Die Arbeit in Zeiten des fiktiven Kapitals
Vortrag auf der „Never Work Conference“, Cardiff 10. Juli 2015
von Norbert Trenkle
1.
Die gesellschaftliche Produktion in der kapitalistischen Gesellschaft findet bekanntlich in der Form der Produktion von Waren statt. Sehr zu Recht sieht Marx daher in der Ware die „Elementarform“ des kapitalistischen Reichtums und wählt deren Analyse als Ausgangspunkt seiner Kritik der Politischen Ökonomie. Die gängige Volkswirtschaftslehre kann mit diesem theoretischen Zugang absolut nichts anfangen. Dass Menschen über die Produktion und den Austausch von Waren ihre Gesellschaftlichkeit herstellen, also über Waren gesellschaftlich miteinander in Beziehung treten, behandelt sie als eine anthropologische Selbstverständlichkeit. Der Mensch gilt ihr zumindest potentiell immer schon als Privatproduzent, der Dinge herstellt, um diese mit anderen Privatproduzenten zu tauschen, und dabei immer seinen eigenen, partikularen Vorteil im Auge hat. Der Unterschied zwischen der Reichtumsproduktion in der modernen kapitalistischen Gesellschaft und in einer traditionellen Stammesgemeinschaft ist demnach ein bloß gradueller. Er soll sich darauf beschränken, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung heute um ein Vielfaches stärker entwickelt ist, teils aufgrund des technischen Fortschritts, teils aufgrund der klugen Einsicht der Menschen, dass sie umso produktiver sind, je weiter sie sich spezialisieren.
Bei dieser Vorstellung handelt es sich um eine schlichte Projektion, die den Zweck erfüllt, die kapitalistischen Verhältnisse als überhistorisch wesenhaft zu legitimieren. Zwar gab es auch in vielen vorkapitalistischen Gesellschaften schon Waren und Geld, doch hatten diese eine ganz andere gesellschaftliche Bedeutung als im Kapitalismus. Der Umgang mit Waren und Geld war immer eingebettet in andere, gegebene Formen der Herrschaft und gesellschaftliche Konfigurationen (feudale Abhängigkeitsverhältnisse, traditionelle Normen, patriarchale Strukturen, religiöse Glaubenssysteme etc.), wie etwa Karl Polanyi gezeigt hat. Historisch-spezifisch für die kapitalistische Gesellschaft ist also nicht die Existenz von Waren und Geld an sich, sondern dass diese die allgemein gültige Form des Reichtums darstellen und zugleich die Funktion der gesellschaftlichen Vermittlung ausüben. Das heißt: Die Individuen stellen ihren Zusammenhang untereinander und mit dem von ihnen produzierten Reichtum über Waren und Geld her.
Werden aber Dinge als Waren produziert, nehmen die entsprechenden Produktionstätigkeiten eine ganz spezifische Form an. Sie finden, abgetrennt von den übrigen vielfältigen Tätigkeiten, die ein Mensch sonst noch verrichtet, in einer gesonderten Sphäre statt und unterliegen einer bestimmten instrumentellen Logik, Rationalität und Zeitdisziplin. Diese Gemeinsamkeit in der Form hat nichts mit dem je besonderen Inhalt der verschiedenen Tätigkeiten zu tun, sondern ist nur darauf zurückzuführen, dass diese Tätigkeiten zum Zwecke der Warenproduktion verrichtet werden. Aufgrund dieser gesellschaftlichen Formgebung, können sie unter einem gemeinsamen Begriff subsumiert werden: dem Begriff der Arbeit.
Zum Wesen dieser historisch-spezifischen Tätigkeitsform der Arbeit gehört bekanntlich, dass sie, wie auch die Ware, eine Doppelcharakter besitzt. Sie spaltet sich auf in eine konkrete Seite, die den Gebrauchswert produziert, und eine abstrakte Seite, die den Wert bildet. Den Warenproduzenten interessiert die konkrete Arbeit bloß insofern, als er die produzierte Ware nur verkaufen kann, wenn sie für den Käufer einen irgendwie gearteten Nutzen darstellt. Der Gebrauchswert ist für ihn nur Mittel zum Zweck, dem Zweck, die in der Ware dargestellte abstrakte Arbeit zu realisieren, also in Geld zu verwandeln. Denn Geld ist die allgemeine Ware, oder wie Marx sagt: die Königin der Waren, also die Ware, auf die alle anderen Waren bezogen bleiben. Anders ausgedrückt: Das Geld ist der Repräsentant des abstrakten Reichtums der kapitalistischen Gesellschaft, also des gesellschaftlich-allgemein anerkannten Reichtums.
