Grenzen der Körperbeherrschung

Streifzüge 63/2015

Uwe von Bescherer

Unsere körperliche Existenz eröffnet ein permanentes Spannungsfeld zwischen Haben und Sein, Subjekt und Objekt, nah und fern. Mal „hat“ man seinen Körper, ein andermal „ist“ man sein Körper.

Dualität von Körper und Geist

Diese Gemengelage und das daraus resultierende Gefühl der Zerrissenheit beschäftigte die Philosophie schon von alters her. Die Athener der Antike machten daraus die Unterscheidung von „Seele“ und „Körper“. Während die Seele als Element des Ewigen und Göttlichen die Wahrheit erkennen und Vollkommenheit erlangen könne, sei der natürliche Körper hingegen nicht mehr als ein Hindernis jeglichen philosophischen Strebens.

René Descartes („cogito ergo sum“) folgte dieser Vorstellung noch im 17. Jahrhundert. In der Hierarchie Seele/Körper degradierte er den Körper gar zu einer Maschine, zu einem mechanischen Instrument: „Ich wünsche, dass man schließlich aufmerksam beachte, dass alle Funktionen, die ich dieser Maschine zugeschrieben habe, z.B. die Verdauung der Nahrung, das Schlagen des Herzens und der Arterien, die Ernährung und das Wachstum der Glieder …, alle von Natur aus allein aus der Disposition ihrer Organe hervorgehen, nicht mehr und nicht weniger, als die Bewegungen einer Uhr oder eines anderen Automaten von der Anordnung ihrer Gewichte und ihrer Räder abhängen.“ (Descartes, Über den Menschen, Heidelberg 1969, S. 27). In diesem Entwurf, der das abendländische Denken bis heute beeinflusst, hält sich die Seele in ihrem Körper auf wie ein Pilot in seinem Raumschiff.

Immanuel Kant, der zu den bedeutendsten Philosophen der abendländischen Philosophie zählt, benutzte statt „Seele“ die Begriffe „Vernunft“ und „Wille“. Um nicht von der „Sinnenwelt“ mit ihrem „Begehren, Lust und Schmerz“ beherrscht zu werden, vertraute er nur auf die Vernunft. „Freiheit“ besteht für ihn in der bewussten Entscheidung, sich selbst der Vernunft und den von ihr gesetzten Regeln zu unterwerfen und als „Wollen“ in den Dienst der Allgemeinheit zu übersetzen. Karl Heinz Wedel komprimierte das Kant’sche Anliegen folgendermaßen: „Statt ein sinnliches Dasein, das nicht auf die determinierenden Bedingungen der Wirklichkeit reduziert ist, will Kant als wahre Existenz im Sinne seiner praktischen Vernunft und Freiheitslehre ein Sein ohne Sinne, also ein sinn-loses Sein.“ (Die Höllenfahrt des Selbst, Krisis 26, S. 62).

Das Ansinnen der philosophischen „Aufklärung“, sich den Körper buchstäblich vom Leib zu halten, ist bis heute ein konstitutives Moment modernen Bewusstseins. Gleichwohl zeigt sich der klassische Dualismus durch neuere philosophische Betrachtungen konterkariert. Dazu tragen z.B. Friedrich Nietzsche und Maurice Merleau-Ponty bei. Für Nietzsche nehmen Gedanken und jede andere Form intellektueller Tätigkeit ihren Anfang stets in körperlichen Impulsen. „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser, der heißt Selbst: In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Frankfurt a.M., S. 40). „Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinn, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du Geist nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft.“ (eEbenda, S. 41). Auch für Maurice Merleau-Ponty ist der eigene Körper nicht mehr Vehikel des Geistes, sondern umgekehrt, der Geist existiert „durch das Mittel des Leibes“. Nach seiner Phänomenologie sind es unsere menschlichen Sinne des Sehens, Hörens, Riechens und Tastens, die unsere Welt erst entwerfen und ins Leben rufen. Unser Körper ist „unser Mittel, eine Welt zu haben“.

Von welcher Seite das Ganze auch angegangen wird, so ist letztlich nicht zu leugnen, dass Körper und Geist eine untrennbare Einheit, ein Unteilbares, kurzum ein „Individuum“ konstituieren. Das Individuum lässt sich auf seine körperliche Materialität und seine Organfunktionen genauso wenig reduzieren wie auf sein Bewusstsein und seine Geisteskraft. Es trägt aber für jeden spürbar ein Spannungsverhältnis in sich, dass sich zwischen einem „mehr Außen“ und einem „mehr Innen“ aufbaut.

