Krisenimperialismus – Teil 1
von Tomasz Konicz Teil 2, Teil 3
Die theatralische Empörung des Westens über das machtpolitische Agieren Russlands zeugt von fortgeschrittener Demenz.
Die Putin-Kritik scheint sich für Kanzlerin Angela Merkel zu einem routinemäßig zu absolvierenden Ritual zu entwickeln. Gegenüber der Tageszeitung Welt am Sonntag beschuldigte die Kanzlerin Anfang Dezember den Kreml abermals, die Annäherung osteuropäischer Länder an die EU zu behindern und dabei vor der Verletzung der territorialen Integrität dieser Staaten nicht zurückzuschrecken. „Wir sehen außerdem, dass Russland wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten in einigen Ländern des Westbalkans zu schaffen versucht“, warnte Merkel.
Die Ukraine, Moldau und Georgien hätten „aus eigener souveräner Entscheidung ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieben. Diesen drei Ländern bereitet Russland Schwierigkeiten“, behauptete Merkel gegenüber der „Welt am Sonntag„. Nach Ansicht der Kanzlerin sollte in Europa nicht das Denken in Einflusssphären geopolitische Fakten schaffen, sondern das internationale Recht.
Beim Putin-Bashing Anfang November sprach Merkel gar von einer „Annexion“ der Krim durch Russland, die gegen die Prinzipien der Nachkriegsordnung in Europa verstieße – damit ist wohl die in der Schlussakte von Helsinki 1975 festgehaltene Unverletzlichkeit bestehender Grenzen gemeint. Dieses Vorgehen des Kreml, das die Kanzlerin gar als „Raub“ bezeichnete, dürfe „man Russland nicht durchgehen lassen“, so Merkel, weswegen nun eine „gewisse Härte“ gegenüber Moskau angebracht sei.
Vom Kosovo zur Krim
Solch eine harte Haltung Berlins gegenüber Moskau, dessen „Annexion“ der Krim die Prinzipien der europäischen Nachkriegsordnung weiter aushöhlt, ist nur bei arg vorangeschrittenem Gedächtnisschwund möglich. Schließlich war es die westliche Wertegemeinschaft in Gestalt der NATO, die 1999 mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien die Prinzipien der europäischen Nachkriegsordnung nachhaltig schädigte, indem sie die territoriale Integrität eines bestehenden States nicht nur „verletzte“, sondern gewaltsam zerschlug. Selbst die Süddeutsche Zeitung musste am zehnten Jahrestag des Kosovo-Krieges dessen völkerrechtswidrigen Charakter benennen:
Nicht vergessen ist indes, dass der Krieg dem Völkerrecht zuwiderlief, weil die Nato ihn ohne UN-Mandat führte. In den Blättern für deutsche und internationale Politik vom März dieses Jahres hat Ludger Volmer, Politiker der Grünen und seinerzeit Staatssekretär im Auswärtigen Amt, es als eine „Tragik der Geschichte“ bezeichnet, dass man den „Wortlaut“ des Völkerrechts habe verletzen müssen. Der studierte Sozialwissenschaftler glaubt offenbar, das Völkerrecht sei im Kern nicht verletzt worden, sondern nur seine äußere Hülle, der „Wortlaut“. Das wirft die Frage auf, was von Rechtssätzen übrigbleibt, wenn man sie nicht wörtlich nimmt. Außerdem ist fraglich, ob man die „Tragik der Geschichte“ nicht hätte vermeiden können.
Die Parallelen zwischen der Krimkrise und dem Kosovo-Krieg sind offensichtlich: Die Bombardierung der Bundesrepublik Jugoslawien wurde von der NATO mit angeblichen Massakern und einem Völkermord an der albanischen Bevölkerungsmehrheit durch jugoslawische Sicherheitskräfte und serbische Freischärler legitimiert – eine Behauptung, die sich nach Kriegsende weitgehend als Kriegspropaganda erwies. Im Endeffekt hat aber diese rechtswidrige NATO-Intervention dazu beigetragen, ethnisch-separatistischen Bewegungen Auftrieb zu verleihen, die die bestehenden Grenzen in multiethnischen Staaten infrage stellen.