Gesellschaftlich gültig in einem allgemeinen Sinne ist insofern nur die abstrakte Seite der Arbeit, denn nur sie geht als Wert (dargestellt im Geld) in die gesellschaftliche Zirkulation ein und erhält sich dort. Hingegen erlischt die konkrete Seite der Arbeit mit jedem Verkaufsakt, weil der Gebrauchswert aus der gesellschaftlichen Zirkulation herausfällt; seine Nutzung ist nun die Privatangelegenheit des Käufers. Der stoffliche Reichtum, der unter den Bedingungen der Warenproduktion die Gestalt des Gebrauchswerts annimmt, ist also immer nur partikular.
Wir können daher zunächst festhalten, dass die Arbeit eine Tätigkeitsform ist, in der nicht nur der kapitalistische Reichtum in seiner spezifisch gedoppelten Form produziert wird; darüber hinaus erfüllt sie die zentrale Funktion der gesellschaftlichen Vermittlung. Oder, um es genauer auszudrücken: Es ist die abstrakte Seite der Arbeit, die diese Funktion erfüllt, während die konkrete Seite der Arbeit ihr untergeordnet bleibt.
2.
Diese Form der Vermittlung über die Arbeit hat einen grundlegend widersprüchlichen Charakter. Denn jeder produziert als Privatproduzent nach seinen partikularen Interessen und ist genau darin gesellschaftlich tätig. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Vermittlung keine bewusste sein kann, sondern notwendig eine verdinglichte Gestalt annimmt und in dieser Gestalt über die Menschen herrscht, ganz so wie Marx es in jener berühmten Passage aus dem Fetischkapitel ausdrückt:
„Gebrauchsgegenstände werden überhaupt nur Waren, weil sie Produkte voneinander unabhängig betriebner Privatarbeiten sind. Der Komplex dieser Privatarbeiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte, erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches. Oder die Privatarbeiten betätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittelst derselben die Produzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen“ (MEW 23, S. 86).
Nun ist die Rede von den Privatproduzenten nicht so zu verstehen, als handle es sich dabei um lauter Kleinbetriebe und Einzelpersonen, die unterschiedliche Produkte herstellten, um diese dann anschließend auf dem Markt gegen andere Produkte einzutauschen. Tatsächlich sind die allermeisten Warenproduzenten im Kapitalismus natürlich Unternehmen, deren Produktionszweck in nichts anderem besteht als in der Verwertung des eingesetzten Kapitals. Die produzierten Waren sind Mittel für diesen Zweck und bloße Durchgangsstation; erst im Tausch erfährt der Wert der Ware seine gesellschaftliche Anerkennung, seine Realisierung. In Gestalt des Geldes kann er dann erneut in den Kreislauf der Verwertung eintreten.
Diesen Unternehmen bzw. Einzelkapitalien steht nun bekanntlich die große Masse der Menschen gegenüber, die nichts anderes zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. Auch sie sind freilich Warenbesitzer: Besitzer eben jener Ware Arbeitskraft, die sie permanent verkaufen müssen, um davon zu leben. Als solche Warenbesitzer betätigen sie sich aber gesellschaftlich ebenfalls in der Form des Privatproduzenten, der seine partikularen Zwecke verfolgt; diese bestehen hier darin, die eigene Arbeitskraft möglichst teuer zu verkaufen und in der Konkurrenz mit anderen Arbeitskraftverkäufern zu obsiegen. Allerdings stellt sich vom Standpunkt der Arbeitskraftverkäufer die Vermittlung über die Arbeit etwas anders dar als vom Standpunkt des kapitalistischen Unternehmens. Für die Arbeitskraftverkäufer ist zwar die eigene Ware auch bloß das Mittel zu einem äußeren Zweck, doch besteht dieser Zweck nicht in der Vermehrung einer bestimmten Geldsumme, sondern in der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts.
Die gesellschaftliche Vermittlung über die Arbeit stellt sich also von diesen beiden Standpunkten unterschiedlich dar. Während sie für die Einzelkapitalien direkt in der Gestalt der selbstbezüglichen Bewegung des Kapitals erscheint, die Marx in der berühmten Formel G – W – G’ zusammenfasst, erscheint sie aus der Perspektive des Arbeitskraftverkäufers als Tauschbewegung W – G – W. Die Ware Arbeitskraft ist für sie ein Tauschding, das sie auf den Markt werfen, um im Gegenzug andere Waren dafür zu erhalten. Das Geld ist hier nur Mittel zu diesem Zweck, während es im ersten Fall selbst den Zweck darstellt. Auf den ersten Blick entspricht diese zweite Bewegung dem, was Marx als einfachen Warentausch beschreibt. Und doch gibt es hier einen bedeutenden Unterschied. Denn auch wenn der einzelne Arbeitskraftverkäufer seine Ware nur einsetzt, um sie (über den Umweg des Geldes) gegen Konsumtionsmittel zu tauschen und dabei keine Vermehrung des ursprünglichen Werts stattfindet, so ist dieser Tauschakt doch zugleich integraler Bestandteil jener Gesamtbewegung der Kapitalverwertung, deren Ausgangs- und Endpunkt immer schon der Wert in seiner erscheinenden Gestalt des Geldes ist. Nur wenn die endlose Rückkopplungsbewegung des Werts auf sich selbst in Gang bleibt, besteht auch Nachfrage nach der Ware Arbeitskraft, der einzigen Ware, die in der Lage ist, in ihrer Vernutzung mehr Wert zu erzeugen, als zu ihrer eigenen (Re)produktion notwendig ist.