Leiden der Physis

Unsere Physis ist das Wahrzeichen unserer Animalität. Sie zeigt uns unsere Zerbrechlichkeit, unsere Schwäche, Krankheit und Tod und sondert ständig Substanzen ab wie Schweiß, Rotz und Exkremente. Gleichzeitig ist sie Quelle all unserer Freude: Ihre Vitalität, Kraft und Bewegungsvielfalt lässt uns die Welt genauso genießen wie ein leckeres Essen, das Empfinden von Emotionen und Leidenschaften und die Möglichkeit, anderen Menschen zu begegnen und sie kennenzulernen. Ihre Heimat ist jedoch nicht der Garten Eden. Von Geburt an findet sie sich wieder in einem Rahmen gewaltsam geschaffener gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen sie zurechtzukommen hat und in langjähriger Erziehung lernt, ihre animalische Natur, aber auch Seele, Geist und Bewusstsein an die aufgeherrschten Schranken anzupassen.

Wenn die öffentliche Diskussion auf die „Natur des Menschen“ im Sinne eines ursprünglichen Menschseins zu sprechen kommt, verweist sie am liebsten auf die Steinzeit. Hier soll der Mensch gute Lebensbedingungen für eine optimale Entfaltung seiner Fähigkeiten vorgefunden haben und in seiner Lebensweise auch seinen spezifischen Eigenheiten als Zweibeiner entsprochen haben. Richtig daran ist sicherlich, dass die Wirbelsäule der Menschen, um mit diesem zentralen Konstruktionselement unseres Körpers zu beginnen, bedingt durch den aufrechten Gang stets eine potentielle Baustelle darstellt. Sie muss durch Bewegung flexibel gehalten und muskulär unterstützt werden. Unser gesamtes Skelett ist nicht als Ruhe-, sondern als Bewegungsorgan zu verstehen. Unsere Vorfahren liefen ihrer Nahrung hinterher oder rannten um ihr Leben, um nicht als Beute zu enden – im Existenzkampf bewährten sie sich als leistungsstarke Langstreckenläufer.

In der heutigen Zeit des Kapitalismus eliminiert die Produktivkraft Wissenschaft durch die Entwicklung von Maschinen und Mikroelektronik mehr und mehr den Einsatz menschlich-physischen Vermögens aus dem Produktionsprozess. Da dieser Einsatz unter dem Diktat der Kapitalverwertung stets zur „Maloche“ pervertierte, ist diese Entwicklung zu begrüßen. Das Herausdrängen physischer Aktivitäten aus der Produktion spiegelt sich aber großflächig auch in der Sphäre der Reproduktion. Das „urbane“ Wohnen mit Hochhäusern, Fahrstühlen, grauen Straßenschluchten, Bussen und wenig Grün lädt nicht zu Spaziergängen oder Wanderungen ein. Die in der Steinzeit körperlich fordernde Aktivität zur Sicherung der Nahrung und sonstiger Grundlebensmittel reduziert sich auf den Einkauf im Supermarkt – das Ergebnis einer rigorosen Einsparung ehemals zeit- und kraftintensiver Körper- und Handlungsakte. Was einst ertastet, aufgespürt, gerochen, gefühlt, erjagt, gesammelt, ausgelesen, angefasst und gedrückt wurde, nehmen wir heute berührungsfrei und steril in vor Weichmachern triefende Plastikverpackungen gequetscht aus einem Regal – in völlig blindem wie grundlosem Vertrauen auf die Gesundheitsverträglichkeit der angebotenen Waren. Bezahlt werden muss freilich auch und trotzdem.

Das schultütenbelohnte Stillsitzen der Erstklässler in der Schule und das geduldige Verharren der Berufstätigen an bewegungsarmen Arbeitsplätzen sind Beispiele dafür, dass das Nichtstun im Sinne der körperlichen Bewegungslosigkeit tendenziell die am meisten einsetzbare Disziplin und Tugend des Körpers unserer modernen Zeit ist. Es bewährt sich beim Autofahren und im Verkehrsstau genauso wie beim Fernsehglotzen, am PC und am Handy. Mit einem Minimum an Aufwand, in Sekundenbruchteilen, gleichsam mit Miniaturhandlungen wird unter Einsatz moderner Technik ein Maximum an Effekt erreicht, werden aufwendige Handlungs-Sequenzen der Vergangenheit durch die Innovationen des Knipsens, Reißens, Drückens, Drehens und die damit verbundenen Zeitstrukturen der Momenthaftigkeit und Punktualität verabschiedet. Im banalen Auflodern der Flamme des Feuerzeugs zum Beispiel versinken einst ehrwürdige Traditionen des Funkenschlagens aus Steinen, des Holz- und Rindensammelns, des Trocknens und Lagerns und die Prozeduren und Geheimnisse des dauerhaften Bewahrens und Pflegens der Flamme.