Die Krim verfügt über eine russische Bevölkerungsmehrheit, die sich durch den Aufstieg des ukrainischen Nationalismus und Neofaschismus („Ukraine über Alles!“) im Zuge des westlich unterstützten Regierungsumsturzes in Kiew bedroht sah, weswegen eine übergroße Mehrheit der Bevölkerung auf dieser Halbinsel die Abspaltung unterstützte. Und selbstverständlich war diese Angst vor dem ukrainischen Faschismus nicht unbegründet, wie das faschistische Pogrom in Odessa (Wie die Regierung Kiew die Aufklärung der Brand-Tragödie in Odessa sabotiert), dem Dutzende prorussischer Aktivisten zum Opfer fielen, beweist. Moskau kann nun mit Fug und Recht behaupten, mittels der militärischen Besetzung der Krim den Bewohnern dieser Halbinsel ein ähnliches Schicksal erspart zu haben.
Selbstverständlich handelt es sich in beiden Fällen um offensichtliche Brüche des Völkerrechts, mit denen die europäische Nachkriegsordnung in eine europäische Vorkriegsunordnung transformiert wird. Selbstverständlich ist es glatter, auf Massenmord hinauslaufender Wahnsinn, die europäischen Grenzen entlang ethnischer oder völkischer Kriterien neu ziehen zu wollen. Doch blickt Kanzlerin Merkel bei ihrer Kritik an Moskau letztendlich nur in den Spiegel. Der Westen erntet, was er selbst gesät hat: die Instrumentalisierung von Nationalismus und Separatismus zwecks Erringung geopolitischer Ziele.
Und was für ein Gebilde brachte der westliche Völkerrechtsbruch im Fall des Kosovo eigentlich hervor? Die Kanzlerin, die plötzlich nur das „internationale Recht“ in der Eurozone walten sehen will, könnte ja einfach mal beim Bundesnachrichtendienst (BND) nachfragen. Das Kosovo, das wohl das Paradebeispiel für einen Failed State abgibt, entwickelte sich laut BND zu einer regelrechten Gangsterrepublik, dessen staatlich Organisierte Kriminalität (OK) ein „hohes Bedrohungspotenzial für Europa“ darstelle und durch „engste Verflechtungen zwischen Politik, Wirtschaft und international operierenden“ Mafiabanden charakterisiert sei. Der BND zog in dem durchgesickerten, geheimen Bericht ein vernichtendes Fazit:
Der Kosovo und der gesamte West-Balkan-Raum werden bis auf weiteres eine Schlüsselrolle als Transitregion für den Drogenhandel in Richtung (West-) Europa behalten. Gerade der Kosovo gilt dabei als ein Zentrum der OK, aus dem kriminelle Aktivitäten in ganz Europa gesteuert werden.
Die eingangs zitierte Warnung Merkels vor der Einflussnahme Moskaus „in einigen Ländern des Westbalkans“ nimmt sich angesichts dieser durch die NATO-Intervention herbeigebombten Zustände doch arg merkwürdig aus.
Von guten und bösen Faschisten
Empörung in den Redaktionsstuben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ): Die Führerin der französischen Nazipartei Front National (FN) „steht in Russland noch höher im Kurs als zunächst angenommen“, klagte das Leitmedium, nachdem massive Finanzspritzen russischer Banken an die französischen Rechtsextremisten publik geworden sind.
An die 40 Millionen Euro soll die First Czech Russian Bank den klammen Nazis für die kommenden Wahlkämpfe zur Verfügung gestellt haben. Damit soll der Finanzierungsbedarf des FN bis zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2017 gedeckt sein. Die First Czech Russian Bank werde von dem ehemaligen Finanzchef des Gaskonzerns Stroytransgas, Roman Popov, kontrolliert, der als ein Putin-Vertrauter gelte, so die FAZ, die hinter dem Deal – wohl nicht zu Unrecht – einen Versuch politischer Einflussnahme des Kreml vermutet:
Le Pen wies den Vorwurf zurück, mit den Millionen aus Moskau gebe sie ihre Unabhängigkeit auf. Auffällig ist allerdings, dass sie immer offensiver als Sprachrohr der russischen Kremlpropaganda in Frankreich auftritt. Die Parteichefin soll kürzlich bei einer geheimen Reise nach Moskau vom Kreml-Chef empfangen worden sein.