3.
Diese unterschiedliche Stellung in der gesellschaftlichen Vermittlungsbewegung über die Arbeit konstituiert zugleich den Interessengegensatz zwischen den Funktionären des Kapitals und den Verkäufern der Ware Arbeitskraft. Dieser Gegensatz hat keinesfalls antagonistischen Charakter im Sinne einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit, wie es der traditionelle Marxismus stets behauptet hat, denn er bleibt ja bezogen auf einen gemeinsamen gesellschaftlichen Vermittlungsprozess. Dennoch wurde er nicht selten mit aller Härte ausgefochten; denn schließlich hängt aufseiten der Arbeitskraftbesitzer ihre gesamte Existenz davon ab, unter welchen Bedingungen und zu welchem Preis sie ihre Ware verkaufen können, während das Kapital den Selbstzweck der Verwertung umso besser erfüllt, je weniger es für die Ware Arbeitskraft bezahlen muss.
Bis in die 1970er Jahre hinein, also bis zum Ende des fordistischen Nachkriegsbooms, war die Verlaufsform dieses Interessenkonflikts und damit der gesellschaftlichen Vermittlungsbewegung über die Arbeit geprägt von einer unauflöslichen wechselseitigen Abhängigkeit. Das Kapital brauchte die Arbeitskraft, um sich selbst verwerten zu können, und die Arbeitskraftverkäufer waren auf eine funktionierende Kapitalverwertung angewiesen, um ihre Ware zu verkaufen.
Mit dem Ende des fordistischen Nachkriegsbooms und dem Beginn der Dritten industriellen Revolution kam es jedoch zu einer qualitativen Veränderung dieses Verhältnisses. Denn die massenhafte Verdrängung von Arbeitskraft aus den industriellen Kernsektoren im Zuge der durchgreifenden Prozessautomatisierung und, damit einhergehend, die neue transnationale Organisation der Produktionsprozesse und Warenströme schwächte die Verhandlungsposition der Arbeitskraftverkäufer auf grundlegende und unumkehrbare Weise. Oder um es grundsätzlicher auszudrücken: Mit der Durchsetzung und Verallgemeinerung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wurde die Anwendung des Wissens auf die Produktion zur Hauptproduktivkraft, und das verschaffte dem Kapital einen bisher ungekannten Freiheitsgrad gegenüber der Lohnarbeit. Allerdings blieb dieses Überflüssigmachen von Arbeitskraft im großen Stil auch für das Kapital nicht ohne Folgen. Denn da die Kapitalverwertung nun einmal auf der massenhaften Vernutzung von Arbeitskraft in der Warenproduktion beruht, markiert der Beginn der dritten industriellen Revolution den Auftakt zu einer fundamentalen Krise.
Diese Krise unterscheidet sich von allen bisherigen großen kapitalistischen Krisen darin, dass sie nicht mehr durch eine beschleunigte Ausweitung der industriellen Basis überwunden werden kann. Denn auf dem gegebenen und ständig weiter ansteigenden Produktivitätsniveau entsteht selbst durch die Erschließung neuer Produktionssektoren (wie z.B. Flachbildschirmen oder Mobiltelefonen) kein zusätzlicher Bedarf an neuen Arbeitskräften, sondern allenfalls kann dadurch die massenhafte Verdrängung lebendiger Arbeit aus der Produktion etwas verlangsamt werden.
Wenn es dennoch gelang, die kapitalistische Dynamik wieder in Schwung zu bringen, dann nur deshalb, weil es gelang, die Kapitalakkumulation auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Produktion von Wert durch die Vernutzung von Arbeitskraft wurde ersetzt durch den systematischen Vorgriff auf zukünftigen Wert in der Gestalt des fiktiven Kapitals. Auf dieser neuen Grundlage erlebte das Kapital noch einmal eine Epoche gigantischer Expansion, die allerdings nun zunehmend an ihre Grenzen stößt und vor allem auch mit erheblichen Kosten für die Gesellschaft und die Verkäufer der Ware Arbeitskraft verbunden ist. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, müssen wir zunächst die innere Logik des fiktiven Kapitals näher betrachten.
4.
Fiktives Kapital ist, so haben wir gesagt, Vorgriff auf zukünftigen Wert. Aber was bedeutet das genau, und welche Konsequenzen hat es für die Akkumulation des Gesamtkapitals? Beginnen wir mit der ersten Frage.