Der akute Mangel der Betätigung unseres physischen Basisvermögens macht sich fatalerweise nicht als inneres Gefühl des Mangels bemerkbar. Genetisch verfügen wir meiner Erfahrung nach über keinen Trieb, der uns zur Bewegung drängt, oder über eine angeborene „Essbremse“, die die Menge unserer Nahrungsaufnahme steuert. Und so sitzen wir modernen Menschen in der Regel viele Stunden täglich auf dem Sofa oder auf einem Bürostuhl, das Essen immer in Reichweite. Wenn die Steinzeit als Erbe der Evolution in uns steckt, müssen wir bilanzieren, dass wir aus der Sicht unserer Physis an die Lebensbedingungen des 21. Jahrhunderts nicht angepasst sind und dass sich das Spektrum unserer körperlichen Fähigkeiten samt der damit verbundenen Lebensqualität in der Gefahr befindet, eine drastische Verstümmelung zu erfahren.

Selbstbeherrschung

Freilich könnten wir mit ein wenig historischem Bewusstsein, Intellekt und Willen das Leiden unserer Physis erkennen und das Problem individuell und als gesellschaftliches Ganzes lindernd angehen. Geist und Wille erweisen sich allerdings keineswegs als dankbar, respektvoll und fürsorglich gegenüber der körperlich-materiellen Basis ihrer Existenz. Der Körper wird stattdessen hierarchisch unterworfen und gilt als verächtlich, fremd und von „niederer Natur“. Die Unterordnung des Körpers unter den Geist verläuft als unterirdische Geschichte unter der bekannten Geschichte Europas und besteht in der Distanzierung und Disziplinierung des physiologisch Ursprünglichen und menschlich Natürlichen. Hautoberflächen, Schleimhäute und Körperöffnungen werden heutzutage genauestens kontrolliert, Pickel, Schuppen und Gerüche nach Möglichkeit zur Strecke gebracht. Sie geraten genauso wie der Prozess der Verdauung und die Sexualität unter den Fluch der totschweigenden Scham, der Peinlichkeit und des Ekels.

Den körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten geht es mit dem Instrumentarium des „Verhaltens“ an den Kragen. Unter das Diktat des Verhaltens fallen Hände und Füße, der Mund, die Lippen, die Nase, Augen wie Zunge – eigentlich die ganze Physis. Aber das „Verhalten“ geht durchaus tiefer als die Verinnerlichung des Verbots, auf den Esstisch zu spucken, und nimmt sich vor allem das Ensemble der Gefühle zum Opfer. Diese machen sich im menschlichen Leib als jeweils speziell eingefärbte energetische Zustände bemerkbar, die durch Abreaktion in Form des Handelns energetisch wieder neutralisiert werden. Das Gefühl drängt und treibt – es kann nicht an die Zügel genommen werden. Nicht das Gefühl selbst unterliegt dem „Verhalten“, sondern seine unbelastete Darstellung in der „Öffentlichkeit“. Verhalten wird die Transformation des Gefühls in eine direkte, unverhüllte praxisorientierte Dynamik – die „Emotionalisierung“ des Gefühls im wörtlichen Sinne („emovere“ = sich herausbewegen).
Jeder von uns weiß, wie schwierig es ist, eine einmal eingehandelte Packung Ärger, Frust und Wut und die darin enthaltenen Energien wieder loszuwerden. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch unter engsten Mitmenschen sind derartige als negativ deklarierte Energieabfuhren überaus verpönt. „Cool bleiben, immer cool bleiben“, lautet der beim einen mehr, beim andern weniger erfolgreiche Versuch, die Gefühle des Ärgers und der Wut vollständig aus dem Wahrnehmungsspektrum zu eliminieren. Ob sie einen berechtigten Grund haben oder auch nicht – sie werden energetisch kastriert.

