspraktiken der politischen Ausschüsse der Plutokratie (Europäische Kommission, EZB, IMF) lösen alles Recht in der Säure einer „marktfähigen Demokratie“ (Angela Merkel) auf. Die post-fordistischen Rechtsgeltungsdiskurse halten alle wirtschaftsrechtliche Regulation kontingent: es wird eben so lange lobbyiert und/oder prozessiert, bis Gesetzgeber oder Justiz bei- und nachgeben. Das Änderungstempo des Rechts hat ein Schlagzahl-Stakkato erreicht, während die Fülle des Rechts (12.000 Seiten Bundesgesetzblatt pro Jahr) den klientelistischen Furor und die Legitimationsängste der politischen Dienstklasse unkaschiert erkennen lässt. Im Ergebnis werden gesetzwidrige Bestimmungen, allgemeine Geschäftsbedingungen oder verbotswidrige Kartellierungen unter dem Blickwinkel einer Kosten-Nutzen-Rechnung betrachtet.

Dauerreformgeplapper

Recht wird, was man sich leisten kann. Unrecht leistet man sich, wenn die Strafe niedriger als der illegale Profit ist. Die Ausbildung von JuristInnen, die eigentlich reflektieren sollten, was sie anrichten, ist auf das Niveau einer betriebswirtschaftlichen Installateur-Ausbildung heruntertransformiert worden. Auch die Entstaatlichung des tertiären Bildungssystems trägt zur Anbindung der universitären Ausbildung an die unmittelbaren Erfordernisse der Wirtschaft bei, die sich weder um Gesellschaft, Ethik oder Systematik der Macht, sondern alleine um Gewinnmaximierung kümmert. Folgerichtig lautet der Schlusseintrag auf der Tafel eines Seminars an einer Rechtswissenschaftlichen Fakultät: „Less cost, more profit.“ Das war’s.

Der Neoliberalismus hat nach 30 Jahren Dressur der Köpfe sowohl das Bewusstsein von der strukturellen Gewalt wie auch von der historischen Kontingenz des Rechts zum völligen Verschwinden gebracht. Das Recht ist Ware auf einem Markt im Standortwettbewerb, auf dem die Bestbieter der Rechtsbeugung den Zuschlag erhalten. Und Punkt. Bei so viel Profit spielt der Billigstbieter ohnehin keine Rolle. Dass Recht, wie etwa die längst vergessene „Rechtsladenbewegung“ gezeigt hat, auch zivilgesellschaftliche Einmischung ermöglicht, ist perzeptiv ein Minderheitenprogramm. Jedes Bewusstsein, dass Recht nicht bloß ein Reflex auf behauptete ökonomische Zwänge, Kapitalverwertungs- und Profitmaximierungsinteressen ist, sondern auch ein Instrument gesellschaftspolitischen sozialen Wandels sein kann, um deliberative Spielräume auszuweiten und die Repressionsniveaus sozialer Kontrolle herunterzufahren, man entsinne sich der Familienrechts-, Strafrechts-, Universitäts- oder Konsumentenschutzreform der 1970er Jahre, ist im sinnentleerten Dauerreformgeplapper sog. politischer Entscheidungsträger auf den Schirmen der medialen „Blödmaschinen“ verschwunden. Hier spiegelt sich der Primat der Ökonomie über die Politik und zugleich der (alte) Primat der Ökonomie über das Recht. Politik selbst ist nur Schmieröl.

In neuer Qualität zeigt sich: Recht ist ein Sediment ökonomischer Machtpositionen und sozialer Praktiken. Die Entthematisierung alter Rechtsinstitute, die Vernichtung von Denkweisen, die Etablierung neuer Rechtsgebiete wie des Vergaberechts gehen auf veränderte Macht- und Gewaltverhältnisse, auf Prozesse der Aneignung und Eroberung von hegemonialen Positionen zurück. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Gesellschaft und mit ihr die sozialen Reproduktionsinteressen aus dem Recht ausgewandert sind und der Ökonomie, genauer: der Betriebswirtschaftslehre das Feld überlassen haben, macht deutlich, wo die Zivilgesellschaft, zu deren Kern sich der „Rechtsstab“ zählt, nach 30 Jahren neoliberaler Umbauten im Überbau steht.