Grundsätzlich betrachtet entsteht fiktives Kapital immer dann, wenn ein Geldbesitzer einer anderen Person sein Geld überlässt und im Gegenzug dafür einen Eigentumstitel (Anleihe, Aktie etc.) erhält, der den Anspruch auf dieses Geld und seine Vermehrung (etwa in Form von Zinsen oder Dividenden) repräsentiert. Auf diese Weise verdoppelt sich die ursprünglich vorhandene Geldsumme. Sie existiert nun zweimal und kann von beiden Parteien genutzt werden. Der Empfänger kann das Geld für Konsum, Investitionen oder auch Finanzanlagen verausgaben und für den Geber ist sein Geld zu Geldkapital geworden, das einen regelmäßigen Gewinn abwirft.
Dieses Geldkapital besteht aber aus nichts weiter als aus einem verbrieften Anspruch, der den Vorgriff auf zukünftigen Wert repräsentiert. Ob dieser Vorgriff tatsächlich auch gedeckt ist, stellt sich erst im Nachhinein heraus. Wird die betreffende Geldsumme in eine Produktionsanlage investiert und ist diese Investition erfolgreich, erhält sich der Wert in der Gestalt des fungierenden Kapitals und vermehrt sich durch die Anwendung von Arbeitskraft in der Warenproduktion. Schlägt hingegen die Investition fehl oder wird das geliehene Geld gleich für privaten oder staatlichen Konsum verausgabt, so ist der ursprüngliche Wert zwar verbraucht, aber der Anspruch darauf lebt fort (etwa in der Gestalt eines Kreditvertrags oder einer Anleihe). Das fiktive Kapital ist in diesem Fall ungedeckt und muss durch die Schaffung neuer Ansprüche auf zukünftigen Wert (etwa die Ausgabe neuer Anleihen) ersetzt und „bedient“ werden, damit der monetäre Anspruch eingelöst werden kann.
Nun gehört der Vorgriff auf zukünftigen Wert in der Gestalt fiktiven Kapitals zum kapitalistischen Normalbetrieb dazu. Doch in der fundamentalen Verwertungskrise im Gefolge der Dritten industriellen Revolution erhielt er eine grundlegende neue Bedeutung. Diente die Schöpfung von fiktivem Kapitals bislang im Wesentlichen dazu, den Prozess der Kapitalverwertung zu flankieren und zu unterstützen (etwa durch die Vorfinanzierung großer Investitionen), so fand nun, da die Grundlage dieses Prozesses wegbrach, ein Rollenwechsel statt. Die Kapitalakkumulation beruhte fortan nicht mehr maßgeblich auf der Vernutzung von Arbeitskraft in der Produktion von Gütermarktwaren wie Autos, Hamburgerbrötchen und Smartphones, sondern auf der massenhaften Emission von Wertpapieren wie Aktien, Anleihen und Finanzderivaten, die Ansprüche auf zukünftigen Wert darstellen. Auf diese Weise wurde das fiktive Kapital selbst zum Motor der Kapitalakkumulation, während die Produktion von Gütermarktwaren zur abhängigen Variablen herabsank.
Diese Form der Kapitalakkumulation unterscheidet sich freilich in einem entscheidenden Punkt von der bisherigen Form kapitalistischer Selbstzweckbewegung. Da sie auf dem Vorgriff auf zukünftig zu produzierenden Wert beruht, handelt es sich um Kapitalakkumulation ohne Kapitalverwertung. Ihre Grundlage ist nicht die gegenwärtige Vernutzung von Arbeitskraft in der Wertproduktion, sondern die Erwartung künftiger realwirtschaftlicher Gewinne, die in letzter Instanz der zusätzlichen Vernutzung von Arbeitskraft entstammen müssen. Da diese Erwartung jedoch angesichts der Produktivkraftentwicklung nicht eingelöst werden kann, müssen die Ansprüche immer wieder erneuert und muss der Vorgriff auf zukünftigen Wert zeitlich immer weiter in die Zukunft gestreckt werden. Das hat zur Konsequenz, dass die Masse der Finanztitel einem potenzierten exponentiellen Wachstumszwang unterliegt. Aus diesem Grund übertrifft das aus Finanztiteln bestehende Kapital längst den Wert der produzierten und gehandelten Gütermarktwaren um ein Vielfaches. In der öffentlichen Meinung wird dieses „Abheben der Finanzmärkte“ meist als vermeintliche Krisenursache kritisiert; tatsächlich kann jedoch die Kapitalakkumulation, nachdem die Grundlagen der Verwertung verloren gegangen sind, überhaupt nur noch in dieser Weise weiterlaufen.