Zur Ausübung effizienter Herrschaft ist das allgemeine Einüben des „Verhaltens“ von nicht zu unterschätzendem Vorteil. Alle bisherigen Gesellschaftsformationen hatten einen bestimmten „Zweck“, der noch nie darin lag, die menschlichen Potentiale zu entfalten und Lebensfreude zu schaffen. Aber alle mussten ihren speziellen Zweck „durch den Menschen hindurch“ verwirklichen. Die Herrschenden brauchten und brauchen also Mittel, ihre Untertanen zu „motivieren“: Zur strukturellen Gewalt und zur direkten Anwendung physischer Gewalt gesellt sich die sublimere und überaus effiziente Domestizierung des Menschen in Form der Distanzierung und Abwertung des eigenen physischen Körpers durch den Geist. In den dadurch entstehenden Abstand zwischen Geist und Körper, wo der Geist den Körper aus einer hierarchischen Dominanz heraus misstrauisch beäugt und kontrolliert, kann sich der Mechanismus des „Verhaltens“ einnisten. Mittels adäquater Gestaltung des Gefühlslebens können sich die Interessen einer Herrschaftsformation direkt in den menschlichen Körper einschreiben. In der Biographie jedes Einzelnen von uns findet sich eine breite Spur der Einschleifung gesellschaftlich akzeptierten und geforderten Verhaltens, das die Grundprinzipien kapitalistischen Funktionierens im Schlepptau hat. Mit der Vorstellung eines autarken, freien Willens lässt sich das nicht vereinbaren.

In unserer Kindheit strengen wir uns mächtig an, den Vorstellungen unserer Eltern zu entsprechen. Diese wollen ein „normales“ Kind, und weil es ja das eigene Kind ist, darf es ruhig noch ein bisschen mehr sein. Es handelt sich um die Implantierung des Konkurrenz- und Leistungsprinzips schon mit der Muttermilch und der Elternliebe. Danach folgt der obligatorische Verhaltens- und Gehorsamkeitsdrill durch die verschiedenen kindlichen Entwicklungsphasen von der oralen bis zur genitalen Phase. Ernst Bloch schreibt dazu im „Prinzip Hoffnung“: „Die Jugend wird erzogen, rohes Fleisch ist nicht genießbar. Wird darum gehackt oder gekocht, zu den Namen verwandelt, die dann auf der Eßkarte stehen.“ (Das Prinzip Hoffnung, Suhrkamp 1973, S. 1090). Zerhackt und zerkocht zu werden und den ersten Spielgefährten als Konkurrenten serviert zu bekommen, erzeugt nicht Wohlbehagen und Geborgenheit, sondern Angst, die sich ins tägliche Leben einschleicht, aber gesellschaftlich geächtet nicht zum Ausdruck kommen darf. Wer will schon eine Memme, ein Angsthase, Weichling, Feigling oder Hosenscheißer sein? Diese „verhaltene“ Angst korrespondiert mit der historisch sich ins „gesellschaftliche Unterbewusstsein“ festgefressenen Lebensangst (siehe R.obert Kurz: Schwarzbuch des Kapitalismus) genauso unmittelbar wie mit den Zwängen der Warenlogik.

Ursprünglich löst Angst zwei alternative Verhaltensweisen aus: In Panik weglaufen oder sich wütend auf den Angstauslöser stürzen. Als „strukturelle Gewalt“ bietet eine „Logik“ dem Gefühl der Angst aber keine Möglichkeit wegzulaufen und kein direktes „greifbares Gegenüber“, an dem es sich festmachen und abreagieren könnte. Ihre Manifestationen sind anderer Art: Selbstverständlichkeiten, Objektivität, Recht, Gesetz, Sachzwänge, Arbeitsplatz, Preisschilder, zwischenmenschliche Kälte, Fremdheit und Gleichgültigkeit etc. Alle zusammen, eingepackt in Statistiken über neue Rekordzahlen von Hartz-IV-Empfängern und prekär Beschäftigten, schüren täglich aufs Neue Angst, die hoffnungslos im Leib festsitzt und als „Charakterpanzer“ (Wilhelm Reich) buchstäblich in Fleisch und Blut übergeht. Bewusst wahrgenommen wird die Angst in diesem chronischen Zustand nicht als akutes Leiden. Sie ist leise, kaum sichtbar und versinkt im täglichen Einerlei. Als im „Untergrund“ brodelnde Energie wirkt sie aber dennoch mit an der Konstituierung des individuellen Überlebens in der Marktwirtschaft: Die Hilferufe der Angst verhallen ungehört und transformieren sich gerade deswegen zum vorbehaltlosen JA„Ja“ zu den herrschenden Bedingungen. „Geködert“ wird das JA„Ja“ durch die bunten Reize der Konsumwelt, die zum überschwänglichen Mitmachen aufrufen und animieren. An diesem Ort findet sich der „himmelblaue See des Glücks“ bürgerlichen Wohlbehagens – in Wirklichkeit nur ein erbärmliches Behagen, das auf ängstlich verlogenen, tönernen Füßen steht und dessen Genügsamkeit zum Himmel stinkt.