Die politische Dienstklasse hat auf paradoxe Weise im politisch als Krisenlösung inszenierten Prozess einer marktradikalen Entstaatlichung, der zu einer unüberblickbaren Ausweitung des Rechtsstoffes geführt hat, so viel staatliches Recht produziert wie noch nie, und hat dabei auch so viel normatives Krisenpotential produziert wie noch nie zuvor in der Geschichte des Rechtsstaates. Konsequent aber sind dazu alle Fundamente des Rechtsgeltungsdiskurses geschleift worden. Am Horizont dräuen die Herrschaft einer feudalen Plutokratie (2015 eignen in Österreich ein Prozent der Bevölkerung 40 Prozent des Bruttovermögens) und alternativ dazu ein rechtsstaatliches Szenario aus Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“: Die kleinen Schuldner gehen bestenfalls in die Privatinsolvenz oder lebenslang in den Repressionsschwitzkasten der bedarfsorientierten Mindestsicherung; die großen Schuldner fahren, mit öffentlichen Subventionen gerettet, nach Davos; die kleinen Gauner gehen in den „Häfen“, die großen mit Fußfessel in die Oper; die kleinen Streitteile vor Gericht setzen ihr Hab und Gut auf eine Karte, die großen sind „repeat player“ ohne Risiken; die kleinen Steuerschuldner erhängen sich im Finanzstrafverfahren auf dem Dachboden, die großen golfen mit Lobbyisten mit „Ministerdraht“ oder kaufen einen Wohnsitz in der Schweiz (wo sie dann legal als Schweizer auf ihr illegal verbrachtes Steuerfluchtgeld greifen); die kleinen EinkommensbezieherInnen werden zwangsbesteuert, die großen haben steuerlich weder Einkommen noch Ausgaben (das hat ihre Stiftung). Ab da hat das Recht erhebliche Teile seiner relativen Selbständigkeit eingebüßt, wenn nicht sogar als Institution abgedankt.

So scheint sich das Recht an der Stelle des Übergangs hin zu einer Normalität des Terrors der Ökonomie zu befinden. Der Normalitätsanspruch des Vergaberechts, welches als Brechstange zur Erschließung der öffentlichen Daseinsvorsorge für das marodierende, nach Verwertungsmöglichkeiten suchende Finanzkapital dient, nachdem man den leistenden und gestaltenden Sozial- und Wohlfahrtsstaat ausgehungert hat, steht pars pro toto. Der Unterwerfung des Rechts unter das ökonomische Kalkül korrespondiert die Beliebigkeit der Handhabung von Recht, etwa in Form des Einsatzes von Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen. Als Institution, repressiver Staatsapparat und Ensemble hegemonialer Projekte im gesellschaftlichen Überbau spiegelt das Recht Machtverhältnisse nunmehr unmittelbar und unvermittelt wider.

Man muss dem Recht als System kein ökonomisches Kalkül mehr applizieren. Es ist, etwa im „Regime Shopping“ und Standortwettbewerb um jeweils Anleger-, Investitions- und unternehmerfreundliche Rahmenbedingungen, selbst zum ökonomischen Kalkül geworden. Jüngst echauffiert sich der Der Standard (27.5.2015: „Wirtschaftsstandort Österreich rutscht weiter ab“) anhand einer Studie des Schweizer IMD (einer Kaderschmiede für nassforsche Unternehmenssanierer und strategisches Management) über den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Woran das gemessen wird ? An einem Zuviel an Regulation, Umweltauflagen, Gesetzen und Verwaltungsvorgängen. Kurz davor rügte der Wirtschaftsprüfungs-Konzern Deloitte (Die Presse vom 4.3.2015) das Vorhaben einer Reform des Steuerrechts, welches per se die „Rechtssicherheit“ der Unternehmen untergrabe. Recht ist fürderhin, was den Profit nicht gefährdet.

Literatur
Stein, K. (2010): Die juristische Weltanschauung, Hamburg.
Tuschling, B. (1975): Rechtsform und Produktionsverhältnisse, Frankfurt.
Wagner, H. (1976): Recht als Widerspiegelung und Handlungsinstrument, Köln.