Der Zwang zum potenzierten exponentiellen Wachstum markiert allerdings eine logische Grenze für die Akkumulation von fiktivem Kapital; denn die realwirtschaftlichen Bezugspunkte, auf die sich die Erwartungen zukünftiger Gewinne beziehen, lassen sich nicht beliebig multiplizieren und entpuppen sich einer nach dem anderen als Chimäre (New Economy, Immobilienboom etc.). Dennoch lässt sich diese Grenze in erheblichem Maße zeitlich hinausschieben, wie ein Blick zurück auf die mittlerweile rund fünfunddreißig Jahre währende Epoche des fiktiven Kapitals zeigt. Allerdings ist dieser Aufschub mit stetig wachsenden gesellschaftlichen Kosten erkauft, die immer unerträglicher werden. So haben sich die Einkommen und Vermögen in immer weniger Händen konzentriert, die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen nahm weltweit zu, und die verbliebenen natürlichen Ressourcen wurden gnadenlos verschleudert – nur um die Dynamik der Kapitalakkumulation in Gang zu halten.
5.
Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als sei das alles nichts Neues unter der Sonne des Kapitals. Tatsächlich ist ja die Rücksichtslosigkeit gegenüber den konkreten Lebensbedingungen und der sinnlich-stofflichen Welt das Wesensmerkmal einer Produktionsweise, deren Ziel in der Verwertung des Werts, also in der Vermehrung des abstrakten Reichtums besteht. Dennoch bedeutet der Übergang in die Epoche des fiktiven Kapitals auch in dieser Hinsicht einen qualitativen Sprung im negativen Sinne.
Um die Ursachen dafür besser verstehen zu können, müssen wir zunächst untersuchen, welche Auswirkungen die Verschiebung der Kapitalakkumulation in die Sphäre des fiktiven Kapitals auf die grundlegende gesellschaftliche Beziehungsform, die Vermittlung über die Arbeit, gehabt hat. Im Anschluss daran ist zu fragen, wie sich im gleichen Zuge das Verhältnis der beiden Seiten der kapitalistischen Reichtumsform, des abstrakten Reichtums in der Gestalt des Werts und des stofflichen Reichtums, verändert hat.
Oben habe ich argumentiert, dass bis in die 1970er Jahre hinein die gesellschaftliche Vermittlung über die Arbeit von einer wechselseitigen Abhängigkeit von Kapital und Arbeit geprägt war. Diese beruhte darauf, dass das Kapital in seinem Drang zur Verwertung auf lebendige Arbeit angewiesen war, während die Eigentümer der Ware Arbeitskraft vom gelingenden Verkauf eben dieser Ware abhingen, um leben zu können. In der Epoche des fiktiven Kapitals hat sich jedoch dieses Verhältnis grundlegend verändert. Nicht nur ist durch die Dritte industrielle Revolution massenhaft lebendige Arbeit überflüssig gemacht worden, entscheidender ist noch, dass sich der Schwerpunkt der Kapitalakkumulation von der Vernutzung von Arbeitskraft in der Produktion von Gütermarktwaren hin zum Vorgriff auf zukünftigen Wert verschoben hat. Dadurch ist das Kapital in seiner Selbstzweckbewegung in einem ganz neuen Sinn selbstreferentiell geworden. Zwar verbleibt der Vorgriff auf zukünftigen Wert, der im Hier und Heute kapitalisiert und akkumuliert wird, innerhalb der Logik und Form der Warenproduktion; denn er wird ja durch den Verkauf einer Ware erzeugt, nämlich durch den Verkauf eines Eigentumstitels, der den Anspruch auf eine bestimmte Summe Geld und deren Vermehrung verbrieft. Aber die Verkäufer dieser Eigentumstitel sind keinesfalls irgendwelche Arbeitskräfte, die das Versprechen auf eine Arbeitsleistung in zehn oder zwanzig Jahren verkaufen, also eine Art langjährigen Vorschuss erhielten, deren Einlösung im Ungewissen bliebe; es sind vielmehr die Funktionäre des Kapitals selbst, in erster Linie die Banken und andere Finanzinstitutionen, die sich gegenseitig die verbrieften Ansprüche auf zukünftigen Wert verkaufen und damit fiktives Kapital erzeugen und akkumulieren. In dieser Hinsicht ist das Kapital also tatsächlich vollkommen selbstbezüglich geworden; die Ware, die zusätzliches gesellschaftliches Kapital repräsentiert, entsteht innerhalb der Sphäre des Kapitals selbst.
Umgekehrt bedeutet das nun aber, dass die Verkäufer der Ware Arbeitskraft ihre Verhandlungsmacht weitgehend verlieren. Nicht nur können sie ohnehin angesichts der voranschreitenden Produktivitätsentwicklung und der Globalisierung jederzeit durch Maschinen oder durch billigere Konkurrenten irgendwo auf der Welt ersetzt werden; viel entscheidender noch ist aber, dass ihre Ware nicht mehr die Basisware der Kapitalakkumulation ist. Daraus ergibt sich ein strukturelles Ungleichgewicht. Für die übergroße Mehrheit der Weltbevölkerung ist die gesellschaftliche Vermittlung über die Arbeit immer noch insofern zentral, als sie hier und heute ihre Arbeitskraft oder ihre Arbeitsprodukte als Ware verkaufen müssen, um im Gegenzug dafür am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben zu können, also um die benötigten Konsumtionsmittel zu kaufen. Dagegen bleibt zwar auch das Kapital auf die gesellschaftliche Vermittlung über die Arbeit bezogen; denn es hat sich ja keinesfalls aus dem Universum der Warenproduktion verabschiedet. In dem Maß wie das Kapital durch den Vorgriff auf künftige Wertproduktion akkumuliert, also die Resultate möglicher Arbeit in der Zukunft vorwegnimmt, befreit es sich aus seiner Abhängigkeit von der heutigen Arbeitskraftverausgabung und den Verkäufern der Ware Arbeitskraft.