Krankheit

Der Kapitalismus und seine Warenwelt bedienen den hierarchischen Dualismus von Körper und Wille in nahezu perfekter Weise. Aber die Praxis der Unterordnung und Missachtung der menschlich-körperlichen Natur führt zu Gegenreaktionen – in der Erfahrung der Krankheit lässt der Körper uns leiden. Das breite Warenangebot an Deo- und Intimsprays, Wasch-, Schuppen-, Enthaarungsmitteln etc., das sich der Aufrechterhaltung und Intensivierung der Körperdistanzierung andient, wird vom Körper mit einer wachsenden Zahl von Allergien quittiert. Solche Leiden, die es in vorindustrieller Zeit nicht gab, werden „Zivilisationskrankheiten“ genannt. Ohne dass es eine abgeschlossene Liste der Erscheinungsformen gäbe, zählen hierzu Zahnfäule (Karies), Diabetes, Bluthochdruck, Herz- und Gefäßkrankheiten, Gicht, manche Krebsarten, Neurodermitis, Essstörungen, Fettleibigkeit, Kurzsichtigkeit und eben auch Allergien.

Ein großes Einfallstor für diese Krankheiten eröffnet sich durch unser körperliches Bedürfnis nach täglicher Nahrungsaufnahme und die damit verbundene Angewiesenheit auf die Lebensmittelindustrie. Wie wir als Kritiker kapitalistischer Produktionsweise wissen, spielt der Gebrauchswert einer Ware unter dem Diktat der Wertverwertung nur unter dem Aspekt der Realisierung des Tauschwerts eine Rolle. Für den Hersteller gibt es folglich keine guten oder schlechten Nahrungsmittel, sondern nur Umsatz und Gewinn und dementsprechend sieht unsere Nahrung aus. Während die Produkte der Agrarindustrie regelmäßig Rückstände von Fungiziden, Herbiziden und Insektiziden aufweisen, funktioniert eine konkurrenzrobuste Fleischherstellung nur durch Einsatz von Schmerzmitteln, Antibiotika und Hormonen, die durch die Nahrungskette wandern. Darüber hinaus wird das überaus bunte, vielfältige und verführerische Lebensmittelangebot der Supermärkte erst ermöglicht, indem in der Lebensmittelherstellung eine unendlich scheinende Zahl höchst zweifelhafter chemischer Zusätze eingesetzt wird: Farbstoffe, Konservierungsstoffe, Antioxidantien, Säureregulatoren, Süßungsmittel, Emulgatoren, Stabilisatoren, Verdickungsmittel, Geliermittel, Rieselhilfen, Geschmacksverstärker, Aluminiumoxid etc. Massenhaft zuckerverseuchte, „suchtauslösende“ Nahrungsmittel und fettiges Fast Food, zwei Hauptsäulen der Ernährungsgewohnheiten moderner Individuen, erweisen sich zudem als Kalorienbomben, deren energetische Abarbeitung unter den heutigen Lebensbedingungen kaum möglich ist.

