Entsetzen-Aufregen-Weitermachen

Nach einigen Tagen der Betroffenheit gibt nun wieder die Routine den Ton an

von Franz Schandl

Mit den 71 Toten, die in einem Kühlwagen auf der österreichischen Ostautobahn in Parndorf gefunden wurden, erreichte der Horror unmissverständlich die europäischen Metropolen. Die Peripherie dringt ins Zentrum vor. Was folgte war inszenierte Betroffenheit: Ganz Österreich war bestürzt, die Kirchenglocken läuteten und der EU-Gipfel zelebrierte eine Trauerminute. Inzwischen kontrollieren Polizisten verstärkt an der Grenze zu Ungarn und über einen Assistenzeinsatz des österreichischen Bundesheeres wird laut nachgedacht. Heinz-Christian Strache (FPÖ) schreit nach Stacheldraht und an den Schlepperrouten läuft eine „Aktion scharf!“.

Den Nahen und Mittleren Osten oder auch Nordafrika hat man unter kräftiger europäischer Beihilfe nicht befreit sondern destabilisiert und brutalisiert. Der Vorschlag nunmehr in Syrien mit Bodentruppen zu intervenieren wird von erfahrenen Militärs als Himmelfahrtskommando betrachtet. Wo Freund und Feind sind, da kennt sich niemand mehr so recht aus. Gewaltpole strahlen in neuer Unübersichtlichkeit. Westliche Politik ist auf einem Punkt angelangt, wo fast jeder Schlag sich als Fehlschlag erweist. Und mit dem IS ist eine weggetretene, aber selbstbewusste Kraft auf den Plan getreten, gegen die herkömmliche Mittel wenig ausrichten.

Böse Schlepper

Die Krisen multiplizieren sich und die Politik kriegt nichts mehr in den Griff. Politiker wirken wie ratlose, ja hilflose Agenten ihrer Sprüche, die sie andauernd ablassen und die schon niemand mehr hören kann. Auch die besten Teile der europäischen Bevölkerung, die abschätzig Gutmenschen genannt werden, bringen nicht viel mehr zustande als ihre karitative Seite herauszustreichen. Das ist nicht wenig, aber es ist doch viel zu wenig, vor allem keine Lösung, sondern maximal punktuelle Notlösung.

Politik scheint abgedankt zu haben. Dafür hat man in den Schleppern das Böse ausgemacht, das es fortan zu erledigen gilt. Freilich verwechselt man da permanent Ursache und Folge. Schlepperei ist nicht der Fluchtgrund, sondern das Fluchtmittel. An ihr werden bloß Symptome bekämpft. Wenn es legal nicht möglich ist, hierher zu kommen, dann muss man es illegal versuchen. Nichts anderes geschieht. Ohne Schlepper sind die Flüchtlinge schlechter dran als mit ihnen. Solange Schutzsuchenden aus Kriegsgebieten keine legale Möglichkeit zur Einreise offen steht, sind sie auf Fluchthelfer angewiesen.

Die Politik der Abschreckung wird nicht greifen, da mag der Ton auch noch so martialisch sein. Der britische Einwanderungsminister Brokenshire etwa brachte es unlängst auf den Siedepunkt, als er an die Adresse der Illegalen unmissverständlich appellierte: „Wir werden Maßnahmen ergreifen, um sie am Arbeiten, am Mieten einer Wohnung, Eröffnen eines Bankkontos oder Autofahren zu hindern.“ In Ungarn überlegt man ernsthaft Flüchtlinge für längere Zeit zu internieren, schon jetzt behandelt man die dort Gestrandeten mit Mundschutz und Gummihandschuhen als sei die Pest im Anzug. Mit solchen Mitteln dreht man indes nur an der Eskalationsspirale. Der Zusammenhang ist offensichtlich: Je mehr Staaten Menschen illegalisieren, desto krimineller wird das Fluchtwesen.

Die Schlepper sind in diesem Spiel lediglich die letzten Erfüllungsgehilfen dieses globalen Gesamtirrsinns. Ihre wirtschaftliche Basis ist das fortschreitende Elend dieser Welt. Darauf blühen ihre Geschäfte, und sie blühen blendend. Wenn eine Schleusung von Syrien nach Österreich sich auf bis zu 12000 Euro beläuft, dann wird daraus ermessbar, dass die Flüchtenden einerseits Hab und Gut wohl veräußern, und andererseits (was immer vergessen wird) ein kräftiger Finanztransfer nach Europa stattfindet, einmal mehr also umgekehrte Entwicklungshilfe geleistet wird.