6.
Das heißt nicht, dass keine Verwertung von Kapital in der Produktion von Gütermarktwaren mehr stattfände. Das anzunehmen, wäre angesichts der enormen Massen an Waren, mit denen die Supermärkte und Kaufhäuser überschwemmt werden, ganz offensichtlich falsch. Allerdings hat sich das Verhältnis dieses Sektors der Warenproduktion zum Gesamtprozess der Kapitalakkumulation verkehrt. War früher die Produktion von Gütermarktwaren das entscheidende Mittel für die Vermehrung von Kapital, so ist sie nun in ihrem Fortbestand umgekehrt zur abhängigen Variable der Dynamik des fiktiven Kapitals geworden. Abhängig deshalb, weil sich in den wertproduktiven Sektoren aufgrund der ständig voranschreitenden Verdrängung von Arbeitskraft keine selbsttragende Dynamik der Kapitalverwertung mehr entwickeln kann. Vielmehr sind diese darauf angewiesen, dass der Wert für die Realisierung der hier produzierten Waren (also, populär gesprochen, für ihren Absatz) großenteils anderswo geschöpft wird und dass der realwirtschaftliche Investitionsbedarf zumindest teilweise durch fiktive Kapitalschöpfung gedeckt werden muss. Der gesamte industrielle Boom in China und anderen „Schwellenländern“, aber auch der entsprechende Exporterfolg Deutschlands beruht auf diesem Mechanismus. Wir können daher von einer „induzierten Wertproduktion“ sprechen.
Freilich erfüllt diese induzierte Wertproduktion durchaus eine wichtige systemische Funktion. Aber diese besteht nicht darin, Kapital zu verwerten, sondern das ideelle Material zu liefern, das die Zukunftserwartungen an den Finanzmärkten unterfüttert. Denn auch wenn der Vorgriff auf zukünftigen Wert nicht auf die Vernutzung von Arbeitskraft in der Gegenwart angewiesen ist, so beruht er doch auf der ständigen Erzeugung von Erwartungen auf profitable, materielle Produktion zu einem späteren Zeitpunkt. Zur Unterfütterung dieser Erwartungen sind nun aber realwirtschaftliche Aktivitäten in der Gegenwart unentbehrlich. Würden diese zum Erliegen kommen, wären die zukünftigen Gewinnversprechen kaum glaubhaft, und der Verkauf von Eigentumstiteln geriete ins Stocken. Schlagend deutlich wird das immer in den wiederkehrenden Kriseneinbrüchen, wenn die Staaten in Zentralbanken einspringen müssen, um das Vertrauen in die Zukunft (unter immer höheren Kosten) wiederherzustellen.
Es spielt übrigens keine Rolle, ob die induzierten realwirtschaftlichen Aktivitäten im strengen Sinne wertproduktiv sind oder nicht, also ob durch die Anwendung von Arbeitskraft tatsächlich Mehrwert geschaffen wird (wie etwa in der industriellen Produktion) oder der bereits produzierte Wert nur umverteilt oder realisiert wird (wie im Handel). Denn da diese Unterscheidung in der gängigen, oberflächlichen Wahrnehmung des wirtschaftlichen Kreislaufs gar nicht vorkommt, spielt sie auch für die Erzeugung von Erwartungen keine Rolle. Entscheidend ist allein, dass die vorweggenommenen Gewinnversprechen irgendeinen Referenzpunkt in der Realwirtschaft haben. Daraus erklärt sich auch, wie weltweit ein so breiter Dienstleistungssektor entstehen konnte, der großenteils keinen Mehrwert erzeugt und daher als Grundlage für die kapitalistische Verwertung vollkommen ungeeignet ist. Für die Produktion von „Phantasien an den Märkten“, wie es im Börsenjargon so offenherzig heißt, taugen jedoch die steigenden Werbeeinnahmen von Google und Facebook jedoch genauso wenig wie die Fertigung von Elektroautos oder Windkraftanlagen. Auch die massenhafte Kapitalisierung von Grund und Boden sowie von Eigentumsrechten auf Wissen (in Form von Patenten und Lizenzen) ist nur möglich durch den kontinuierlichen Zufluss von fiktivem Kapital und stellt zugleich einen zentralen Referenzpunkt für die Erwartung auf ständig sprudelnde Gewinne dar.