Der menschliche Körper ist geduldig und im Allgemeinen auch erstaunlich widerstandsfähig. Wenn er dann durch die Einwirkungen gewissenlosen kapitalistischen Profitinteresses doch gequält aufschreit und akute Krankheitssymptome zeigt, so macht sich der den Körper distanzierende Geist erst einmal keinen Kopf daraus: er schiebt die Schuld auf die Schwäche des eigenen Körpers. In dieser Ansicht wird er bekräftigt durch die Interessen der Pharmazie und Medizin, die ihren Fokus nur zu gerne auf das isolierte körperliche Symptom lenken, um ihm mit einer breiten Palette kostspieliger wie gewinnträchtiger Therapieversuche zu Leibe zu rücken.
Schon aus der Anfangsphase der Krankheitsentwicklung lässt sich aus der Hierarchie Geist/Körper und dem dominanten Willen des Geistes vortrefflich Geld schinden: Schauen wir uns beispielhaft einen durch falsche Ernährung und Bewegungsmangel fettleibig gewordenen Menschen an, so wird dieser – nachdem er festgestellt hat, dass er kaum noch aus dem Sofa kommt und Schwierigkeiten hat beim Schnürsenkelbinden – Gegenmaßnahmen in Erwägung ziehen. Er wird seinem Willen Ausdruck verleihen, indem er sich eine hochwertige Nordic-Walking-Ausrüstung, ein Jogging-Outfit oder eine Mitgliedschaft in einem Fitness-Center leistet. Wenn sein Vorhaben schließlich an der Erfahrung scheitert, dass es mit Zeitaufwand und lustlosen Anstrengungen verbunden ist, seinen Körper nach seinen Wunschvorstellungen zu modellieren, bleiben immer noch das Magenband, die Fettabsaugung und die plastische Chirurgie. Wer sich das nicht leisten kann oder will, greift gerne auf die virtuelle Welt zu: mit einem vollkommen beherrschbaren Cyber-Körper ist der Geist endlich von der Bürde seiner physisch-konkreten Materialität und von allen raum-zeitlichen Beschränkungen befreit. Die Kontrolle des Geistes über den Körper wird hier perfekt.

Viel schwieriger gestaltet sich die Kontrolle über die eigene Gefühlswelt mittels des „Verhaltens“. Schauen wir uns noch einmal die schon oben eingeführte Packung „Ärger, Frust und Wut“ an. Als energetisch aufgeladener Spannungszustand bedarf diese Packung eigentlich einer adäquaten energetischen Abfuhr in die Außenwelt. Da es das Abendland in seiner kulturellen Entwicklung verblüffenderweise bis heute nicht geschafft hat, eine allgemein akzeptierte Ausdrucksmöglichkeit für diese Energien zu entwickeln, bleibt nur das Zurückhalten der gesellschaftlich als negativ geächteten Gefühle im eigenen Körper. Was aber geschieht dort mit der Energie? Man kann versuchen, sich den Ärger „von der Leber herunter“ zu reden und seinem „Herzen Luft zu machen“. Aber eigentlich „platzt man vor Ärger“, spürt die „Wut im Bauch“, das Ganze „liegt einem schwer im Magen“, „geht einem an die Nieren“ und lässt „die Galle überlaufen“. Der Volksmund offenbart, was die Menschen untereinander schon über viele Generationen hinweg beobachten können: Hindert man Gefühle an der energetischen Abreaktion nach „außen“, wirken ihre Energien destruktiv nach „innen“. Ärger und Wut, täglich „feinstofflich“ „runtergeschluckt“, werden über kurz oder lang „grobstofflich“ zu Krankheitssymptomen.

Der innerliche Energiestau aus zurückgehaltenen Gefühlen bedingt Krankheiten, die vom Medizinzweig der Psychosomatik erfasst werden: Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Darmkrankheiten, Autoimmunerkrankungen, Bluthochdruck, Bronchialasthma, anhaltende Kopf-, Nacken-, Schulter-, Rücken-, Glieder- und Gelenkschmerzen, sexuelle Probleme, Schwindel, Ohrengeräusche etc. Zwar wird der Geist unter dem Pseudonym „Psyche“ in die Suche nach der Ursache und der Therapie des Symptoms einbezogen, das verhilft der Psychosomatik aber nicht dazu, die gesellschaftliche Relevanz ihres Fachgebiets zu erkennen.

Es ist zu vermuten, dass sich ein Großteil des an jedem Wochenende zu beobachtenden überschäumenden Fußballfanatismus aus dem innerlich zurückgehaltenen Energiereservoir der Gefühle speist und dass der energetische Gefühlsüberschuss gesellschaftlich gewollt geradezu dorthin kanalisiert wird. Ebenso ist anzunehmen, dass sich die um ihren realen Lebensausdruck betrogenen Gefühlsenergien allabendlich ihr Ausleben in Form von „Schmachtfetzen“, Horrorstreifen, Weltuntergangsszenarien etc. in der Bilderwelt des Fernsehprogramms imaginieren.