Für viele (und nicht nur) in Osteuropa ist der Menschenschmuggel eine hervorragende wenn auch riskante Möglichkeit an Geld zu kommen, das ansonsten der Markt für sie nie hergegeben hätte. Das Business richtet sich nach Angebot und Nachfrage, handelt nach marktwirtschaftlichen Kriterien ganz auf der Ebene der „westlichen Werte“. Staatliche Auflagen und Restriktionen erhöhen die Preise. Die scharfe Konkurrenz mindert die Qualität der Dienstleistung.Vor allem die völlig unprofessionellen Gelegenheitsschlepper werden zu einem massiven Problem. Sorglosigkeit nimmt zu, wenn es ums schnelle Geld geht. Dabei sterben Menschen nicht nur im Mittelmeer, sondern nun auch zusehends auf den Landwegen in die Europäische Union. So gesehen ist der mit der Todesfracht abgestellte LKW ein Signal, ja ein deutliches Signifikat. Ein absehbares, noch dazu.

Gute Betroffenheit

Das verordnete Entsetzen hingegen demonstriert die Ignoranz der Empörten. „Ja, darf es das denn geben?“ , fragen diese und sagen: „Das darf doch nicht wahr sein!“ Darüber wollen die Statements nicht hinauskommen. Standardsätze wie „Ich bin erschüttert – das ist eine unvorstellbare Tragödie“ (Werner Faymann), sind selbst unerträglich, weil sie sich partout nicht vorstellen können, was wir uns zweifellos vorzustellen hätten. Sollte hier wirklich der Schock tief sitzen und nicht bloß geheuchelt sein, dann ist das Folge einer kollektiven Erkenntnisverweigerung. Das herrschende Asylchaos konnte nur entstehen, weil man nicht sehen wollte, womit schon länger zu rechnen war.

Insgesamt hat man ja auch hierzulande wenig anzubieten. Das System Traiskirchen, wo Leute in ein zu kleines Erstaufnahmelager gepfercht werden und viele auf dem Boden schlafen müssen, gibt doch recht treffend den Zustand der Republik wieder. Mehr den mentalen als den sozialen, denn Wohnungen, Nahrungsmittel, Medikamente gäbe es genug. Alleine in Wien stehen 35.000 Wohnungen leer. Die meisten Gemeinden sträuben sich kategorisch Flüchtlinge aufzunehmen. Daran wird auch ein Durchgriffsrecht des Bundes nichts ändern. Nach wie vor gehen die meisten davon aus, mit alledem nichts zu schaffen zu haben.

Entsetzen, Aufregen, Weitermachen – mehr fällt nicht ein. Die EU hat keine Antworten, ja sie hat noch nicht einmal die richtigen Fragen gestellt. Das gilt auch für die Nationalstaaten, und ebenso wie für die Regionen und Kommunen. „Sollen doch die anderen“, geben sie unisono zu verstehen. Die einen wollen es nicht wahrhaben und die anderen glauben es autoritär abwehren zu können. Beides greift daneben, ja es verschlimmert die Situation. Diese globalisierte Welt muss vielmehr als eine Welt erkannt werden. Man muss von diesem kulturalistischen und oft rassistisch aufgeladenen „Wir und Die“ (Huntington) wegkommen. Alles andere ist Realismus jenseits der Wirklichkeiten.

Der Süden wandert in den Norden aus. Oder andersrum: Er marschiert ein. Die implizite Rache solcher Regionen besteht darin, nicht einfach auszubluten, sondern sich auf den Weg zu machen, dorthin, wo die Zustände halbwegs stabil erscheinen, wo Geschäft und Recht noch funktionieren. Keine Mauern und keine Gitter, keine Hürden und kein Stacheldraht, keine Meere und keine Heere werden die Flüchtlinge unter den gegebenen Umständen aufhalten. Auch keine Massenabschiebungen. Wer nichts mehr zu verlieren hat als sein eigenes Leben wird dieses einsetzen. Solange dieser Planet so verfasst ist wie das aktuell der Fall ist, wird die Völkerwanderung vielleicht zu bremsen, aber sicher nicht aufzuhalten sein.