Eine ähnliche Kooperation zwischen dem erzkonservativen Kreml und Rechten deutet sich auch in der Bundesrepublik an. Spitzenpolitiker der rechtspopulistischen „Alternative für Deutschland“ bestätigten gegenüber dem SPIEGEL eine „Strategiesitzung“ mit russischen Diplomaten in der Berliner Botschaft der Russischen Föderation. An den Treffen, an denen auch Botschafter Wladimir Grinin zugegen war, nahmen Bundesvorstand Alexander Gauland, AfD-Bundesgeschäftsführer Georg Pazderski und Pressesprecher Christian Lüth teil. Die russischen Freunde hätten ihnen „strategische Beratung“ angeboten, teilten die Rechtspopulisten dem SPIEGEL mit. Über Geld soll hierbei nicht diskutiert worden sein, erklärte die AfD. Gerüchte, die Russen versuchten, über den Gold-Shop der AfD oder über Kredite an Funktionäre Einfluss auf die Partei zu nehmen, wies die AfD zurück.
Auch hierbei handelt es sich um ein Déjà-vu: In diesen politischen Einflussversuchen Moskaus in der EU spiegelt sich selbstverständlich nur die Interventionspolitik des Westens im Osten – und hier insbesondere in der Ukraine. Denn selbstverständlich war die von EU und USA massiv unterstützte „Opposition“, die den gewählten – wenn auch korrupten – ukrainischen Präsidenten Janukowitsch stürzte und anschließend als „Übergangsregierung“ das Land in den Bürgerkrieg führte, von ukrainischen Nazis durchsetzt. Und es waren gerade diese faschistischen Schlägertrupps, die mit allergrößter Brutalität den Regierungssturz in Kiew erst ermöglichten.
Die FAZ, welche sich jetzt über die Finanzierung französischer Rechtsextremisten durch Moskau echauffiert, wollte noch im vergangenen August – mehr als drei Monate nach dem Pogrom von Odessa – partout keinen Einfluss rechtsextremer Kräfte in „ihrer“ proeuropäischen Regierung in Kiew erkennen:
In der Ukraine regiert das Erbe der Unabhängigkeitsbewegungen, die vor 25 Jahren daran gingen, das Joch der Sowjetunion abzuwerfen.
Es seien hingegen die ostukrainischen Separatisten, die sich „wie Faschisten“ aufführten, behauptete der Kommentator Jasper von Altenbockum zu einer Zeit, als ukrainisches Militär in Kooperation mit rechtsextremen Milizen die Städte der Ostukraine routinemäßig unter Artilleriebeschuss nahm (Ukrainisches Todesroulette). Die Nazis, das sind immer nur die Anderen: Im Westen empört man sich über die Millionen an dem Front National, während man die Instrumentalisierung ukrainischer Nazis in der Ukraine gerne „vergisst“ oder in Abrede stellt, während Moskau den Aufstieg des Neofaschismus in der Ukraine völlig zu recht skandalisiert – und zugleich in der EU nach Kräften fördert.
Diese geopolitische Instrumentalisierung des krisenbedingt zunehmenden Rechtsextremismus ist angesichts der sich verschärfenden geopolitischen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West nur zu folgerichtig. Um Einfluss auf die Innenpolitik in den konkurrierenden Staaten zu gewinnen, bedienen sich die Großmächte leicht manipulierbarer, ideologisch verblendeter Gruppierungen, deren wahnhaftes und paranoides Weltbild eine geopolitische Instrumentalisierung erleichtert – und dies sind nun mal rechtspopulistische oder rechtsextreme Gruppierungen, wie der FN, die AfD oder die ukrainische Swoboda.