Im Leib blockiert – und konfrontiert mit den täglichen Demütigungen und der maßlos fordernden Arroganz einer blind um sich schlagenden, zugrunde gehenden Gesellschaftsformation –, erzeugt auch die Angst „Symptome“, die in einem Krankheitsbild, das man „seelischen Infarkt“ nennt, kulminieren. Die Rede ist von den neuerdings inflationär auftretenden Krankheitsbildern der Depression und des „Burnouts“, die in den allermeisten Fällen aus den heutigen Arbeitsbedingungen resultieren. Während die Depression eher ein Loser-Image mit sich trägt und das Wort „Depp“ quasi schon beinhaltet, adelt Burnout den Betroffenen als Helden der Arbeit, denn wer nicht für etwas gebrannt hat, kann auch keinen Burnout haben. Medizinisch gesehen gilt das Burnout allerdings als Erschöpfungsdepression. Die WHO sagt voraus, dass bis zum Jahr 2030 Depressionen zu den häufigsten Krankheiten gehören werden und erklärt den beruflichen Stress zu einer der größten Gefahren des 21. Jahrhunderts.

Stress ist bei Burnout immer beteiligt, der Körper ist in ständiger Alarmbereitschaft. Er ist einer permanenten Reizüberflutung ausgesetzt. Stress ist ein Zustand, in den man durch Druck von außen versetzt wird. In dem Versuch, den Gewinnerwartungen ihrer Aktionäre zu entsprechen, ersetzen die Unternehmen die Menschen nicht nur nach Möglichkeit durch Maschinen und Mikrotechnik, sondern verlangen von den verbleibenden Arbeitnehmern auch immer mehr Leistung in immer kürzerer Zeit und die Überschreibung der eigenen Identität mit den Interessen „ihrer“ Firma. Ständige Angst vor Arbeitsplatzverlust, Rationalisierungen, Arbeitsverdichtung, Arbeitsverträgen auf der Basis permanenter Bewährung und Befristung und nicht zuletzt chronische Bemängelung der erbrachten Arbeitsleistung vermitteln heute ein ganz realistisches Empfinden davon, wie kalt es sich anfühlt, als „Humankapital“ fungieren zu müssen. Der aus der Angst geborene Wille zum „unbedingten Mitmachen“ gerät auf seinem Weg in das Burnout in eine unerträgliche Spannung zu den Grenzen der Selbstbeherrschung und der Leistungsfähigkeit seiner Physis. Der fortgesetzte Versuch, der von den Arbeitgebern geforderten ultimativen Körperdisziplinierung zu entsprechen, endet letztlich in der Gleichzeitigkeit der Selbstaufgabe des Willens und der Weigerung des körperlichen Vermögens zum weiteren Mitmachen. Im Symptom des Burnouts schüttelt der Körper die Herrschaft von Geist und Wille ab und verordnet sich selbst die ersehnte Ruhe. Der Wille zum unbedingten Mitmachen kollabiert in der Erschöpfungsdepression zum „Nicht-mehr-mitmachen-Können“. Als Phänomen gesellschaftlich relevanten Ausmaßes verweist diese Diagnose auf eine absolute Grenze des infernalischen Mechanismus des „Immer-noch-mehr“ unter dem Fluch des Konkurrenzprinzips und der Wertverwertung.

Resümee

Der Körper ist Zeit unseres Lebens immer da und „nagelt“ uns an die Wirklichkeit. Wenn ihm die Lebensbedingungen nicht entsprechen, vermittelt er seine Kritik in der Hervorbringung von Krankheitssymptomen und Leid, die uns „auf Gedeih und Verderb“ auf die Beseitigung der Ursache festlegen. Wie ich mit diesem Artikel zeigen wollte, haben wir es unter der Bezeichnung „Zivilisationskrankheiten“ mit einer Liste von Krankheitssymptomen zu tun, die direkt auf die absolute Gleichgültigkeit kapitalistischen Profitinteresses gegenüber unserer Gesundheit zurückzuführen sind. Die Schwermetallbelastung der Luft, die pharmazeutisch-chemische Durchseuchung unserer Nahrungsmittel und der Bewegungsmangel in den Sphären der Produktion und Reproduktion sind Beispiele, die aus der Sicht des Körpers Aggression in Permanenz bedeuten. Zudem werden wir im gesellschaftlichen Produktionsprozess als Humankapital verachtet und ausgenützt bis zur totalen Erschöpfung.