Vom Standpunkt des Einzelkapitals ist es ohnehin vollkommen gleichgültig, auf welche Weise es sich vermehrt. Daher finden sich auch immer ausreichend Investoren, die ihr Geld in realwirtschaftlichen Aktivitäten anlegen, solange nur die Rendite stimmt. In dieser letzteren Vorgabe allerdings ist die direkte Abhängigkeit von der Dynamik des fiktiven Kapitals enthalten. Denn rentabel ist eine Investition nur, wenn sie ungefähr ebensoviel Gewinn abwirft wie eine entsprechende Anlage an den Finanzmärkten mit ihren ungeheuer hohen Renditevorgaben. Deshalb sind die realwirtschaftlichen Investitionen der Dominanz des fiktiven Kapitals auch in dieser Hinsicht unterworfen, und der erzeugte Druck wird natürlich massiv nach unten weitergegeben; und das heißt, in erster Linie an die Verkäufer der Ware Arbeitskraft und die vielen kleinen Selbstständigen, aber auch an die staatlichen Akteure, die um die Steuereinnahmen oder die Ansiedlung von Unternehmen konkurrieren.
7.
Wir können nun besser verstehen, wieso die Rücksichtslosigkeit gegenüber den Arbeits- und Lebensbedingungen und der sinnlich-stofflichen Welt in der Ära des fiktiven Kapitals eine neue, negative Qualität annimmt. War die Produktion des stofflichen Reichtums bis zum Ende des Fordismus zwar nur ein äußerliches Mittel für die Vermehrung des abstrakten Reichtums, so implizierte dies doch immerhin noch eine direkte, wenn auch instrumentelle Beziehung. Die Gütermarktwaren waren unentbehrlich als Repräsentanten vergangener abstrakter Arbeit und mithin von Wert und Mehrwert. Wo sich die systemische Funktion des stofflichen Reichtums jedoch darauf reduziert, das ideelle Material für den Vorgriff auf zukünftigen Wert zu liefern, dort ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt, den Bedingungen und den Folgen dieser Produktion, bis ins Extrem zugespitzt. Die Akkumulation abstrakten Reichtums entkoppelt sich bis zum äußersten möglichen Punkt von ihrer stofflichen Seite.
Die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen sowie der sozialen und kulturellen Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens ist nun nicht nur eine Art Kollateralschaden der kapitalistischen Selbstzweckbewegung, sondern wird zu ihrem eigentlichen Inhalt. Am offensichtlichsten ist das in Krisenländern wie Griechenland, Spanien oder Portugal, die dazu gezwungen werden, große Teile ihrer Sozial- und Gesundheitssysteme und ihrer öffentlichen Dienste stillzulegen, nur um die (bekanntermaßen illusorische) Erwartung zu befördern, dass der Staat irgendwann einmal in der Lage sein werde, seine Schulden zu bedienen. Hier wird die offene Zerstörung stofflichen Reichtums zum Referenzpunkt für die weitere Akkumulation von fiktivem Kapital. Ähnlich verhält es sich mit dem aktuellen Rohstoffboom, der zu einem wesentlichen Teil auf der Vorwegnahme zukünftiger Verknappung beruht. Die damit verbundenen Erwartungen auf steigende Preise lassen massenhaft fiktives Kapital in diesen Sektor fließen und machen teilweise sogar sehr kostenintensive Technologien wie das Fracking kurzfristig rentabel.
Aus den gleichen strukturellen Gründen polarisiert sich auch die Einkommens- und Vermögensverteilung im globalen Maßstab immer stärker. Denn da die Arbeitskraft ihre zentrale Bedeutung als Basisware für die Selbstzweckbewegung des Kapitals eingebüßt hat, werden ihre Verkaufsbedingungen immer weiter herabgedrückt. Zugleich befindet sich das Kapital in der komfortablen Lage, die für die Akkumulation des Kapitals notwendige Ware in Gestalt der Eigentumstitel, die Ansprüche auf zukünftigen Wert repräsentieren, selbst herstellen zu können, wobei es sich auf die tatkräftige Unterstützung von Regierungen und Zentralbanken verlassen kann.
8.
Diese und andere zunehmend unerträglichen Konsequenzen der kapitalistischen Krisendynamik haben dazu geführt, dass Kritik am Kapitalismus wieder Konjunktur hat. Doch diese Kritik stellt das Problem auf den Kopf. Sie läuft in aller Regel auf die Forderung hinaus, das Geld solle „wieder“ eine „dienende Funktion“ einnehmen, also bloßes Tauschmittel werden, statt Selbstzweck zu sein. Die Selbstzweckbewegung des Kapitals erscheint aus dieser Perspektive als Eigenheit einer verselbstständigten Sphäre der Finanzmärkte, die sich äußerlich der Gesellschaft bemächtigt und die daher abgeschafft oder zumindest stark zurückgestutzt werden soll.