Das Ergebnis dieses knallharten geopolitischen Großmachtpokers besteht in einer allgemeinen, weiteren Stärkung des Rechtsextremismus: Nazis gelangen so auf hohe Posten im ukrainischen Polizeiapparat (Von der rechtsextremen Miliz Asow zum Polizeichef). Der FN hat dank guter Finanzierung beste Aussichten, in die Stichwahl ums französische Präsidentenamt einzuziehen. Die AfD wird wohl künftig von russischen Public-Relations Experten beraten werden.
Von der Einflusssphäre zum Hinterhof
Um das Spiegelbild dieser – vom Kreml wie vom Westen betriebenen – neoimperialen Großmachtpolitik zu komplettieren, muss abschließend noch der Kanzlerin Klage über das russische „Denken in Einflusssphären“, dem Merkel angeblich das internationale Recht gegenüberstellen will, mit der traurigen geopolitischen Realität im „Hinterhof Europas“ konfrontiert werden.
Was würde sich hierfür besser eignen, als das ureuropäische Portal EurActiv, auf dem die Analystin Judy Dempsey dankenswerterweise Klartext schrieb. Die EU müsse sich Sorgen um ihren „Hinterhof“ machen, warnte Dempsey bezüglich des erstarkenden russischen Einflusses im westlichen Balkan. Während die Kanzlerin das internationale Recht zur Maxime der europäischen Außenpolitik erheben will, bezeichnet die europäische Analystin den westlichen Balkan als die Einflusssphäre der EU.
Auch hier gilt bei allen offiziellen Deklarationen der politischen Eliten die übliche Heuchelei: Nur die geopolitischen Gegenspieler betreiben rücksichtslose neopolitische Geopolitik. Der brandgefährlichen Realität dieses neoimperialen Great Game kommen die Einschätzungen der Thinktanks, für die auch Dempsey arbeitet, schon bedeutend näher. Der private US-Nachrichtendienst Stratfor sieht die Ursachen dieses drohenden Großkonflikts zwischen dem Westen und Russland zwar in der Eskalation in der Ukraine, doch habe diese letztendlich auf den gesamten postsowjetischen Raum ausgestrahlt und zu einer massiven Zunahme des Konfliktpotenzials geführt:
Aber es gibt wirklich kein Land in der Region, das nicht von dieser Krise betroffen ist. Zum Beispiel sind da Länder wie Moldau oder Georgien, die vom Westen in seine Interessenssphäre gezogen werden oder versuchen, sich dem Westen wie die Ukraine anzunähern, und Russland versucht im Gegenzug, unter Einsatz seines Einflusses diese Anstrengungen abzublocken. Zudem versucht Russland, eine eigene Allianz aufzubauen, um die Anstrengungen der EU und der NATO zu kontern. Deswegen nähern sich Länder wie Belarus, Armenien und selbst weit entfernt liegende Länder wie Kirgisien immer stärker Russland an, militärisch wie ökonomisch. Dies ist die Lage, in der wir uns momentan befinden.
Das Gerede der politischen Eliten über „internationales Recht“, „Souveränität“ oder „die Nachkriegsordnung“ kaschiert dieses brutale und brandgefährliche neoimperialistische Great Game in Eurasien, das einem Geschichtsbuch des 19. Jahrhunderts entsprungen sein könnte. Während in westlichen Medien von einer russischen Aggression die Rede ist, findet zugleich ein massiver strategischer Vorstoß des „Westens“ in die Einflusssphäre der Russischen Föderation statt, auf den Moskau mit dem Versuch einer Allianzbildung reagiert.
Damit geraten alle postsowjetischen Länder unter verstärkten Druck, ihre Souveränität teilweise aufzugeben und sich entweder dem westlichen oder dem östlichen Bündnissystem einzufügen. Diese sich verschärfenden Frontverläufe in einem geopolitischen Raum, der durch etliche „eingefrorene Konflikte“ gekennzeichnet ist (Transnistrien, Berg-Karabach, Südossetien, Abchasien), bergen ein ungeheures explosives Potenzial, das die ganze Welt buchstäblich in Brand setzen könnte.
aus: Telepolis 25.12.2014