Die gesellschaftliche Dimension der von „Zivilisationskrankheiten“ Betroffenen fordert eine neue Ausrichtung des Begriffs „Krankheit“. „Krankheit“ kann nicht mehr nur individuell in der „Privatsphäre“ verortet und fokussiert werden. Nicht das Individuum ist krank, sondern das Wesen unserer Gesellschaftsformation ist die Krankheit. Das Individuum zeigt nur ihre Symptome. Zivilisationskrankheiten sind nicht nur Einschränkung und Bedrohung des einzelnen Lebens, sondern vor allem die Negation der herrschenden Lebensbedingungen. Als solche verlangen sie die radikale Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Vor mehr als 40 Jahren gründete sich an der psychiatrischen Poliklinik der Universität Heidelberg eine aus Patienten und Ärzten bestehende Gruppe, die sich „Sozialistisches Patientenkollektiv“ nannte und einen ähnlichen Entwurf des Begriffs „Krankheit“ entwickelte. In ihrer Agitationsschrift „Aus der Krankheit eine Waffe machen“ definiert sie Krankheit als „Hemmung von Leben und … als unartikulierten Protest gegen die lebensfeindlichen Verhältnisse und gesellschaftlichen Zwänge“. Laut SPK existiert im kapitalistischen Verwertungsprozess nichts anderes Menschliches als nur Leid und Krankheit – sie sind die Reibung in der Verwertungsmaschine und bilden die theoretische Schlüsselfigur ihrer revolutionären Ambitionen nach „Abschaffung der krankmachenden privatwirtschaftlich-patriarchalischen Gesellschaft“. Das wohl bekannteste Zitat ihrer Agitationsschrift lautet: „Der Stein, den jemand in die Kommandozentralen des Kapitals wirft, und der Nierenstein, an dem ein anderer leidet, sind austauschbar. Schützen wir uns vor Nierensteinen!“

Der größte Fehler der Agitation des SPK bestand darin, aus der Krankheit den „Hauptwiderspruch im Kapitalismus“ zu konstruieren. Heutzutage zeichnet uns die marxistische Wertkritik mit ihren Analysen des Kapitalismus unserer Zeit ein unvergleichbar differenzierteres Bild, das auch wesentlich brauchbarer ist, eine radikale Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse erfolgreich in Angriff zu nehmen. Die in diesem Artikel dargestellte Kritik des Körpers an der auf ihn einwirkenden Lebenswirklichkeit kann die Kritik des Geistes an der Warenlogik nicht ersetzen. Im Fall einer gelungenen Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse dürfen wir uns deshalb über die Kraft unseres Denkens freuen. Sie ist jedoch immer nur Mittel. Ziel der Denkübungen ist stets etwas anderes, körperlich Spürbares: ein Mehr an Zufriedenheit. Zur Abschaffung von Herrschaft gehört die Einebnung der in jedem Individuum reproduzierten hierarchischen Kluft zwischen Geist und Körper. Der Geist muss lernen, sich als untrennbar verflochtene Einheit mit dem Körper zu begreifen und ihm „auf Augenhöhe“ zu begegnen.

Dazu gehört schon heute, sich für die Grundbedürfnisse des Körpers zu sensibilisieren und zudem zu reflektieren, inwieweit das durch die Jahrhunderte eingeschliffene „Verhalten“ von Gefühlsenergien nicht durch eine individuell gesündere Art des Umgangs mit Gefühlen ersetzt werden und so in eine freiere und ehrlichere Zwischenmenschlichkeit übersetzt werden kann. Beispiel: Das spontane Gefühl, jemanden am liebsten umbringen zu wollen, ist selbstverständlich zu Recht zurückzuhalten. Aber warum wird jemand, der seiner Wut durch einen Faustschlag auf den Tisch und einen kräftigen Brüller das Ausleben ermöglicht, eigentlich von allen Seiten ängstlich und pikiert angeschaut? Der Mechanismus des Verhaltens durchzieht freilich nicht nur die Gefühlsqualitäten der Angst und der Wut, sondern ist in der Gefühlswelt allgegenwärtig. Er mindert unsere Erfahrung von und unsere Ausstrahlung an Lebendigkeit und damit verbunden auch unsere Überzeugungskraft zur gesellschaftlichen Transformation. Erst die Einbeziehung der Thematik „Körper und Gefühle“ ermöglicht es, eine neue, überzeugende Qualität von Zufriedenheit zu entwickeln, die allgemeine Vitalität des Körpers zu steigern, unsere Genussfähigkeit zu erweitern und zu vertiefen und eine wahrhaftige Freude am eigenen Dasein und am allgemeinen Miteinander zu erleben und zu vermitteln.