Den Hintergrund dieser „Kritik“ bildet die bereits eingangs erwähnte, grundverkehrte Vorstellung der kapitalistischen Produktionsweise. Diese soll angeblich „ihrem Wesen“ nach bloß eine besonders stark ausdifferenzierte Güterwirtschaft sein, in der das Geld „eigentlich“ nur ein Werkzeug zur Erleichterung der unzähligen Tauschvorgänge ist. Diese Vorstellung, die zur ideologischen Grundausstattung der modernen Weltsicht gehört, findet sich nicht nur in den Einführungskapiteln der volkswirtschaftlichen Lehrbücher, wo stets so getan wird, als sei die moderne Ökonomie nichts anderes als die globalisierte Variante einer idyllischen Dorfgemeinschaft, in der Metzger, Bäcker und Schneider ihre Produkte miteinander tauschen. Sie treibt auch ihr gefährliches Unwesen in Gestalt der antisemitischen Wahnvorstellung vom „raffenden“ und „schaffenden Kapital“. Und sie ist die Grundmelodie einer vermeintlichen „Kapitalismuskritik“, die von einer Rückkehr zur „sozialen Marktwirtschaft“ träumt und dabei nicht nur geflissentlich übersieht, dass eine solche Rückkehr vollkommen unmöglich ist, weil die strukturellen Grundlagen der Kapitalverwertung dafür nicht mehr existieren. Zudem tut sie auch so, als habe der fordistische Kapitalismus nicht auf dem Prinzip der Kapitalverwertung beruht, sondern sei eine staatlich regulierte, marktwirtschaftliche Veranstaltung zur allgemeinen Versorgung der Gesellschaft mit nützlichen Gütern gewesen.
Diese Scheinkritik findet auch deshalb heute eine so große Resonanz, weil die gesellschaftliche Vermittlung über die Arbeit weltweit verallgemeinert ist und diese sich, wie schon dargelegt, aus der Perspektive der Arbeitskraftverkäufer als bloße Tauschbeziehung darstellt, bei der die eigene Ware weggeben wird, um andere dafür zu erwerben. Dass diese Existenzweise die Selbstzweckbewegung des Kapitals voraussetzt, wurde dabei sowieso schon immer verdrängt. So propagierte auch die traditionelle Linke stets die Befreiung der Arbeit und nicht die Befreiung von der Arbeit. Seit aber das Kapital sich in seiner Vermittlungsbewegung maßgeblich auf zukünftige Arbeit bezieht und sich damit von den Verkäufern der Ware Arbeitskraft und der stofflichen Reichtumsproduktion weitgehend entkoppelt hat, erscheint die Vorstellung einer allgemeinen Tauschwirtschaft oder einer regulierten Marktwirtschaft ohne die Last des Kapitals erst recht als Leitbild gesellschaftlicher Befreiung.
Wer sich jedoch an diesem Leitbild orientiert, sitzt nicht nur einer ideologischen Chimäre auf, sondern wird mit ihr auch in der politischen Praxis zwangsläufig gegen die Wand laufen. Denn wo die Abhängigkeit von der Selbstzweckbewegung des Kapitals bloß verleugnet wird, setzt sich diese mit der ganzen Gewalt des Verdrängten zwangsläufig wieder durch. Daher sollte, statt die bestehende gesellschaftliche Vermittlung regressiv zu verklären, diese grundsätzlich infrage gestellt werden. Solange die Menschen sich über Waren und abstrakte Arbeit vermitteln, werden sie nicht frei über ihre gesellschaftlichen Verhältnisse verfügen können, sondern umgekehrt von diesen in verdinglichter Form beherrscht werden. Das hat schon immer Gewalt, Elend und Herrschaft bedeutet, in der Krisenepoche des fiktiven Kapitals aber besagt es, dass die Welt in absehbarer Zeit zur Wüste gemacht wird.
Daher kann die einzige Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation nur in der Aufhebung dieser Vermittlungsform bestehen. Die ersten Schritte in diese Richtung können und müssen heute getan werden. In Frontstellung gegen den Amoklauf des Kapitals und gegen die Krisenverwaltung gilt es, die Zerstörung der sozialen Errungenschaften zu verhindern und zugleich, wo immer möglich, die stoffliche Reichtumsproduktion aus ihrer Abhängigkeit von der Kapitalakkumulation zu lösen. Anzustreben ist der Aufbau eines neuen Sektors breiter gesellschaftlicher Selbstverwaltung, die sich, was die technische Seite betrifft, aller vorhandenen Produktivkraftpotentiale bedient, um dezentrale, aber global vernetzte Strukturen aufzubauen. Hauptsächlich wird es aber darum gehen müssen, neue Formen der gesellschaftlichen Vermittlung zu entwickeln, in denen frei assoziierte Individuen bewusst über ihre Angelegenheiten entscheiden.